Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Der Maler Pieter Bruegel d. Ä. als Autor

BRUEGEL_XL_D_3D_01154So zu schreiben, wie er malt

Alf Mayer über Pieter Bruegel und seine gerade für die Kriminalliteratur prägende Art, die Welt zu sehen

„J. Edgar Hoover auf seinem Logensitz zupft sich eine Zeitschriftenseite von der Schulter, wo das Ding gelandet war. Zuerst ärgert er sich, dass sein Körper damit in Berührung gekommen ist. Dann fällt sein Blick auf die Seite. Die Farbreproduktion eines Gemäldes voller mittelalterlicher Figuren, die sterben oder tot sind – eine Landschaft der visionären Verwüstung und Katastrophe. So ein Bild hat Edgar noch nie gesehen. Es geht über die ganze Seite, dominiert sicher die ganze Zeitschrift. Skelettmenschen auf dem Marsch über rotbraune Erde, Männer, von Lanzen durchbohrt, am Galgen hängend, auf die Speichen von Rädern delillo9783462051735geflochten, die an den Spitzen kahler Bäume befestigt sind. Leichen, den Krähen ausgeliefert. Legionen der Toten, die sich hinter Schilden aus Sargdeckeln formieren. Der Tod selbst rittlings auf einer klapperdürren Mähre, er giert nach Blut, hält seine Sense bereit, während er die Leute in besessenen Schwärmen auf den Eingang irgendeiner Höllenfalle zutreibt, einer seltsam modernen Konstellation, die ein U-Bahntunnel sein könnte oder ein Büroflur. Ein Hintergrund aus Aschehimmeln und brennenden Schiffen. Edgar ist klar, dass die Seite aus dem Life-Magazin stammt, und er versucht sich in Rage zu bringen, er fragt sich, warum ein Magazin, das das Leben im Namen führt, ein so schauriges, schreckliches Gemälde abbildet. Aber er kann den Blick nicht von der Seite lösen…“ (Don DeLillo, „Unterwelt„, 1998, übersetzt von Frank Heibert)

Vor den Büchern gab es die Bilder. Wenn Bücher gut sind, schreiben sie uns eindringliche Bilder, malen in unserem Kopf. Am 9. September 2019 wird der Humanist und Künstler Pieter Bruegel der Ältere 450 Jahre tot sein. Was er in seinen Bildern erzählt hat, das ist immer noch das Thema heutiger Bücher: Welthaltigkeit.

Das Gemälde, mit dem Don DeLillo den FBI-Chef Hoover schon im leinwandbreiten Prolog seiner 1088-seitigen „Unterwelt“ konfrontiert und damit einen – Alexander Kluge würde sagen – lange nachhallenden Kammerton A setzt, ist das Bruegel-Bild „Triumph des Todes“ von 1562. Ein Meister der Moderne, bildmächtig wie nur wenige, nimmt ein mehr als 430 Jahre altes Gemälde, um damit die Mitte des 20. Jahrhunderts und die Wassermarke unserer Zivilisation zu zeichnen: Die atomare Bedrohung, das Wettrüsten, der Verbrauch der Ressourcen, der Müll, die riesigen Hinterlassenschaften der Menschheit sind wiederkehrende Motive in DeLillos Roman. Im Brennglas gebündelt findet er das alles in einem einzigen Bild von Bruegel.

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„Der Triumph des Todes“ (Foto: Priscila Costa (Ministério da Cultura) / Bearbeitung: Christoph Waghubinger, Lewenstein; Quelle: WikiCommons)

Man darf sich fragen, ob es überhaupt eine Kriminalliteratur gäbe ohne diese Schule des Sehens, wie Pieter Bruegel (zusammen mit Hieronymus Bosch) sie uns geschenkt hat. Seine komplexen und vielschichtigen Bilderzählungen sind zeitlos, sie sprechen immer noch zu uns. Seine Bilder durchdringen die Wirklichkeit, kondensieren sie, zugleich transportieren sie die Lust des Fabulierens, die Macht des Erzählens. Literatur als Gesellschaftsliteratur findet hier eine frühe, erstaunlich meisterhafte visuelle Ausdrucksform.

Einzelne Bruegel-Bilder kennt jeder von uns. Jetzt gibt es, bewerkstelligt vom Verlag Benedikt Taschen, eine foliantengroße XXL-Monografie aller 39 Gemälde, 65 Zeichnungen und 89 Kupferstiche. Edel und solide ausgestattet, ein Buch wie ein Familienerbstück. Anlässlich seines 450. Todestages und der weltweit ersten monografischen Ausstellung im Wiener Kunsthistorischen Museum (2.10.18 bis  13.1.19) wird das Werk Bruegels in diesem Buch nun bis in das kleinste Detail erfahrbar. Die Werke wurden eigens fotografiert. Viele Details hat man so – und derart präzise – noch nie sehen können, etwa den „Turmbau von Babel“ und seine Versionen. Dazu kommen wunderbar lesbare Texte, kundige Analysen ganz ohne akademisches Gepluster. Auch auf der Textebene ist dies ein überreiches Buch, dazu kommen ein großzügig gesetztes Literaturverzeichnis, ein Register der Personen, ausführlich kommentierte Kataloge der Gemälde, Zeichnungen und Kupferstiche.

 

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Turmbau zu Babel, Kunsthistorisches Museum (KHM), Wien

Die Kreuztragung Christi, 1564, KHM Wien

Bruegel war kein Monumental-Maler, die meisten seiner Großgemälde haben Maße von 114 x 155 oder 117 x 162 cm. Die „Kreuztragung Christi“ etwa ist mit 124 x 170 cm eines seiner flächenmäßig größten Werke. „Der Triumph des Todes“, das Bild, mit dem Don DeLillo den FBI-Chef  J. Edgar Hoover im Monumentalprolog von „Unterwelt“ konfrontiert, hängt im Madrider Prado, hat das Format 117 x 162 cm. Die Ausklapptafeln des Buches reproduzieren es beinahe in Originalgröße. Die Details sogar größer. Man kann richtig eintauchen.

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Der Kampf zwischen Fasching und Fasten, 1559, KHM Wien

Für J. Edgar Hoover – und natürlich nicht nur für ihn, sondern auch für uns als Leser – wird das Gemälde zur sprachgewaltigen Metapher sowohl eines Moments wie einer Epoche. Aus dem Fluss der Zeit (auch dies übrigens ein Bildthema bei Bruegel) nimmt De Lillo ein einzelnes Pixel „aus der Sandkörnchenunendlichkeit der Dinge, die keiner zählen kann“ und macht uns daraus ein erzählstarkes Bild, in dem er – an Bruegel geschult – den Schrecken seiner Zeit und den Abgründen des Menschen mit Gelächter begegnet.

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Details aus „Der Triumph des Todes“ (Quelle: WikiCommons)

Thetriumphofdeath_-_detailDie Szene, in der ein Mann einige Reihen hinter J. Edgar Hoover ein Heft der Zeitschrift zerfleddert und die Seiten durch die Luft flattern lässt, ereignet sich 1951 während eines berühmten Baseball-Spiel zwischen den New York Giants und den Brooklyn Dodgers, das Persönlichkeiten wie Frank Sinatra der FBI-Chef Hoover tatsächlich live im Stadion verfolgten. Mit dem überraschenden Sieg der Giants durch einen spektakuläre Home-Run von Bobby Thomson am Spielende wurde Sportgeschichte geschrieben. Es war der „Schuss, den man auf der ganzen Welt hörte“. Genau in diesem Moment gab es jedoch noch einen anderen Schuss, der die Welt in der Folge viel stärker betraf. Während die Fans im Stadion jubelten und sich ein schwarzer Junge names Cotter den in die Tribünen geschlagenen Ball schnappte, erhielt J. Edgar Hoover in seiner Loge die Nachricht, die Sowjetunion habe soeben ihre erste Atombombe gezündet. Der Kalte Krieg hatte begonnen.
Für J. Edgar Hoover, der mehr und mehr von dem Gemälde besessen wird, das er sich erst von der Schulter streifen wollte wie lästigen Staub, wird das mittelalterliche Bild zu einer Metapher der Angst im 20. Jahrhundert. Später erfahren wir, dass er sich gerahmte Reproduktionen und vergrößerte Details in seinem Arbeitsraum im Keller an die Wände hängt und sogar mit Spanien in Verhandlungen tritt, in der Hoffnung, man würde das Gemälde dem amerikanischen Volk schenken.

Der Prolog von „Unterwelt“ – an die 70 Seiten lang – ist ein Musterbeispiel der bereits von Bruegel so meisterhaft gehandhabten Verdichtung: Eine Momentaufnahme in einem Sportstadion, eine Hundertschaft von Personen, eine Zeitreise durch mehrere Jahrzehnte. All das in fein gezeichneten Miniaturen, nebeneinandergesetzt. Organisch. Von einem Gemälde kann man zurücktreten, kann das Detail wieder in das Ganze einsetzen und alles sehen, und umgekehrt. Ein Buch wird linear gelesen. Von jedem Abschnitt aus kann man einige andere Abschnitte klarer sehen, die ganze Breite der Leinwand des Buches aber wird erst in der Rückschau deutlich. Ein Bild tritt da von vornherein anders auf.

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Der Engelssturz. 1562, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel

Gemeinsam mit Jan van Eyck (um 1390–1441) und Hieronymus Bosch (um 1450–1516) gilt Pieter Bruegel der Ältere (um 1526/30–1569) als der bedeutendste flämische Künstler der Frühen Neuzeit. Im Unterschied zu den italienischen Künstlern Michelangelo (1475–1564) oder Raffael (1483–1520) steht er für eine realistische Kunst, die auch vor dem Hässlichen und Niederen nicht haltmacht. In seine Lebensjahre fallen die Konfessionskriege, der Beginn der grausamen Herrschaft des Herzogs von Alba als Statthalter der Spanischen Niederlande und die Gräuel der Inquisition.
So, wie wir es von den besten Kriminalautoren erwarten, so sah auch Bruegel den Schrecken seiner Zeit ins Auge, notierte das Schöne und das Schlimme, das Wohltuende und das Grausame. Er war ein unerschrockener Beobachter menschlicher und gesellschaftlicher Abgründe. Er war ein Realist. Und das mit unerschöpflicher Ausdruckskraft.

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Die Anbetung der Könige im Schnee, 1563/67, Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur

„So etwas beglückt mich. Brueghel, Hogarth,
Goya haben alle drei die Metaphysik in der Gegenständlichkeit. Dies ist auch mein Ziel“, notierte Max Beckmann 1919. Das Zitat ist eines von mehreren, die Jürgen Müller, der Hauptautor des Werkes, den Buchkapiteln wie Motti voranstellt. Hier noch drei weitere:

„Die Kreuzigung Christi – da fällt mir ein Bild ein, ein altes, ein Breughel: – alles andere ist da zu sehen, Jäger, die ausziehen, Städte, Vögel, Kinder, die spielen, Äcker und Bauern, die arbeiten, Pferde, Liebende, die spazieren, und man muss es schon suchen, wo eigentlich der Heiland mit seinem Leiden stattfindet, nicht in der Bildmitte, nicht größer als alle die anderen, nicht das Pathos der Mitte, wie wir es in unserem Auge und Herzen so tröstlich gewohnt sind.“ (Max Frisch 1943 über „Die Kreuztragung Christi“)

„Auf seinen Reisen hat er viele Veduten nach der Natur gezeichnet, sodass gesagt wird, er habe, als er in den Alpen war, all die Berge und Felsen verschluckt und als Malbretter wieder ausgespien, so nahe vermochte er in dieser und anderer Beziehung der Natur zu kommen.“ (Karel von Mander, 1604)

„Nimm nur den Ikarus, den vom Breughel 
‚Sieh, wie da alles sein’ Gang geht, gemach
Katastrophen, wen kümmern die groß

Der Pflüger da hat es womöglich gehört
Wie der Körper aufschlug aufs Wasser, den
Abgegurgelten Schrei. Ach, der unerhörte
Fall – für ihn war’s eben keiner […]“
(H.W. Auden, 1939) 

Im Grunde ist Bruegel heute immer noch ein Rätsel. Seine Motive zieren zwar Bierdeckel, Teller oder Humpen und scheinen das einfache und sinnliche Dasein hochleben zu lassen. „Über die Jahrhunderte hinweg ist sein Werk Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden“, schreibt Jürgen Müller. Aber weder eigenhändige Briefe noch ein Testament oder andere persönliche Texte geben Auskunft über Weltanschauung oder religiöse Überzeugung. Seine Sprachkenntnisse sind unbekannt, auch welche Bücher ihm vielleicht zugänglich waren. In der Bruegel-Literatur gibt es grundsätzlich zwei Forschungspositionen. Die eine Gruppe sieht ihn als gebildeten Humanisten, der mit den Debatten seiner Zeit vertraut war und auch Zugang zu lateinische Texten hatte. Die andere verortet ihn in einer volkssprachlichen Tradition, hebt generell auf seinen Humor ab und vermeidet Hinweise auf allgemeine geistesgeschichtliche Kontexte. Jürgen Müller betrachtet den Maler „ohne Abstriche als Humanist, der mitten in den philosophischen, politischen und religiösen Diskussionen seiner Zeit stand“.

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Ein Selbstbildnis

Sein Gemälde, Kupferstiche und Zeichnungen haben Titeln wie:
„Der Kampf zwischen Fasching und Fasten“
„Der Turmbau zu Babel“
„Die Kinderspiele“ (mit 168 spielenden Jungen und 78 Mädchen)
„Der Triumph des Todes“
„Die Dulle Griet“ (Die Tolle Grete)
„Der Engelssturz“
„Die Bauernhochzeit“
„Die Elster auf dem Galgen“
„Jäger im Schnee“
„Winterlandschaft mit Eisläufern“
„Der Bethlehemitische Kindermord“
„Das Schlaraffenland“
„Der Misanthrop oder Die Treulosigkeit der Welt“
„Das Jüngste Gerpcht“
„Die großen Fische fressen die kleinen“
„Die magere Küche“/ „Die fette Küche“
„Der Mann mit dem Geldsack und seine Schmeichler“ (dem sie buchstäblich in den Hintern kriechen)
„Angenehm ist die Musik der Reichen, selbst auf einem Kinnbacken“
„Zwei Blinde, die einander führen, fallen in den Graben“
„Höllenszene für ein Jüngstes Gericht“
„Der Egoist wärmt sich am brennenden Haus“
„Kampf der Sparbüchsen und Geldkisten“.

Opnamedatum: 2013-09-06

Die großen Fische fressen die kleinen, Kupferstich 1557, Rijksmuseum Amsterdam

http://www.metmuseum.org/art/collection/search/392427

Der Esel in der Schule, Kupferstich 1557, Metropolitan, New York

Hauptautor Jürgen Müller, der Unterstützung vom Grafikspezialisten Thomas Schauerte erhielt, hat sich schon viele Jahre mit Pieter Bruegel d. Ä. beschäftigt. An der Technischen Universität in Dresden lehrt er Mittlere und Neuere Kunstgeschichte, bei Taschen ist er Herausgeber der Dekaden-Filmbuchreihe. Die Verknüpfung von Film und Malerei und Zeichnung ist kein Zufall. Mit einem kompositorisch ganz anderen Blick als viele in ihrem Bilderkanon gefangene (und beschränkte) Kunsthistoriker vermag Müller, den Erzählstil des Malers Bruegel als organischen Bilderfluss zu erfassen und zu beschreiben.

Unterm Strich lässt sich sagen: Dieses Buch nimmt einen mit in einen gewaltig großen Film.

Alf Mayer – alle Bilder, woweit nicht anders benannt, mit freundlicher Erlaubnis des Verlages

Pieter Bruegel: Das vollständige Werk. Von Jürgen Müller, Thomas Schauerte. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2018. Hardcover, XXL-Format, 29 x 39,5 cm, 492 Seiten, 150 Euro. Verlagsinformationen hier.

Ausstellung:
02. Oktober 2018 – 13. Januar 2019: Pieter Bruegel der Ältere
Kunsthistorisches Museum, Wien.

Jubiläum: 9. September 2019: 450. Todestag.

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Baumlandschaft an einer Küste, 1554, Havard Art Museums

http://www.metmuseum.org/art/collection/search/338699

Superbia (Hochmut), Kupferstich 1558, Metropolitan, New York

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