
Kurzbesprechungen von fiction – Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Ulrich Noller (UN), Hans Helmut Prinzler (hhp), Frank Rumpel (rum), Jan Christian Schmidt (jcs) und Thomas Wörtche (TW) über:
Bernhard Aichner: Dunkelkammer
Raymond Chandler: Die kleine Schwester
Stephen Greenall: Winter Traffic
Chan Ho-Kei: Die zweite Schwester
Chris Lloyd: Die Toten vom Gare d’Austerlitz
Ian McGuire: Der Abstinent
Colin Niel: Nur die Tiere
George Orwell: Tage in Burma
Sarah Paretsky: Landnahme

Unnachahmliche Erzählstimme
(JF) V. I. Warshawski kann eine kolossale Nervensäge sein. Und das ist auch in Ordnung so. Wäre die altgediente Privatermittlerin aus Chicago zurückhaltender, würden die Bösen dieser Welt nämlich noch besser schlafen können. Aber wie die Dinge in den Detektivromanen der engagierten Autorin Sarah Paretsky stehen, hat die Gerechtigkeit immerhin eine klitzekleine Chance, auch wenn die großen Schurken in der Regel ohne ernsthafte Blessuren davonkommen. So verhält es sich auch in Warshawskis neuem Fall Landnahme, der Bauspekulationen in Chicago, die Machenschaften von Agrarkonzernen und den Pinochet-Putsch in Chile zu einem nur schwer entwirrbaren kriminellen Knäuel verbindet. Weniger hartnäckige Personen würden hier kläglich scheitern, doch V. I. Warshawski lässt sich weder von den Gewehrkugeln ihrer Gegner noch vom Schweigen der Opfer, die sich in ihrem Schmerz eingerichtet haben und nur noch in Ruhe gelassen werden wollen, abschrecken.
Rasch sind aufwendige Nachforschungen dieser Art natürlich nicht zu bewältigen, deshalb braucht es auch mehr als 500 Seiten, um von ihnen zu erzählen. Dass keine davon langweilig ist, verdankt sich der unnachahmlichen Erzählstimme, die Paretsky ihrer Heldin verliehen hat und die von Else Laudan auf charmante Weise ins Deutsche gebracht wurde. Wie bei Ariadne-Editionen üblich, findet sich auch in „Landnahme“ ein Glossar, das über die realpolitischen Hintergründe der fiktiven Handlung aufklärt und die unvermeidliche Behaglichkeit, welche sich bei der Lektüre dieses sehr unterhaltsamen Kriminalromans einstellt, relativiert.
Sarah Paretsky: Landnahme (Dead Land, 2020). Deutsch von Else Laudan. Argument-Ariadne, Hamburg 2021. Hardcover, 542 Seiten, 24 Euro. – Siehe auch Sara Paretsky über Dorothy B. Hughes in dieser Ausgabe.

Ein tropischer Noir
(TW) „Tja, die guten alten Deutschen. Die wussten, wie man einen Nigger behandelt. Vergeltungsmaßnahmen! Nilpferdpeitschen! Da wurden Dörfer überfallen, Vieh abgeschlachtet, Felder verbrannt, da gab es Hinrichtungen, die Kerle wurden aus der Kanone geschossen.“ So lässt George Orwell in seinem Erstlingsroman Tage in Burma einen widerwärtigen, frustrierten, hysterischen britischen Handelsagenten pöbeln, der Ende der 1920er Jahre in einem kleinen burmesischen Städtchen mit nur ein paar anderen Briten sitzt und alle hasst – vor allem aber alle Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe. Orwell war selbst fünf Jahre bei der Indian Imperial Police in Burma (heute Myanmar) stationiert und hatte dort Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus tagtäglich hautnah erlebt. Zurück in England ätzt und speit er in seinem Roman mit bitterster Kritik über die imperialen Zustände. Nichts mit „the white man´s burden“, eine Art Anti-Kipling. Seine Kolonialbriten, die sich jedem anderen Menschen, außer britischen Kavallerieoffizieren, weit überlegen dünken, sind eine moralisch und sittlich verkommene Bande von völlig empathielosen Heuchlern, Spießern, Dummköpfen, Alkoholikern, Ausbeutern und sexuell Frustrierten. Karikaturen oder treffsichere Porträts? Vermutlich letzteres. Orwell arbeitet mit Salzsäure und tiefschwarzer Komik. Psychische und physische Gewalt sind ubiquitär, politische Intrigen an der Tagesordnung – so gesehen könnte man „Tage in Burma“ durchaus als Noir tropique bezeichnen, mit entsprechend tödlichem Ende ohne Trost.
Orwells Intention ist klar, maximale Kritik am britischen Imperialismus, aufgehängt an dessen alltäglichsten Repräsentanten. Und bei allem Furor merkt Orwell nicht, dass auch seine Darstellung der burmesischen und indischen Bevölkerung durchaus heftige rassistischen Züge hat. Insofern ist dieser Roman ein Zeitdokument.
George Orwell: Tage in Burma (Burmese Days, 1934). Deutsch von Manfred Allié. Mit einem Nachwort von Manfred Papst. Dörlemann Verlag, Zürich 2021. 464 Seiten, Leinen, 30 Euro.

Auch in die Filmwelt
(hhp) Es ist schon lange her, dass ich die sieben Romane von Raymond Chandler gelesen habe. In den 1970er Jahren erschienen sie in Neuübersetzungen bei Diogenes. Jetzt legt der Verlag nochmal nach und publiziert neue Neuübersetzungen. Zum Beispiel von Die kleine Schwester (1949), deutsch erstmals 1953. Die Übersetzung aus dem Jahr 1975 stammte von W. E. Richartz, die neue von Robin Detje. Sie ist lakonischer, moderner, liest sich sehr gut.
An vieles konnte ich mich nicht mehr erinnern. Der Detektiv Philip Marlowe bekommt Besuch von Orfamay Quest, der „kleinen Schwester“ von Orrin Quest, die aus Manhattan in Kansas nach L.A. gekommen ist, um ihren Bruder hier zu suchen. Er ist spurlos verschwunden. Und es gibt noch eine große Schwester, die Schauspielerin Mavis Weld, die um ihre Karriere fürchten muss, wenn öffentlich wird, dass sie eine Beziehung zu dem Gangster Steelgrave hatte. Es existieren entsprechende Fotos, mit denen man sie erpressen könnte. Marlowe ermittelt und ist in zwei Welten unterwegs: in der Filmwelt von Hollywood und in der Unterwelt von L.A. Es gibt viele Tote (auch Orrin bleibt auf der Strecke) und überraschende Wendungen. Die letzte Pointe findet sich kurz vor Schluss. 350 spannende Seiten. Mit einem Nachwort von Michael Connelly.
Raymond Chandler: Die kleine Schwester (The Little Sister, 1949). Neuübersetzt von Robin Detje. Diogenes Verlag, Zürich 2020. Hardcover, 352 Seiten, 24 Euro. – Zu Hans Helmut Prinzlers außergewöhnlicher Internetseite, explizit Filmbuchbesprechungen gewidmet, geht es hier.

Winter im Zentralmassiv
(rum) Das französische Zentralmassiv ist keine jener Gegenden, die ob ihrer pittoresken, spektakulären oder anderweitig touristisch markanten und vermarktbaren Topographie, Lage oder Zuschreibungspotentials bisher auch als Schauplatz von Romanen besondere Beachtung gefunden hätte. Und mit einem Besucher/innen-Ansturm muss die Region wohl auch nicht rechnen, nachdem Colin Niels so kunstvoll, wie raffiniert geplotteter Roman „Nur die Tiere“ nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Das liegt freilich nicht an der Landschaft selbst, weil es langweilige Landschaften nicht gibt. Aber Colin Niel erzählt hier eindrücklich vom Winter auf der kargen Hochebene, einer rauen Gegend, in der Schaf- und Rinderzüchter über die Runden zu kommen versuchen. Niel lebt übrigens in Marseille. In seiner Heimat hat er sich mit Kriminalromanen einen Namen gemacht, die in Französisch-Guyana spielen, wo der studierte Ökologe einige Jahre zubrachte.
In einem kleinen Ort im Zentralmassiv verschwindet eine Frau, Evelyne Ducat heißt sie. Ihr Auto wird gefunden, von ihr selbst aber fehlt jede Spur. Die weiträumige Suche der Polizei läuft ins Leere, doch spielt die in Niels Roman ohnehin nur eine marginale Rolle. Nacheinander lässt der 1976 geborene, französische Autor fünf Menschen zu Wort kommen. Sie alle waren Teil der Ereignisse und schildern nun ihre Sicht der Dinge. Da ist zunächst die Sozialarbeiterin Alice, die über die Hochfläche des Karsts fährt und auf den abgeschiedenen Höfen der Landwirte vorbei schaut. Eines Tages geht sie ein Verhältnis mit dem alleinstehenden Schafzüchter Joseph ein. Doch kurz nach dem Verschwinden von Évelyne Ducat, wird Joseph seltsam. Er will Alice nicht mehr sehen und schon gar nicht auf seinem Hof haben und ihr kommt der Verdacht, dass er etwas mit Ducats Verschwinden zu tun haben könnte. An ihn gibt der Autor im folgenden Kapitel den Ball weiter. Und Joseph hat tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun, allerdings auf eine völlig andere Art, als gedacht. Und mit jedem weiteren Erzähler, jeder weiteren Erzählerin, etwa der jungen Maribé, die weder ihre Gefühle, noch ihr Leben im Griff hat, nimmt die Geschichte eine komplett neue, überraschende Wendung.
Colin Niel taucht dabei jeweils in ganz eigene Universen mit ganz eigener Themensetzungen ein und vernetzt sie lose über einzelne Figuren. Sehr schön ist, wie er den Blick lenkt, wie sich die Geschichte immer wieder ruckartig verschiebt, die Frage aufwirft, was hier überhaupt passiert sein könnte. Colin Niel erzählt zupackend, zugespitzt, mit rustikalem Humor und sachter Schwermut. Dabei ist er kein Zyniker, sondern ein zugewandter Autor mit genauem Blick für verschiedenste Lebenswelten und Milieus. Er erzählt etwa vom harten Leben der Viehzüchter, die sich auch mit großen Herden oft nur gerade so über Wasser halten könnn. Sie kämpfen mit Bürokratie und Einsamkeit und sehen, wie immer mehr Häuser in ihrer Umgebung zu Feriendomizilen (also doch!) werden. Und auch das Sozialgefüge auf der Hochebene ändert sich. Junge, zugezogene Leute bringen neue Ideen und etwas Schwung in die Gegend.
In Niels Roman ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint. Treibende Kraft ist hier die verzweifelte, skurrile Blüten treibende Suche nach Zuneigung und Bestätigung. Und dafür findet Niel starke Bilder und Figuren. Dominik Moll hat die Geschichte bereits verfilmt. Hierzulande soll „Die Verschwundene“ im Juli in die Kinos kommen – wenn sie denn bis dahin öffnen dürfen. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie er diese komplexe Geschichte auf die Leinwand bringt.
Colin Niel: Nur die Tiere (Seules les Bêtes. Rodez, 2017). Aus dem Französischen von Anne Thomas. Lenos-Verlag,Basel 2021. 286 Seiten, 22 Euro.

Souveräner historischer Thriller
(JF) Inspecteur Édouard „Eddie“ Giral von der Pariser Kriminalpolizei ist ein rechter Schmerzensmann. Dass fiktive Ermittler Prügel beziehen, ist nicht ungewöhnlich, doch was Giral einstecken muss, dürfte einen schwächeren Mann für einige Zeit komplett außer Gefecht setzen. Nicht nur einmal wird er in ein Auto gezerrt, um dann nach allen Regeln der Kunst malträtiert zu werden. Sich direkt zu wehren, wäre sinnlos, denn Paris ist von der Wehrmacht besetzt und seine Peiniger sind Agenten der Gestapo. Offiziell, so hört er immer wieder, dürften sie gar nicht da sein, doch auch unter den deutschen Besatzern gibt es Rivalität und Feindschaft. Man munkelt sogar von einer Verschwörung gegen Hitler, die bis in höchste Kreise des Militärapparats reichen soll. Und Girals Ermittlungen sind brisant.
Es ist der 14. Juni 1940. Während auf den Champs-Élysées deutsche Soldaten marschieren, werden in einem Eisenbahndepot die Leichen von vier polnischen Staatsangehörigen gefunden. Sie sind mit Giftgas ermordet worden. Wenig später begeht ein weiterer Pole Selbstmord und nimmt dabei seinen kleinen Sohn mit in den Tod. Indizien weisen darauf hin, dass beide Fälle zusammengehören. Aber Girals Nachforschungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, schließlich kann er nicht einfach deutsche Offiziere, die vielleicht wichtige Zeugen sind, verhören. Also ist er auf die Zusammenarbeit mit dem dubiosen Major Hochstetter vom militärischen Geheimdienst angewiesen, dessen Spiel er nicht durchschaut. Weitere Akteure, darunter eine amerikanische Enthüllungsjournalistin, Angehörige des polnischen Widerstands und ein Maulwurf im Polizeiapparat, machen seine Arbeit auch nicht übersichtlicher. Dass der Ermittler zudem ein schweres Päckchen privater Probleme mit sich herumträgt, versteht sich von selbst.
Bemerkens- und lesenswert ist, wie souverän der britische Autor Chris Lloyd all diese Strukturelemente zu einem komplexen historischen Thriller zusammenfügt, in dem die Lösung des eigentlichen Falls gelegentlich in den Hintergrund rückt. Angesichts der monströsen Verbrechen Nazideutschlands, von denen dieser Roman auch handelt, deren Aufklärung aber erst Jahre später stattfinden wird, ist das nur folgerichtig.
Chris Lloyd: Die Toten vom Gare d’Austerlitz (The Unwanted Dead, 2020). Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. Suhrkamp, Berlin 2021. 473 Seiten, 15,95 Euro.

Achterbahn der Gefühle
(UN) Müsste ich benennen, wer uns die besten Thriller schenkt – der Österreicher Bernhard Aichner wäre sicher ganz oben auf der Liste. Auf jeden Fall im Rahmen der deutschsprachigen Spannungsliteratur, aber schon auch im globalen Kontext. Ein High Speed und High End-Thrillerkönner. Das belegt einmal mehr sein neuestes Projekt – Dunkelkammer.
Die Idee: Ein Obdachloser hält die Kälte nicht mehr aus und bricht in eine offensichtlich leerstehende Wohnung ein. Dort entdeckt er eine Tote; Indizien deuten darauf hin, dass die mumifizierte Leiche seit zwei Jahrzehnten dort liegt. Die Frau war eine Multimillionärin, die seinerzeit einfach verschwunden ist, eine große Geschichte. Kann man Geld mit machen. Also ruft der Einbrecher, der in einem früheren Leben Pressefotograf war, einen alten Kumpel an. Das ist David Bronski, der Held der Geschichte. Bronski lebt schon lange nicht mehr in Tirol, hat ein neues Leben in Berlin angefangen. Er funktioniert, aber er ist innerlich längst ein Untoter: Vor Jahren wurde sein Baby entführt, Berlin sollte ein Versuch von ihm und seiner Frau sein, wieder leben zu lernen, das hat nicht funktioniert, und das führte zu einem weiteren Desaster. Jetzt also die Tote in der Wohnung nahe Innsbruck. Bronski lässt sich darauf ein. Er fotografiert die Tote und ihre Wohnung vor der Benachrichtung der Polizei. Als Bronski fast durch ist mit seiner Arbeit, öffnet er die Geldbörse der Toten. Dort findet er ein altes Foto. Ein Foto, das mit ihm und seinem Schicksal zu tun hat. Wie kann das sein? Die Antwort ist die Story dieses Romans. Willkommen auf der Achterbahn der Gefühle …
“Dunkelkammer” ist: Spektakulär geplottet, genial konstruiert, klasse erzählt – ein absolut zeitgenössischer Thriller auf allerhöchstem Niveau. Kann man sich mit wegknallen, macht richtig Spaß – auch wenn Bernhard Aichner bei den (notwendigen) Zumutungen ganz schön an die Grenze geht, wie übrigens auch sonst in jeder Hinsicht. Also: Loopings, Richtungswechsel, Wendungen, Abstürze und Kurven, bei denen es eigentlich physikalisch unmöglich ist, dass du in der Spur bleibst. Unbedingt lesen!, mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Außer vielleicht: Hören!! Denn die Hörbuchvariante ist fast noch einen Tick interessanter als der Roman. Und das will schon was heißen …
Bernhard Aichner: Dunkelkammer. btb Verlag, München 2021. Klappenbroschur, 352 Seiten, 17 Euro. – Hörbuch: Der Hörverlag, 17 Euro.

Großes Fest des Erzählens
(UN) „Geradlinigkeit” wäre möglicherweise der passende Begriff, wenn man alle die Eigenschaften in einem Wort zusammenfassen wollte, die das Debüt Winter Traffic (exzellent übersetzt von Conny Lösch) nicht verkörpert: Ein Roman wie eine Explosion, die Lesenden werden selbst zu Ermittlern, die in dem Trümmerfeld, das sich da aufzutun scheint, die Story vorm inneren Auge (re-)konstruieren müssen; die Story mithin, die sich da ereignet hat und noch ereignet, die also zu der Explosion führte. Oder so. Klingt kompliziert? Ist es auch. Glaube ich zumindest. Denn ich bin auch Wochen nach der Lektüre nicht sicher, wie viel von dem Ganzen ich wie verstanden habe. Ein korruper Polizist spielt jedenfalls eine Rolle, ein “ehrenhafter Gangster”, ein Überfall auf einen Geldtransport möglicherweise, der speziell den Cop als letzte Chance aus einer üblen Bredouille befreien könnte. Erstmal eine – im Grunde auch wieder – einfache Krimi-Kernstory scheint sich da zu kristallisieren; aber es sind zugleich auch jede Menge andere Genre-Erzählmotive mit ihm Spiel, und alles scheint auf teils geheimnisvolle Weise zu interagieren.
Autor Stephen Greenall bricht die Strukturen des (“Krimi”-) Erzählens auf, zugleich ist dies Gebrochene, eben die Explosion, ein großes Fest des Erzählens, auch sprachlich. “Winter Traffic” ist ein Roman, der auf dem berühmten Grat zwischen Genie und Wahnsinn seine ganz eigene Form von Extremklettern betreibt. Und ein Roman, den man auf jeden Fall auch als Statement lesen kann – gegen das allzu Gemütliche und Geordnete und damit letztlich auch Bieder-Restaurative, das “Genre” bzw. “Krimi” in diesen Zeiten leider allzu oft ausmacht.
Stephen Greenall: Winter Traffic (2017). Deutsch von Conny Lösch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 492 Seiten, 16,95 Euro.

Manchester 1867
(jcs) Düster geht’s zu bei Ian McGuire und Der Abstinent. Das Buch fällt schon deshalb auf, weil es eines der ganz wenigen Hardcover ist, die der Verlag dtv auf den Markt bringt. Die Handlung führt uns nach Manchester zurück ins Jahre 1867, mitten hinein in die Auseinandersetzungen zwischen englischer Polizei und den „Fenians“, den irischen Unabhängigkeitskämpfern. Hauptfigur ist der irische Constable James O’Connor, der sich nach einem Schicksalschlag dem Whiskey hingegeben hatte. Mittlerweile ist O’Connar trocken und wurde vor neun Monaten von Dublin, wo er einst als der schlaueste Kopf der ganzen Stadt galt, nach Manchester versetzt. Hier ist er den permanenten Sticheleien und dem Misstrauen der englischen Kollegen ausgesetzt. Und die Lage spitzt sich immer weiter zu: Nach dem Mord an einem Polizisten soll ein Exempel statuiert werden – im Morgengrauen werden drei irische Rebellen gehängt. Doch zur Befriedung trägt die Abschreckungstat nicht bei – die „Fenians“ sinnen auf Rache: Manchester versinkt in einem Strudel aus Gewalt und Verrat, aus Rache und Vergeltung. Als Gegenspieler O’Connors entpuppt sich der amerikanische Ire Stephen Doyle, kampferprobter Veteran des US-Bürgerkriegs, der in Manchester einen blutigen Anschlag plant.
Nach dem historischen Abenteuerroman „Nordwasser“ (2016 / dt. 2018), der zu großten Teilen auf einem Walfänger spielt, bearbeitet der britische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ian McGuire hier wieder einen historischen Stoff, von Roddy Doyle in der New York Times Book Review gefeiert. Er nannte den Autor „einen Dickens für das 21. Jahrhundert“.
Ian McGuire: Der Abstinent (The Abstainer, 2020). Deutsch von Jan Schönherr. dtv Verlag, München 2021. Hardcover, 336 Seiten, 23 Euro.

Einblicke nicht nur in die Digitalwelt
(UN) Was Detailfreue und Detailgenauigkeit angeht, kann Chan Ho-Kei mit seinem neuen Roman Die zweite Schwester durchaus mit Merle Kröger und “Die Experten” konkurrieren, allerdings mit einer ganz und gar anderen Geschichte: Eine Schülerin hat sich aus dem Fenster gestürzt; ihre geschockte Schwester, einzig verbliebene Angehörige, versucht herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Sie wendet sich an einen Detektiv, der verweist sie an einen Hacker – mit dem sie dann das Leben der Schwester genau durchleuchtet, wobei sich jede Menge Überraschungen und Geheimnisse auftun, bis sich irgendwann die Frage stellt: Soll sie mit den gleichen Mitteln zurückschlagen, die – möglicherweise – zum Tod der Schwester geführt haben? Cybermobbing ist das Thema und die damit verbundene moralische Fragestellungen.
Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Denn Chan Ho-Kei erzählt und zeigt über Hunderte Seiten genau, was in digitalen Zeiten alles sichtbar und nachvollziehbar ist im Leben eines Menschen, wenn man fit ist und hinter die Fassade der digitalen Struktur schauen kann. Und was wie manipulierbar wäre. Es geht also andersherum auch darum, wie man möglicherweise dies oder das verbergen oder bewerkstelligen kann – und da sind wir dann bei der politischen Dimension dieses Romans, der erkennbar aktuelle Bezüge hat, Stichwort Demokratiebewegung: Chan Ho-Kei zeigt was Sache ist, versteckt das aber in seiner wirklich umfassenden, teils auch enervierend exakten Thriller-Story, schlägt der Zensur so also möglicherweise ein Schnippchen. Abgesehen davon: Die Wendungen, mit denen speziell im hinteren Teil des Buches der Thriller Fahrt aufnimmt, sind auch nicht von schlechtern Eltern.
Chan Ho-Kei: Die zweite Schwester. Übersetzt von Sabine Längsfeld. Atrium Verlag, Zürich 2021. Hardcover, 592 Seiten, 25 Euro.