Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

Constanze Matthes: Christoffer Carlsson „Was ans Licht kommt“

Tiefgründigkeit und langer Nachhall

Es ist der Abend, als Olof Palme stirbt. Am 28. Februar 1986 wird der schwedische Ministerpräsident nach einem Kinobesuch auf offener Straße in Schwedens Hauptstadt Stockholm erschossen. An jenem Tag in der Provinz Halland beobachtet ein Junge ein merkwürdiges Geschehen. Später wird dort in einem Auto die Leiche einer jungen Frau gefunden. In beiden Fällen tappt die Polizei bei ihren Ermittlungen lange im Dunklen, sind die Menschen geschockt von dem grausamen Verbrechen. Der schwedische Kriminalautor und Kriminologe Christoffer Carlsson erzählt in seinem Roman „Was ans Licht kommt“ von einer Mordserie in der schwedischen Provinz, vor allem aber von den Menschen, die dort leben.

Ein Schriftsteller kehrt nach 30 Jahren nach Halland zurück, wo er einst aufgewachsen ist. Er bezieht das Haus seiner Eltern und leidet unter Scheidung und Schreibkrise. Vor Ort wird er mit einer Reihe an Tötungsverbrechen aus der Vergangenheit konfrontiert, die unter dem Namen Tiarp-Morde einst für Angst, Schrecken und Trauer gesorgt haben. Alles begann an dem Abend, als Olof Palme erschossen wurde, ein Land in Schockstarre fällt und ein Anruf die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt: Ein Mann behauptet, eine Frau vergewaltigt zu haben – und es wieder zu tun. Später wird die 20-jährige Kellnerin Stina tot aufgefunden, verschwindet eine zweite Frau spurlos, wird daraufhin eine dritte schwer verletzt. Immer im Abstand weniger Jahre. Der Täter scheint, seine Opfer zu kennen beziehungsweise sehr genau zu beobachten – und die Ermittler zum Narren zu halten und herauszufordern. Der erfahrene Polizist Sven Jörgensson nimmt die Ermittlungen auf, die ihn eine lange Zeit nahezu verfolgen, ihn allerdings letztlich in die Irre führen werden, mit fatalen Konsequenzen, was jedoch erst durch die Suche des Schriftstellers ans Tagelicht kommen soll.

Dessen Erinnerungen an die damaligen Jahre sind verblasst. Ein Besuch bei der Polizistin und Svens Kollegin Evy sowie die Begegnung mit Svens Sohn Vidar, der für eine gewisse Zeit in die Fußstapfen seines Vaters getreten und selbst Polizist war, jedoch seinen Beruf wieder aufgegeben hatte, lässt jedoch Erinnerungen wieder aufleben. Wie ein Schatten hat sich der Mörder und die Suche nach ihm auf das Leben der Jörgenssons gelegt.

Die Suche nach dem Täter, die Vergangenheit mit der jüngsten Gegenwart verbindet, sorgt für eine Spannung, der man nur schwer entkommen kann. Für erzählerische Tiefe und Komplexität sorgt indes, wie Carlsson seine Figuren beschreibt – ihre Vergangenheit, ihre Rolle in dem ganzen Drama, ihre Verfehlungen und Schuld. Sein Roman ist nicht nur ein Krimi über grausame Verbrechen und die intensive Polizeiarbeit, es geht vielmehr um die Menschen. Was machen Verbrechen wie der Mord an Palme und jener an der jungen Frau mit den Bewohnern einer Kleinstadt. Und was machen die Ermittlungen mit den Polizisten, die mit roher Gewalt konfrontiert werden und wie besessen nach dem Täter suchen. Carlsson schaut tief in die Seelen, zeigt zugleich anhand von Sven und Vidar einen vielschichtigen Vater-Sohn-Konflikt auf. Mit der Figur des Schriftstellers beschreibt er eine Person, die sich mit der Rückkehr an die Kindheit erinnert und ihre eigene Geschichte aufarbeitet. Von den Einwohnern wird er mit einer gewissen Portion Skepsis betrachtet, weil er in deren Vergangenheit herumwühlt – mit seiner ganz eigenen Begabung, Verbindungen zu erkennen und sich in das Leben anderer einzufühlen.

Carlsson, Jahrgang 1986, wuchs an der Westküste Schwedens auf. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm. Seine Dissertation und weitere wissenschaftliche Publikationen galten der Entwicklungskriminologie. 2012 wurde er mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman „Der Turm der toten Seelen“, den ersten Band der Leo-Junker-Reihe, erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Sein Roman „Unter dem Sturm“ war 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert.

Nun mit „Was ans Licht kommt“ habe ich einen Kriminalroman gelesen wie zuletzt keinen zweiten, was die tiefgründige Beschreibung der Charaktere und ihrer Lebensgeschichte betrifft, die allerdings Zeit zum Erzählen braucht und wohl nichts für ungeduldige Krimileser ist. Dabei hat Carlsson nicht nur eine Figur im Blick, sondern mehrere, an denen er Themen wie Besessenheit, Selbstbetrug und Lügen, Schuld und Sühne sowie die Folgen einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verhandelt. Mit dem Aberglauben rund um das Auftauchen einer Bachstelze und die Sage um den jungen Knecht Aron verarbeitet Carlsson zugleich mystische Elemente. Die Landschaft mit all ihren Erscheinungen im Jahresverlauf kann er ebenso bildhaft und eindrücklich beschreiben wie er mit der Schilderung von wenigen Gesten einer Szene eine gewisse Stille verleiht. Zugleich gelingt es ihm, die spezielle Stimmung des Landes nach dem Palme-Mord dem Leser nahezubringen.

Allerdings lassen sich Beschreibungen finden, die nicht nachvollziehbar sind, beispielsweise, wenn abgeerntete (!) Felder sacht im Wind wogen oder im März das Laub der Bäume raschelt (höchstens das auf dem Boden), oder sich Formulierungen wiederholen. Das sind kleine Dinge, die keineswegs zweifeln lassen an der Größe dieses anspruchsvollen weil komplexen Romans, der spannend geschrieben ist und ob seiner Charaktere lange nachhallt. Der Name Carlsson bleibt nach der Lektüre ganz sicher im Gedächtnis.

Christoffer Carlsson: Was ans Licht kommt (Brinn mig en sol, 2021). Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. Gebunden, 496 Seiten, 23 Euro.

Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.

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