Geschrieben am 25. August 2012 von für Crimemag

Böse Fragen von Giancarlo de Cataldo

Giancarlo de Cataldo ist Richter in Rom, Romancier und Drehbuchautor, seine Stoffe und Themen stammen direkt aus den italienischen Realitäten. Mit den Romanen „Romanzo Criminale“, „Schmutzige Hände“ und „Zeit der Wut“ (mit Mimmo Rafele) ist er auch bei uns als wichtiger Autor von Polit-Thrillern etabliert. Die erste Staffel der Fernsehserie „Romanzo Criminale“ ist gerade auf DVD erschienen. CrimeMag ist stolz darauf, Giancarlo de Cataldo als Mitarbeiter gewonnen zu haben. Den Auftakt macht ein programmatischer Text, der sein literarisches und realpolitisches Arbeitsprogramm umreißt:

Böse Fragen

– Eine Auflistung sämtlicher Verbrechen, die die entscheidenden Augenblicke der jüngeren italienischen Geschichte geprägt haben – vom Massaker in Portella della Ginestra bis zu den Attentaten von ’92-’93 – würde ausreichen, um die Bibliothek des hingebungsvollsten aller Liebhaber des Roman noir zu füllen. Verbrechen, das heißt Tatsachen. Dinge, die wirklich geschehen sind.

Hierzulande befasst sich nun seit einigen Jahren wieder ein verwegenes Grüppchen von Schriftstellern, Regisseuren und Theatermachern mit diesen Verbrechen. Erzählt sie mit Mitteln literarischer Genres, die man anderswo schon länger nutzt. Stellt sich und den Lesern böse, respektlose Fragen.

Ein paar Erzähler haben vor einigen Jahren angefangen, „schlecht zu denken“, um mit Carlo Lucarelli zu sprechen. Und je mehr wir über unsere Geschichte nachdenken, umso schlechter denken wir über sie. Unsere reale Geschichte. Nicht Ausgeburten der Fantasie strebsamer Schreiber oder wohlfeiler Vergangenheitsdeuter.

Vielleicht ist es eine Art Reaktion, wer weiß? Doch immer öfter melden sich kritische, wenn nicht gar unduldsame Stimmen. Sie behaupten, man könne Geschichte nicht mit literarischen Mitteln erzählen und beklagen damit die Vereinnahmung eines Feldes, das doch andere beackern sollten (Berufshistoriker, Journalisten, Politologen, Richter, diese aber nur als letzte Instanz). Die Kritik wird konkret, wenn Schriftsteller beschuldigt werden, Fantasie und Realität auf gefährliche Weise zu vermengen. Und am Ende heißt es immer wieder: Unsere Geschichte ist nicht die eines dauernden Kampfes, sie ist es nie gewesen.

Wir könnten ohne Weiteres entgegnen, dass noch nie jemand unsere jüngere Geschichte wirklich in obsessiv verschwörungstheoretischer Manier darstellen wollte. Wenn wir „böse“ Fragen aufwerfen und „schlecht denken“, versuchen wir, eine Grauzone zu beleuchten, in der sich all das abspielt, was üblicherweise unter der Bezeichnung „Italiens Mysterien“ läuft. Tatsächlich ist es aber so, dass dort eindeutige Kausalitäten, durchsichtige Strategien und komplexe Pläne die „schmutzigen“ Kriminellen mit den Vertretern der „über jeden Verdacht erhabenen“ Mächte verquicken. All dies fatalerweise im Sinne der beidseitigen „Zweckdienlichkeit“.

Doch es geht nicht um eine Geschichte, die ausschließlich von  andauernden Kämpfen handelt, sondern um eine, die auch von Kämpfen handelt. Eine Geschichte, in der Gewalt und Kriminalität eine mal marginale, öfter aber zentrale Rolle spielen, wie sich in ihren charakteristischen und wichtigsten Augenblicken gezeigt hat. Um die Diskussion endgültig abzuschließen, würde wohl der Hinweis auf ein offizielles staatliches Dokument genügen: den Bericht des COPACO (Comitato di controllo sui Servizi di Sicurezza = Kontrollkomitee für die Sicherheitsdienste), der 1995 im Auftrag des damaligen Staatssekretärs Massimo Brutti erschien. Eine lange, wohlüberlegte, unanfechtbare Auflistung gerichtlich festgestellter Fehltritte, begangen von Mitgliedern des staatlichen Apparates, die sich auf die Seite der Illegalität geschlagen hatten, indem sie Verbrecher deckten und Untersuchungen der Justiz behinderten. Das war alles andere als ein Produkt der schriftstellerischen Fantasie!

Doch als besonders interessant erweist sich die Diatribe dort, wo sie die Frage nach dem historischen Gedächtnis überlagert. Paradox ist, dass Schriftsteller und Regisseure, die doch in Wirklichkeit nichts anderes als Geschichtenerzähler sind, in gewisser Weise zu Wächtern und Bewahrern dieses Gedächtnisses werden. Es ist paradox, aber es geschieht. Und das nicht nur hier bei uns in Italien.

Die Romans noirs des Franzosen Jean-Patrick Manchette kommen einem in den Sinn, überreich wie sie sind an eindrucksvollen Beobachtungen über die Beziehung zwischen legalen Kräften und Kriminalität. Die monumentale Aufarbeitung der amerikanischen Geschichte, an der seit Jahren ein hochkarätiger Autor wie Gore Vidal schreibt. Die Romane von Don DeLillo und James Ellroy. Oder das Meisterwerk  von Vikram Chandra, „Der Pate von Bombay“, das die gesamte Zeitgeschichte Indiens im Licht des „Austausches von Gefälligkeiten“ zwischen staatlichen Apparaten und kriminellen Banden betrachtet.

Zwei grundlegende Züge vereinen uns Italiener mit diesen Schriftstellern. Der erste ist ihre Fokussierung auf Geschichte mit dem Rückgriff auf direkte Quellen (Dokumente und Zeitzeugen) und penibler Detailtreue. Der zweite ist, dass wir alle nicht in finsteren Diktaturen leben und arbeiten, sondern in gefestigten demokratischen Staaten mit Verfassungen, die sich breiter Zustimmung erfreuen, und von Politikern regiert werden, die durch freie Wahlen an die Macht gelangen. Bei vielen dieser Romane und Filme lässt sich jedoch die alarmierte, sogar furchtsame Wahrnehmung der Grenzen von Demokratie nicht übersehen.

Wenn wir uns genauer anschauen, was in unseren Demokratien geschehen ist und noch immer geschieht, finden wir wieder uns mit denselben „bösen Fragen“ konfrontiert:

Warum glaubten oder glauben demokratisch legitimierte und gefestigte staatliche Apparate so gern, sie wären auf die Unterstützung der Kriminellen angewiesen? Warum werden in anscheinend friedlichen Zeiten kleine „schmutzige Kriege“ ausgefochten, bei denen sich die Gangster, denen die Straße gehört, als wertvolle Verbündete der etablierten Mächte erweisen? Warum erliegen so viele junge Leute dem Faszinosum der Kriminalität? Weil sie – menschlich betrachtet –  schon zerbrochen sind oder weil man sie vor sich hin vegetieren und dem Verfall überlässt, um sie als kriminelle Reserve in der Hinterhand zu behalten und auf sie zurückgreifen zu können, falls man sie brauchen sollte?

Böse Fragen, auf die es, im Augenblick jedenfalls, keine Antwort gibt.

Darum müssen wir sie uns immer wieder stellen. Und immer weitergraben, auf der Suche nach der Lösung – in der Geschichte.

Giancarlo de Cataldo

Über die erste Staffel der italienischen TV-Verfilmung von „Romanzo Criminale“ lesen Sie demnächst hier in CrimeMag.

Dieser Text erschien unter dem Titel „Domande Cattive“ im „Almanacco Guanda“.

Die Übersetzung ins Deutsche ist von Dorothee Calvillo. Sie verbrachte ihre Kindheit zwischen Spanien und Deutschland, studierte Romanistik und arbeitet seither als Fachübersetzerin. Seit 2005 studiert Dorothee Calvillo Literaturübersetzen in Düsseldorf und bereitet sich gerade auf ihr Diplom vor.

 

Zu de Cataldo bei  CULTurMAG. Thomas Wörtche über „Zeit der Wut“ im Deutschlandradio Kultur, „Schmutzige Hände“ bei cultmag und „Romanzo Criminale“ bei kaliber38. Verlagsinformationen.

Giancarlo De Cataldo: Zeit der Wut. Thriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag 2012. 247 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo De Cataldo: Schmutzige Hände. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 376 Seiten. 22,90 Euro.
Giancarlo De Cataldo: Romanzo Criminale. Politthriller. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Wien: Folio Verlag. 575 Seiten. 24,90 Euro.

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