Beatrice Behn und Dominique Ott waren nicht gemeinsam im Kino – dieser Artikel stellt ihre unterschiedlichen Blickwinkel auf den Film zueinander. Lesen Sie selbst.
Einmal Vollgas, bitte
Von Beatrice Behn
Ich möchte die gewagte These aufstellen, dass es nur zwei ikonische Filmfiguren in der gesamten westlichen Filmgeschichte gibt, die „Baby“ mit Vornamen heißen. Eine davon ist Baby (Jennifer Grey) aus Dirty Dancing. Die andere wird schon sehr bald Baby (Ansel Elgort) sein, die Hauptfigur aus Edgar Wrights Baby Driver. Dieser Film gehört auch noch in eine zweite Kategorie: großartige Filme mit total bescheuerten und irreführenden Namen. Aber für all diese Gedanken hat man keine Zeit, wenn man einmal im Kino sitzt und der Film startet. Von der ersten Sekunde an nimmt er ein ordentliches Tempo auf, das vor allem von den ständigen und starken Beats der Musik getrieben wird, die Baby quasi konstant hört. Der Junge hat das Trauma zum Beruf gemacht. Einst kamen seine Eltern bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben, den nur er überlebt hat. Zurück sind ein paar Narben, psychische Auffälligkeiten und ein massiver Tinnitus geblieben, den er mit konstanter Musikbeschallung zu bekämpfen versucht. Und im Beat seiner Sounds von James Brown über Dave Brubeck bis zu The Commodores laufen auch die Filmbilder ab. Genauer gesagt ist der Soundtrack hier solch ein integraler Bestandteil, dass er nicht nur den Rhythmus des Filmes bestimmt, sondern immer wieder als Kommentar auf Ereignisse dient, die der sehr wortkarge Baby ansonsten nicht kommentieren kann oder will.
Denn im Grunde ist Baby ein sehr stiller Typ, der konstant unterschätzt wird. Bis man ihn einmal bei der Arbeit erlebt. Sein Job: Fahrer. Allerdings ist er vor einer Weile an den Falschen geraten. Doc (Kevin Spacey) ist der lokale Gangster-Boss und hat den Jungen dabei erwischt, wie er ihm ein Auto klaute. Jetzt muss Baby seine Schulden als Fluchtfahrer für Überfälle abarbeiten. Noch ein paar Gigs und er ist quitt. Allerdings ist es nicht so, als hätte Baby andere Ideen, was er mit seinem Leben anstellen soll. Vielmehr irrt er, wenn er nicht virtuos Auto fährt, als in Musik verlorene Seele durch die Stadt. Oder er kümmert sich um seinen tauben Adoptivvater und macht Mixtapes aus mitgeschnittenen Dialogen der Gangster, die er abends rumkutschiert. Manchmal besucht er aber auch das Diner, in dem seine Mutter einst arbeitete. Dort trifft er eines Tages auf Debora (Lily James), die dort als Kellnerin angeheuert hat und genauso verloren ist wie er. Die beiden haben eine sofortige Anziehungskraft, sie unterhalten sich über Musik, das Leben und den Wunsch nach Freiheit. Und dann passiert das, was Babys Leben für immer verändern wird: Er bekommt eine Vorstellung, wie die Zukunft als freier Mann aussehen könnte. Nur noch ein paar Gigs und er kann das Gangsterleben endlich aufgeben. Aber die paar Jobs haben es in sich. Da sind Buddy (Jon Hamm) und Darling (Eiza Gonzàlez), das sexy, aber gefährliche Gangsterpärchen, Griff (Jon Bernthal), der sehr schnell sehr laut und aggressiv wird, aber auch nicht der Klügste ist, und der scharfsinnige, psychopathische Batz (Jamie Foxx), der Baby von Anfang an hasst und stets ein Auge auf den Jungen hat. Und neben diversen Banküberfällen spitzt sich dann die Lage alsbald zu, denn Doc denkt gar nicht daran, den besten Fahrer aller Zeiten einfach gehen zu lassen.
Bei Baby Driver spricht vieles für den Film: Die virtuos inszenierten Autojagden, die stets perfekt mit der Musik abgestimmten Bilder und Dialoge – sie bringen einen Schwung und einen Drive ins Kino, den man schon lange nicht mehr gesehen hat. Grundsätzlich mag dieser Film ein wenig wie Fast & the Furious oder Drive klingen, doch Baby Driver spielt in einer ganz anderen, viel wohlfeileren Liga. Hier kommt Action nicht zu kurz, keine Frage, aber das ist nicht die Basis, auf die Edgar Wright seinen Film stellt. Vielmehr ist er in seinen Charakteren verankert. Auffällig ist dabei, dass Baby als Figur recht unscharf gezeichnet ist und auch bleibt. Viel vermag man über den jungen Mann nicht erfahren. Doch die Bausteine, die man hat, deuten auf eine gute Seele hin und dies genügt zumindest, um mit ihm zu sympathisieren und auf seiner Seite zu sein. Es sind aber vor allem die verrückten Nebencharaktere, die mehr Background erhalten und einen interessanten sowie ambivalenten Gegenpol zu Baby bilden: allen voran der wunderbar korrekte und scharfzüngige Doc, der zwar knallhart ist, aber auch die eine oder andere weiche, ja fast väterliche Facette zeigt. Sie sind wie die Geister der Zukunft, die Baby zeigen, was aus ihm werden kann, wenn er nicht aus seiner Situation herauskommt. Einzig Debora bleibt ein recht unbelesenes und langweiliges Blatt. Sie ist verdammt, die Rolle der passiven Freundin zu spielen, die einzig als Katalysator für Babys Entwicklung herzuhalten hat. Eine eigenständige Figur wird sie niemals werden. Sie ist das hübsche Anhängsel mit ein bisschen Damsel in Distress.
Ansonsten ist Baby Driver quasi ein Musical im Form eines Action-Thrillers, dessen stetiger Beat wie ein Herzschlag den Geschehnissen Rhythmus gibt. Wrights Kinematografie, gekonnt umgesetzt durch Bill Pope (Matrix, Spiderman 1-3, Das Dschungelbuch), vermag dem musikalischen Sog ein perfekter Spielpartner zu sein. Ob Atlanta bei Nacht, ausgeklügelte Autojagden in einem Parkhaus oder das altmodische Diner seiner Mutter – die Bilder sind stets wohl kadriert und arbeiten vor allem mit Tiefe und Lichtern, um eine Stimmung zu erzeugen, die zwischen Noir und Tarantino-Retro-Neon-Chic hin und her wabern. Was bleibt einem also noch zu sagen, außer dass Baby Driver, auch wenn er hier und da ein bisschen schwachbrüstig daherkommt, der Cineasten-Seele trotzdem große Befriedigung gibt?
Beatrice Behn
Dieser Artikel ist zuerst bei kino-zeit.de erschienen, Beatrice Behn ist die Chefredakteurin dieses Portals für das arthouse-Kino.
Spritztour durch eine musikgesteuerte Actionwelt
Von Dominique Ott
Mit Baby Driver bringt der britische Regisseur Edgar Wright seinen sechsten Langspielfilm ins Kino. Und trotzdem muss man bei der Bezeichnung ‚Langspielfilm‘ kurz zögern: Eigentlich handelt es sich hier eher um eine Reihe an Musikvideos, welche die (für dieses Werk letztlich eher unwichtige) Story in mitreißende Einzelsequenzen zerstückeln. Die erste dieser Sequenzen entstand praktisch bereits 2002, als Edgar Wright das Musikvideo zu Mint Royales ‚Blue Song‘ nach dem exakt gleichen Szenario wie die Eröffnungsszene seines jüngsten Films drehte. Die durchgehende musikalische Untermalung wird auf dessen Handlungsebene mit dem Musikbedarf des Protagonisten (Ansel Elgort) begründet: Er hat stets Kopfhörer in den Ohren, um einen permanenten Tinnitus zu übertönen, der ihn seit einem Autounfall in seiner frühen Kindheit begleitet. Seinen (selbsterwählten) Rufnamen ‚Baby‘ hat er ebenfalls aus der Zeit beibehalten. Den ganzen Film über weichen wir Baby nicht von der Seite, weshalb es kaum einen Zeitpunkt ohne musikalische Begleitung gibt. Dabei sorgt in fast jeder Szene ein neuer Song für den angemessenen Soundtrack, der insgesamt angenehm variiert und stets anregend ausgespielt wird. Auch das Bild wird stark nach der filmeigenen Musik rhythmisiert, wobei Schnitte und sogar von der Filmwelt ausgehende Geräusche entsprechend gesetzt werden –selbst Schüsse fallen hier im Takt.
Die Entscheidung Baby nicht von der Seite zu weichen, hat weitere beachtenswerte Folgen: Während das Werbematerial einen sogenannten ‚Heist‘-Film erwarten lässt, erlebt man faktisch keinen der zahlreichen Raubüberfälle mit, denn Baby fährt nur den Fluchtwagen. Trotz seines frühen Kindheitstraumas zeichnet sich dieser nämlich hauptsächlich durch eine Eigenschaft aus: Er kann verdammt gut zu Musik rasen. In den entsprechenden Sequenzen glänzt der Film mit eindrucksvollen Verfolgungsjagden, die gekonnt mitreißend von der Kamera begleitet werden. Der Regisseur hat darauf bestanden, dass durchweg auf computer-animierte und green screen Effekte verzichtet wird, um seinen chases den richtigen Look zu verleihen. Schlussendlich sehen die Sequenzen fast zu gut aus: Brandneue Wagen driften durch ein hochglanzpoliertes Bild. Während der Zuschauersaal durch diese poppige Welt gewirbelt wird, wirft sich einen kurzen Augenblick die Frage auf, ob man nicht in einer Autowerbung gelandet sei. Glücklicherweise überzeugt die Kameraarbeit auch außerhalb des Fahrwerks mit einigen eindrucksvollen Plansequenzen, welche die Stadt Atlanta als Schauplatz der Action aufleuchten lassen –dabei sind lokale Rapper (Big Boi und Killer Mike) aus der dort gegenwärtig aufblühenden Hip-Hop-Szene auf der Musikspur sowie im Film kurzzeitig vertreten.

Baby (ANSEL ELGORT) is chased by the cops in TriStar Pictures‘ BABY DRIVER.
Baby Driver wirkt wie schon Wrights bekanntestes Werk Hot Fuzz immer dann überragend, wenn er sich seiner exzessiven und nicht so ernstgemeinten Action vollends hingibt. Dabei können zahlreiche unerwartete Wendungen zunächst das fast durchgehend hektische Tempo aufrechterhalten, schlussendlich geht dem Streifen jedoch wegen zu vieler Kehrtwendungen dann doch die Puste (oder der Sprit) aus. Dazu trägt ab einem gewissen Punkt auch die Musik bei, die mit ihrer unnachgiebigen affektiven Beanspruchung irgendwann ermüdend wirken kann: Mehrmals wird der Eindruck erweckt, man sei am Höhepunkt angelangt, bevor der Film sich nochmals übertrumpft. Die paar Verschnaufpausen, die einem doch gewährt werden, spalten sich zwischen klischeehaften Versuchen, den Figuren etwas Tiefe und Hintergrund zu verleihen, und gelungenen comedy-Szenen. Zu letzteren tragen weniger die von Wright (erstmals in über zwanzig Jahren gänzlich selbst) geschriebenen Dialoge, als eine gekonnte Situationskomik bei. Die Figuren verbleiben bei dieser bewussten Gradwanderung zwischen kitsch und camp jedoch trotz talentiertem Schauspielensemble durchwegs eindimensional. Besonders die weiblichen Charaktere –ganze zwei an der Zahl– scheinen hier hauptsächlich für das visuelle Vergnügen des männlichen Zielpublikums da zu sein. So zeichnet sich auch Debora (Lily James), die das Objekt von Babys Zuneigung darstellt, alleinig dadurch aus, dass sie das perfekte Mädchen für unseren Protagonisten ist.
Über die 112 Minuten Laufzeit hinweg sind zudem zahlreiche Filmzitate und Referenzen (von Halloweens Michael Myers bis hin zu Monsters, Inc.) verstreut. Sämtliche Einzeiler aus Filmen, die beim zappen durch Babys Fernseher ertönen, werden von diesem zu späteren Zeitpunkten wiederholt. Dabei steuern sie zur Handlung nicht wirklich etwas bei, stattdessen stellen sie die postmoderne Zitierfreudigkeit des Regisseurs und die mediale Aufnahmefähigkeit seines Babys aus. Letzterer scheint für eine junge Generation zu stehen, die im Minutentakt Popkulturreferenzen und neue Songs für jede Stimmung braucht, um (auch im Kino) aufmerksam dabei zu bleiben.
Dominique Ott