Geschrieben am 1. Dezember 2020 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2020

Das Medium Feindflugblätter

Die gleiche Botschaft wie eine Patrone

Auszug aus dem Vorwort für ein aufregendes Buch – von Moritz Rauchhaus und Tobias Roth

Feindflugblätter sind eine Sonderform des auch aus Friedenszeiten bekannten Flugblattes, sie wenden sich direkt an den Kontrahenten im Krieg. Sie versuchen, seine Sprache zu sprechen, ihn zu demotivieren und zum Aufgeben zu bringen. Ihre Auflagen erreichen schwindelerregende Höhen, ihre Bildgewalt und psychologische Tücke ist überwältigend und ihr Besitz ist strengstens verboten. Der Zweite Weltkrieg hat auch diese Form der Propagandakunst auf ein neues Niveau gehoben, und damit deutliche Spuren in der Bildsprache und Typographie des 20. Jahrhunderts hinterlassen.
In die grauenhafte und faszinierende Welt dieser Blätter gibt der von Moritz Rauchhaus und Tobias Roth herausgegebene Band einen umfassenden Einblick – vollfarbig und aufwendig gestaltet.
Die Spannweite der versammelten 85 amerikanischen, britischen, französischen, sowjetischen und deutschen Blätter reicht vom kleinen Gedicht auf dünnem Papier, Propagandatexten von namhaften Autoren wie Klaus Mann und Stefan Heym, über das aufwendige, knallbunte Comic bis hin zu Ratschlägen zur Selbstverstümmelung, die sich in Streichholzbriefchen verbergen. – Siehe auch die Besprechung von Alf Mayer in dieser Ausgabe und die einer Handvoll Bücher über die Propagandakrieger von Camp Ritchie und Camp Sharpe in unserer Novemberausgabe.

Moritz Rauchhaus, Tobias Roth (Hg.): Eine Sammlung amerikanischer, britischer, deutscher, französischer Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs. Mit einem Nachwort und einem Essay von Christiane Caemmerer. Übersetzungen von Elisabeth Rudolph. Graphisch in Szene gesetzt von 2xGoldstein. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. Format 15,5 × 23,5 cm, durchgängig vierfarbig gebunden, Kopffarbschnitt, Prägung und Lesebändchen. 288 Seiten, 28 Euro.

Hier ein Auszug aus der Einleitung

Der junge Dichter Stefan Heym, der bereits 1933, mit 20 Jahren, seine deutsche Heimat verlassen musste, begleitet die Befreiung Westeuropas durch alliierte Truppen als Sergeant der amerikanischen Armee. Seine Aufgabe ist das Verfassen von deutschsprachigen Flugblättern, die den Feind demotivieren und zur Aufgabe bringen sollen. Im Sommer 1944 macht die stark befestigte Insel Cézembre im Ärmelkanal Schwierigkeiten, die deutschen Bunker lassen sich nicht zerstören. Stefan Heym erhält den Auftrag, mit einem Flugblatt zu erreichen, was die Bomben nicht vermögen: die deutsche Besatzung von Cézembre zur Kapitulation zu bringen. In Heyms Memoiren lassen sich die prekären Bedingungen nachlesen, unter denen er arbeitet, und die unverhoffte Wirkung, die sein Blatt Scheibenschießen (in diesem Buch # 38) hat: 

„Es gibt in Colombières keine Möglichkeit, Graphiken herzustellen; aber im Setzkasten der kleinen Druckerei der Kompanie, die endlich eingetroffen ist, finden sich genug bogenförmige Stücke, um daraus eine Art Zielscheibe zusammenzufügen, wie sie auf jedem Armeeschießplatz zu finden ist; und unter dieser zwar etwas abstrakten, aber doch erkennbaren Zielscheibe, im oberen Drittel seines Flugblatts, fragt S. H. die Soldaten auf Cézembre, ob sie sich je Gedanken darüber gemacht hätten, wie es wohl so einer Zielscheibe zumute wäre, auf die sie ja als Rekruten alle schon einmal geschossen hätten. (…) Fakt ist ferner, dass dies das einzige Flugblatt des Zweiten Weltkriegs war, dessen Wirksamkeit sich sofort und in vollem Maße ablesen ließ, so dass es wohl als Testfall gelten konnte für den Einfluss des Worts auf die Handlungen des Soldaten in gewissen Situationen – denn nur Stunden nach dem Abwurf zeigten sich die ersten weißen Fahnen an den Schießscharten von Cézembre und die Besatzung, unter ihr viele Polen, marschierte aus, gegen den Widerstand ihrer Offiziere.“ 

Ob Heyms Flugblatt wirklich so einzig in seiner Wirkung gewesen ist, sei dahingestellt, aber dass viele deutsche Soldaten, die 1944 in der Normandie kämpften, durch Kapitulation mit dem Leben davonkamen, ist sicher. Es gibt auch Berichte von der deutschen Seite. So sagte der Feuilletonist und Autor Heinz Knobloch 2002 trocken und nachdrücklich: „Was die von Stefan Heym verfassten Flugblätter angeht damals in der Normandie: Sie haben vielen deutschen Soldaten das Leben gerettet. Einer davon war ich.“ 

Dass ein kleines Stück Papier, ob von Dichterhand geschrieben oder nicht, über Leben in ihrer Sammlung historische und Tod entscheiden kann, hängt nicht nur mit der extremen Situation des Krieges zusammen. Ein Flugblatt ist in diesem Sinne ein extremes Stück Papier. Es rettet, aber es ist auch gefährlich. Das Flugblatt ist Propaganda des jeweiligen Feindes, der Besitz ist allerstrengstens verboten: Man kann davon ausgehen, dass die Blätter beispielsweise Stefan Heyms nicht nur Leben gerettet, sondern auch das Leben des ein oder anderen Soldaten gekostet haben. 

Sich heute diesen Blättern und ihrem extremen Kontext zu nähern, heißt Zeitgenosse einer fremden Zeit werden. Fremd natürlich, weil sie vergangen ist, aber fremd auch, wie sie vergangen ist. Ob mit der Erfahrung von75 Jahren Frieden in Mitteleuropa solch eine Zeitgenossenschaft noch vorstellbar ist? Wir waren nicht mehr alle Rekruten und wissen nicht mehr alle, auf welche Scheiben man da schießt. Der Blick auf solche Flugblätter offenbart nicht nur den Abstand, der dazu führt, dass bestimmte Gemeinplätze und Konventionen, Formeln und Witze für uns nur noch schwer nachvollziehbar sind. Es zeigt sich auch, wie vertraut und seltsam nah uns die Cartoons und Karikaturen, die Schlagzeilen und die Typographien zuweilen sind, wie modern das daherkommt. Die westliche Tradition der Propaganda, die im Zweiten Weltkrieg sicherlich einen Höhepunkt erreicht, beginnt nicht mit diesem Krieg und endet nicht mit ihm. 

Der historische Abstand zeigt auch Dinge, die den Machern möglicherweise gar nicht bewusst waren. In mancher Hinsicht wissen wir heute mehr über die 40er-Jahre als die 40er-Jahre über sich selbst. Doch das hat Grenzen, und dies sind die Grenzen des Tradierten und Tradierbaren. Was nicht überliefert ist, können wir gar nicht wissen. Und gerade Flugblätter sind fragile Gegenstände, sie sind einfach Zettel. Dass sie sich in so großer Zahl erhalten haben, ist an sich schon bemerkenswert. 

Die Staatsbibliothek zu Berlin führt in ihrer Sammlung historischer Drucke mehr als 20.000 Flugblätter aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Absender und Adressaten, die Sprachen, Formen, Gestaltungselemente, Einsatzorte und -zwecke variieren dabei stark. Im Magazin liegen sie neben Flugblättern aus anderen Zeiten und Konflikten, neben Photographien, Manuskripten und natürlich Büchern. Aufbewahrt und katalogisiert erzählen sie uns heute von einer mörderischen Zeit der Ungewissheit, Manipulation und Gewalt. 

Eine besondere Unterkategorie der Flugblätter sind Feindflugblätter, denen sich dieses Buch widmet. „Feind“ bezeichnet in diesem Begriff den Adressaten; wie insgesamt die Eigenpropaganda für den Untertan da ist, so die Feindpropaganda für den Kontrahenten. Feindflugblätter sind Flugblätter, die von einer Kriegspartei in der Muttersprache der jeweils befeindeten Kriegspartei verfasst sind und zum Feind gebracht werden, um ihn zu beeinflussen, zu manipulieren. Der letzte Nenner ihrer Botschaft ist am Ende meist: Hör auf zu kämpfen. Es ist im Grunde also die gleiche Botschaft, die auch jede verschossene Patrone mit sich trägt. 

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