Bücher, kurz serviert
Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF) und Alf Mayer (AM) über …
Ray Celestin: Höllenjazz in New Orleans
Dan Chaon: Der Wille zum Bösen
Ernst Dronke: Polizei-Geschichten
Frank Heller: Die Diagnosen des Dr. Zimmertür
Anthony Horowitz: Die Morde von Pye Hall
Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Joyce Carol Oates: Pik-Bube
Ruth Rendell: Die Tote im Pfarrhaus
Thomas Rydahl: Der Einsiedler
Gordon Tyrie: Todesströmung
Antonin Varenne: Äquator
Andy Weir: Artemis
True Crime, anno 1846
(AM) „In dem Kriminalgefängnis zu B. erhängte sich vor einiger Zeit ein Gefangener, der nach den Aussagen des Arztes und des Gefängniß-Inspektors an Schwermuth gelitten hatte. Diese Geschichte dieses Unglücklichen, welche wir dem Leser hier erzählen, ist ein vollkommen wahres Ereigniß…“ So beginnt die Geschichte „Armuth und Verbrechen“, die Ernst Dronke als erste in seinen Polizei-Geschichten aus dem Jahre 1846 erzählt. Wiederaufgelegt jetzt bei Walde + Graf, die alte Orthographie vorsichtig beibehalten, ist dieser kleine Band ein wichtiger Eckstein in jenem Genre, das wir „True Crime“ nennen.
Ernst Andreas Dominicus Dronke (1822-1891) aus Koblenz war Schriftsteller, Publizist, Vormärzliterat, Frühsozialist, wurde dann Kaufmann. Er promoviert als Journalist, arbeite eine Zeitlang mit Friedrich Engels und Karl Marx. Seiner kommunistischen Tendenzen wegen wurde er aus Berlin ausgewiesen, auch aus Leipzig, er emigrierte in die Schweiz, dann nach England. Sein Buch „Berlin“ von 1846 war das Röntgenbild einer Gesellschaft während der frühen Industrialisierung, gerichtet auch gegen die damals grassierende Mode der Geheimnis-Romane, in denen die „Nachtseiten der Gesellschaft“ nur als pittoreske Feuilleton-Unterhaltung dienten (Textauszug hier). Das Buch brachte ihm zwei Jahre Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung, Beleidigung des Berliner Polizeipräsidenten und Kritik an den Landesgesetzen ein.
Seinen auf wahren Begebenheiten beruhenden „Polizei-Geschichten“, die er selbst Sozial-Novellen nannte, sind eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme, sie zeigen, dass jeder Gesetzesverstoß und jedes Verbrechen Hintergründe haben. Und sie zeigen spannungsreich die Folgen staatlicher Willkür. „Diese Blätter“, schreibt er in der Vorrede zur Erzählsammlung „Aus dem Volk“, “ haben eine ,Tendenz‘ zu Grunde: die der Wahrheit. Aber ich habe diese Novellen nicht geschrieben, um ,Novellen zu schreiben‘: ich geize nicht nach der Ehre ,Belletrist‘ zu sein.“ Seinen Stoff habe er „nur deshalb in das Gewand der Novelle gekleidet, weil in dieser Form der Nachzeichnung des wirklichen Lebens die Wahrheit jener Verhältnisse am deutlichsten und sprechendsten vor die Augen tritt und dadurch weiter als abstrakte Abhandlungen wirkt“.
Friedrich Engels schrieb 1847: „Herr Ernst Dronke hat sich durch die Erfindung einer neuen Dichtungsart dauernde Verdienste um die deutsche Literatur er worben. (…) In jedem Paragraphen steckt ein Roman, in jedem Reglement eine Tragödie. Herr Dronke, der als Berliner Literat selbst gewaltige Kämpfe mit dem Polizeipräsidio bestanden, konnte hier aus eigner Erfahrung sprechen.“
Ernst Dronke: Polizei-Geschichten. Sozial-Novellen. Walde + Graf, Berlin 2018, 192 Seiten, 18 Euro.
Untergegangen (1): Landschaft als Seelenzustand
(AM) Die Frauen sind die wahrhaft Zähen in diesem Buch zwischen allen Stühlen, seit der Begriff Abenteuerroman aus der Mode ist. Antonin Varenne gibt dem Genre mit Äquator einen neuen Schub, nimmt jedoch eine andere Richtung als in „Die sieben Leben des Arthur Bowman“ (CrimeMag-Kritik von Tobias Gohlis hier). Auf diesen Schlächter, Soldaten und Detektiv gibt es immer wieder Referenz, einmal heißt es zu ihm: „Ich kenne den Krieg, ich weiß, dass sich die Menschen, sobald sie eine Waffe in der Hand halten, nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Man gibt ihnen ein Gewehr, und schon sind sie keine Farmer mehr, keine Familienväter, keine Kunsthandwerker und Ingenieure, nur noch Soldaten der großen Lüge: Es gibt keine Grenzen, der Krieg reißt sie ein. Statt uns zu schützen, sperren sie uns ein in unseren Krieg gegen uns selbst.“
Pete Ferguson aus Nebraska, Kinder-Deserteur im amerikanischen Bürgerkrieg, Dieb und Brandstifter, will dem Krieg entkommen, flieht mit seinem kleinen Bruder Oliver quer durch Amerika, wird Bisonjäger, kommt bei wandernden Komantscheros unter, gerät in eine Revolution in Guatemala, strandet in Guayana, landet in einem Dorf voller Frauen, zieht durch die Urwälder Brasiliens, kommt dem auf seine Haut tätowierten Sehnsuchtsziel immer näher: dem Äquator, wo alles auf dem Kopf steht und sich angeblich alles in sein Gegenteil verkehrt.
Weltbild 1871, Abenteuerroman 2018. Mitte März bei uns erschienen, trotz des guten und großen Namens, den Varenne bei der hiesigen Kritik genießt (TW hier), so gut wie noch nirgends besprochen. Ein Buch der Ruhelosigkeit und Sehnsucht, das Panorama einer Welt zwischen Archaik und Moderne. „Wir sind merkwürdige Pioniere“, heißt es einmal, „weil wir kein Land suchen.“
Antonin Varenne: Äquator (Équateur, 2017). Aus dem Französischen von Michaela Meßner. C. Bertelsmann Verlag, München 2018. 428 Seiten, 20 Euro.
Die Vergangenheit ändert sich dauernd
(AM) „Literarischer Thriller“ sagt sich so oft, dieser hier ist es. Für mich eines der Bücher des Jahres. Dunkel, verstörend, aufregend innovativ erzählt, not your normal Serienkiller-Möchtegern. Der Wille zum Bösen ist das sechste Buch von Don Chaon, einem ausgewiesenen Literaten (Pushcart und O’Henry Prize uvm.), fünf Jahre hat er daran gearbeitet. Die 622 Seiten sind eine Erfahrung: schnelle, oft nur eine Seite lange Kapitel, eine Handvoll Erzählperspektiven, dazu E-Mails, Text- und Telefonnachrichten, Tagebuchauszüge, manchmal zwei- oder gar dreispaltiger Text. Elf Kapitel zwischen 1978 und 2014, die Zeitlinien wie von einem äußerst souveränen Filmcutter montiert, Tempo und Erzählfluss pulsierend, überhaupt vieles körperlich, sinnlich. Flackernde Bilder hinter den Augenlidern. Das Erinnern selbst und die Bilder der Vergangenheit, wie sie flirren und täuschen, macht Dan Chaon zum Thema. Motto: „Die Zukunft ist festgelegt. Die Vergangenheit ändert sich dauernd.“
Ein großer und ein kleiner Bruder, Eltern und Onkel und Tante in einem satanischen Ritual ermordet, als er 13 war, der größere Bruder aufgrund seiner Aussage verurteilt, nach 30 Jahren durch eine DNA-Probe vom Mordvorwurf frei und aus dem Gefängnis entlassen, das ist das Packet, das Dustin Tillman trägt. Er ist Psychologe geworden, ihn quält, wer seine Eltern ermordet hat. Ein manischer Polizist, seit Jahrzehnten einem Serienmörder auf der Spur, dessen Opfer scheinbar bei Unfällen ertrinken, verstärkt das Schuldgefüge. Chaon, der selbst ein Adoptivkind ist, treibt die Familienpathologie ins fast Unerträgliche. Seine Figuren sind allesamt beschädigt, sie leben ihre Leben wie in Kleidern von Fremden. Träumst du immer noch? Oder immer noch nicht?
„Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der einzige Sinn“ (Laotse), lautet das Motto eines der Kapitel.
Dan Chaon: Der Wille zum Bösen (Ill Will, 2017). Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze. Heyne Verlag, München 2018. 622 Seiten, 14,99 Euro.
Metafiktion (1): Der Alb der Perversheit
(AM) Ihr Magnum opus „A Book of American Martyrs“, im Juli 2017 erschienen, hat 752 Seiten und seziert die bigotte amerikanische Gesellschaft anhand der Ermordung eines Abtreibungsarztes. Im Vergleich dazu ist Pik-Bube (Jack of Spades, im Original, von 2015) eine Etüde. Aber ebenfalls eine Vivisektion. Die eines Autors. Schön, dass der Verlag Droemer dafür ein Hardcover spendiert.
Wie Elmore Leonard es zeitlebens tat, schreibt auch die inzwischen 80jährige Joyce Carol Oates ihre Bücher von Hand. Sie ist eine unglaublich produktive Autorin, „die mit ihren mehr als 50 Romanen und Erzählungen sowie Hunderten Kurzgeschichten und Essays ohnehin überholte, aber immer noch stehende Mauern zwischen sogenannter ernster Literatur und Genreunterhaltung einreißt“ (Marcus Müntefering, seine Kritik zum Buch hier).
„Pik-Bube“ ist ein metafiktionales Spiel mit den Identitäten eines Schriftstellers und mit dem Literaturbetrieb. Im Mittelpunkt: ein Unterhaltungsschriftsteller, erfolgreich, aber mit literarischem Minderwertigkeitskomplex. Es gibt eben zwei Arten von Anerkennung, die kommerzielle ist nur eine davon. Als Alter Ego unterhält er ein Pulp-Literatur schreibendes Pseudonym namens „Pik-Bube“ – mit Titeln wie „Prepostmortem“, diesen Teil der Identität hält er sogar vor der eigenen Familie geheim. Als eine Plagiatsklage ins Haus hagelt, zersplittert die Fassade. Es folgt der Abstieg in Edgar-Allen-Poe-haften Wahnsinn. „Wir stehen am Rand eines Abgrundes. Wir starren in den Schlund, uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir“, zitiert das Motto aus Poes „Der Alb der Perversheit“.
Oates, die selbst einmal eine Plagiatsklage erlebte, ist gestandene Autorin genug, ihre ergebnisoffene Moritat entlang der Persönlichkeit von Stephen King zu schreiben, der die Sache mit den Pseudonymen und Plagiaten ebenfalls kennt und selbst schon zu den Sujets Schriftsteller- und Leserwahn und Ein-Autor-schreibt-über-einen-Autor-der-über-einen-Autor-schreibt Bücher verfasst hat, etwa „Stark – The Dark Half“.
Ein Dutzend Psychothriller hat Oates als Rosamond Smith und Lauren Kelly veröffentlicht und bekannt, „dass es eine Befreiung sei, unter Pseudonym zu schreiben, weil neue Kreativität daraus entstehen könne, wenn man sich von den Bürden seiner schriftstellerischen Identität und den daran geknüpften Lesererwartungen befreie“ (Marcus Müntefering). Dass so etwas auch seine Gefahren hat, demonstriert dieser Roman.
Joyce Carol Oates: Pik-Bube (Jack of Spades, 2015). Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla. Droemer Verlag, München 2018. 208 Seiten. 19,99 Euro.
Abschied mit traditionsreichem Titel
(JF) Zwischen 1964 und 2013 hat Ruth Rendell (1930 – 2015) ihren Serienhelden, Chief Inspector Reginald Wexford mehr als zwei Dutzend Fälle lösen lassen. 24 Romane und eine Handvoll Kurzgeschichten zeugen davon. Bei seinem ersten Auftritt ( „From Doon with Death“, dt. „Alles Liebe vom Tod“) hatte Wexford bereits 52 Jahre auf dem Buckel. Alterten fiktive Ermittler wie wir Normalsterblichen, müsste er seinen letzten Fall, der unter dem traditionsreichen Titel Die Tote im Pfarrhaus jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, als Hundertjähriger aufklären. Doch in der Welt der seriellen Kriminalisten gelten andere Gesetze. Zwar befindet sich Wexford inzwischen im Ruhestand, seinem Freund Mike Burden aber, der nun den Posten seines früheren Vorgesetzten innehat, kann er noch immer vorführen, dass ein guter Ermittler vor allem die Kunst des Zweifels beherrschen sollte. Andererseits ist der Mord, bei dessen Aufklärung der alte Fuchs mithelfen soll, eine verzwickte Angelegenheit.
Eine Pfarrerin ist erwürgt worden, und da es sich um eine moderne Vertreterin ihres Standes, die zudem noch einen indischen Vater hatte, handelt, gibt es reichliche Motive. Puren Rassismus zum Beispiel. Oder die verletzten religiösen Gefühle konservativer Gemeindemitglieder. Aber vielleicht steckt auch eine Familientragödie dahinter. Schließlich hinterlässt Sarah Hussain, so hieß die Ermordete, eine Tochter, deren Vater unbekannt ist. Aus all diesen Möglichkeiten hat Ruth Rendell einen ziemlich windschiefen Plot gebastelt, der (wie schon der deutsche Titel) auf ungute Weise an die Fälle einer Miss Marple oder eines Hercule Poirot erinnert.
Man muss der Autorin allerdings zu Gute halten, dass sie sich für die Krimihandlung eigentlich nicht besonders interessiert. Ihr geht es vielmehr darum, aktuelle gesellschaftliche Konflikte, wie sie sich beispielsweise im Streit um eine politisch korrekte Ausdrucksweise zeigen, zu thematisieren. Wexford ist ein alternder weißer Mann, der sich, im Unterschied zu dem in früheren Romanen eher konservativ bis reaktionär auftretenden Burden, immer als liberal verstanden hat, aber nun nicht mehr sicher ist, wie er sich verhalten soll. Oft scheint es so, als ob er seine (symptomatische) Lektüre von Edward Gibbons „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ nur widerwillig unterbrechen würde, um mit den Ermittlungen fortzufahren. Das liest sich schon im Original nicht besonders vergnüglich und wird in der ungelenken deutschen Übersetzung sehr, sehr anstrengend. Wenn man beispielsweise das nicht sehr gebräuchliche englische Wort „farrago“ als „Allerlei“ wiedergibt, was natürlich nicht ganz falsch ist, muss man sich über einen weitgehend sinnfreien Dialog nicht wundern, in dem Burden seinen ehemaligen Vorgesetzten fragt, was „eigentlich ein Allerlei“ sei. Und man könnte auch wissen, dass die „Sixth Form“ keine „sechste Klasse“, sondern die zweijährige Oberstufe an britischen Schulen ist.
Schade! Reginald Wexford und seine Erfinderin hätten einen würdigeren Abschied vom deutschen Buchmarkt verdient.
Ruth Rendell: Die Tote im Pfarrhaus. Ein Inspector-Wexford-Roman (No Man’s Nightingale, 2013). Aus dem Englischen von Karin Dufner. Blanvalet Verlag, München 2018. 352 Seiten, 18,00 Euro.
Metafiktion (2): Hinaus aufs Land
(AM) Geradezu idealtypisch steht Anthony Horowitz mit Die Morde von Pye Hall neben „Pik-Bube“ von Joyce Carol Oates. Beides sind sie erfahrene Autoren, beide haben sie Lust auf Metafiktion, beide haben sie sich den gleichen Plot ausgesucht: das Buch im Buch & die „Ich bin viele“-Identitätlichkeiten eines Schriftstellers. Genre-Reflektion, spielerisch. Joyce Carol Oates suchte sich Pulp & Horror als Spiegelfläche, Anthony Horowitz nimmt Urlaub auf dem Lande. Es ist ein Ausflug in die Welt von Agatha Christie. Avantgarde darf man hier nicht erwarten. Viel diebisches Vergnügen aber schon, „Magpie Murders“ heißt das Buch im Original, auch Autoren sind wie Elstern und stiebitzen überall.
„Ich finde, ein guter Krimi ist nicht zu schlagen: die überraschenden Wendungen, die Spuren und falschen Hinweise und schließlich die Auflösung, bei der uns in allen Einzelheiten erklärt wird, was eigentlich los war, und man sich wundert, warum man nicht selbst darauf gekommen ist. Das war es, was ich erwartete, als ich mit der Lektüre begann“, heißt es programmatisch zu Beginn. Horowitz, der bereits Sherlock Holmes und dessen Gegenspieler Moriarty in zwei Hommagen aufleben ließ, lässt sein Buch von der Krimilektorin Susan Ryland erzählen. Seit vielen Jahren betreut sie den unleidlichen Schriftsteller Alan Conway, der sich und sein Talent an Genreliteratur verschwendet sieht. Als Conway kurz nach Abgabe der unvollendeten achten „Atticus Pünd“-Folge unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, sucht die Lektorin sowohl nach Mörder wie Romanende. Dies im Dekor des „goldenen Zeitalter“ des englischen Kriminalromans, und das auf über 600 Seiten. Je nach Vorlieben wird man hier schwelgen oder leiden.
Oder sich von Betrachtungen unterhalten lassen, etwa warum sich gerade englische Dörfer so besonders für Mordfälle eignen. Ein Selbstversuch der Erzählerin bringt Aufklärung: „Für jeden Freund gewinnt man drei Feinde. Alle sind ständig bereit, sich an die Gurgel zu gehen. Gefühle, die sich in der Großstadt schnell in Luft auflösen, können rund um den Dorfplatz jahrelang gären. Es wimmelt nur so von Gewalt und Psychosen. Für Krimiautoren ein Festmahl.“
Anthony Horowitz: Die Morde von Pye Hall (Magpie Murders, 2016). Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. SuhrkampVerlag, Berlin 2018. 605 Seiten, Hardcover, 24 Euro.
Schwerpunkt Rebellenherrschaft
(AM) Nun, bei all dem Aufwind, in dem Irland in der crime fiction segelt – siehe etwa vor kurzem bei uns Roland Oßwald über Adrian McKinty – kann ein wenig vertiefter Background nicht schaden. Niall Ó Dochartaigh erklärt in der Studie „Wir brauchen dein Auto, bitte“ das komplexe, von Zwang, Loyalität und Unterstützung geprägte Beziehungsgeflecht, das die IRA in ihren Hochburgen zur katholischen Bevölkerung unterhielt, und erklärt, warum deren Aktivisten Autos zwar mit vorgehaltener, aber ungeladener Waffe rekrutierten.
Wir sind auf dem Terrain der Rebellenherrschaft. So lautet das Schwerpunktthema der neuen Ausgabe von Mittelweg 36, der uns regelmäßig Achtung abnötigenden Zweimonats-Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Das Heft schweift von Somalia bis Syrien, von Mexiko bis Libyen oder von der Ukraine bis El Salvador – es mangelt nicht an Beispielen, die belegen, dass es mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in bestimmten Weltregionen nicht weit her ist, von seiner Legitimität ganz zu schweigen. Politikwissenschaftlich wird das unter „Rebel-Governance“ diskutiert, die Forschung zur sozialen Wirklichkeit in den vom Staat aufgegebenen oder seinem Zugriff entzogenen Gebieten hingegen steckt noch in den Anfängen. Dabei wird schon jetzt sichtbar, dass in den betreffenden Räumen eingeschränkter Staatlichkeit nicht das nackte Chaos regiert, sondern neue Formen von sozialer Ordnung entstehen, die zwar auf Gewalt beruhen, aber deshalb nicht vollkommen regellos und illegitim sind. Teije Hidde Donker etwa hat in den zwischenzeitlich von Aufständischen kontrollierten Gebieten Syriens festgestellt: „Verwaltung sticht Religion.“ Und Janina Pawelz zeigt uns den nur auf den ersten Blick paradoxe Zusammenhang von „Fürsorge und Terror“ anhand den Formen der Gangherrschaft in den Armenvierteln von Trinidad und Tobago, wo Kriminelle zu sozialen Dienstleistern avancieren und Vorbildfunktionen übernehmen.
Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: Rebellenherrschaft. 27. Jahrgang, Heft 2, April/ Mai 2018. 112 Seiten, 9,50 Euro.
Untergegangen (2): Jack the Ripper in New Orleans
(AM) An Aufmachung und Ausstattung kann es nicht liegen. Ray Celestin und sein Höllenjazz in New Orleans kommt hochwertig daher, ist mit 512 Seiten eine Wuchtbrumme an Buch, aber von der Krimikritik besprochen wurde es seit Erscheinungsdatum 1. März so gut wie nicht. 2014 hatte es dafür in England den John Creasey (New Blood) Dagger der britischen Crime Writer’s Association (CWA) für Best First Novel gegeben, „The Axeman’s Jazz“ stand auf den Bestsellerlisten. Vielleicht liegt jetzt im Frühjahr von „Berlin Babylon“ der Sündenpfuhl New Orleans Babylon zu weit weg. Keine Ahnung. In einem Markt, der an Überflutung leidet – siehe deshalb unsere neue CrimeMag-Rubrik „Schatzsuche“ mit ausgewählten Neuerscheinungen -, gehören solche „Robbenbabies“ wohl dazu. Dabei ist dies hier gewiss nicht das schlechteste Buch der Saison.
Der Brite Ray Celestin hat ausgiebig recherchiert. Den „Axeman von New Orleans“ gab es wirklich – Julie Smith hat in den 1990ern das Material bereits einmal genutzt -, zwischen Mai 1918 und Oktober 1919 ermordete er ein Dutzend Menschen, hatte 1911 bereits zugeschlagen. Er kam Nachts, durch die Hintertür, drang in die Schlafzimmer ein, attackierte mit einer Axt. In der Stadt des Aberglaubens und des Voodoo wucherten Theorien, Ängste und Gerüchte, zumal der Serienmörder sich in einem Bekennerschreiben einmal wie ein übernatürliches Wesen beschrieb und als Absender „from hell“ (aus der Hölle) angab. Er wurde nie gefasst.
Ray Celestine lässt dreigleisig ermitteln. Da gibt es den Polizisten Michael Talbot, ferner die neunzehnjährige Ida Davis, Sekretärin bei der Pinkertons Detektivagentur und beste Freundin von Louis Armstrong, sowie den gerade aus dem Gefängnis gekommenen Ex-Polizisten und Mafioso Luca d’Andrea. Louis Armstrong gibt Gastauftritte als junger Hornist. Celestines multinationales New Orleans, ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg, ist ein, wie Amis sagen, „truly nasty place“: Korruption, Rassismus, organisiertes Verbrechen und die neue „schwarze“ Musik von Jazz & Blues. Viele der hier gespielten Noten sind schönes Noir. Die Erwähnung eines gewissen Alphonse Capone im Epilog deutet auf eine Fortsetzung. Die gibt es, hoffen wir, irgendwann auch auf Deutsch. „Dead Man’s Blues“ führt Talbot, Ida und Armstrong in Al Capones Chicago der 1920er…
Ray Celestin: Höllenjazz in New Orleans (The Axeman, 2012). Aus dem Englischen von Elvira Willems. Piper Verlag, München 2018. 512 Seiten, Klappenbroschur, 16 Euro.
Insel-Etüde (1): Fuerteventura
(AM) Wie Ray Celestin im Monat März erschienen und bisher nicht gerade mit Rezensionen zugeschüttet, das ist Der Einsiedler des Dänen Thomas Rydahl. Ein Erstlingsroman, sogleich mit dem Glass Key Award der Scandinavian Crime Society bedacht, bei uns als Hardcover erschienen, stattliche 607 Seiten dick – und nicht der übliche Skandi-Krimi. Zum einen spielt der Roman auf Fuerteventura, zum anderen ist der „Ermittler“ nun wirklich kein richtiger Detektiv. Erhard Jorgenson, 67, seit 17 Jahren aus Dänemark verschwunden, hat nur noch neun Finger (ein sonderbarer McGuffin, der sich durch das Buch zieht), lebt in einer einsamen Hütte mit zwei Ziegen zur Gesellschaft, ernährt sich aus Dosen.
Qualifiziert ihn das aber als Einsiedler, wenn er doch gleichzeitig Taxifahrer ist und Pianos stimmt, bei den Eingeborenen wohl bekannt und fast schon selbst einer geworden ist? Nun gut, exzentrisch genug jedenfalls ist dieser seltsame Insulaner. Und wie er es mit allem hält, slow down your life, so lässt auch das manchmal nach Sand und Meer schmeckende Buch sich jede Menge Zeit, gibt es viele schöne genaue Beobachtungen des alltäglichen Umgangs oder Nichtumgangs miteinander.
Als ein Auto mit einem toten Baby am Strand gefunden wird, in eine dänische Zeitung gewickelt, und die Behörden die Sache zu vertuschen suchen, um den Tourismus nicht zu beeinträchtigen, erwachen Erhards investigative Gelüste. Er ist ein Ermittler ohne Technik, buchstäblich, hat von Computern keine Ahnung oder Mobiltelefonen. Oder von Methodik. Eine von der Polizei verdächtigte Prosituierte entführt er und hält sie in Ketten, um von ihr mehr zu erfahren, und das ist erst der Anfang seines sonderbaren Tuns und dieser melancholischen Studie in Korruption. Eigentlich als Strandlektüre bestens geeignet, das ist hier nicht abschätzig gemeint.
Thomas Rydahl: Der Einsiedler (Eremitten, 2015). Aus dem Dänischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob. Heyne Encore, München 2018. 607 Seiten, 23 Euro.
Fly me to the moon
(AM) Zu den vier Kartenausschnitten am Anfang wird man öfter zurückblättern. Sie zeigen eine Siedlung am Fuß der Moltke-Berge im Mare Tranquilitatis, die Umgebung des Apollo-11-Besucherzentrums, die fünf Kuppeln von Artemis und eine Aluminiumhütte samt Reaktoren. Mit hundert Kilo Gerätschaften am Körper hüpft die Erzählerin in ihrem Raumaufzug buchstäblich in die Handlung und auf eine Luftschleuse zu. Wir sind auf dem Mond, am Ende unseres Jahrhunderts. Es wird nicht lange gefackelt.
Jazz Bashra, 26, eine säkulare Muslimin saudi-arabischer Herkunft, lebt seit ihrem sechsten Lebensjahr in der ersten und einzigen Stadt im Weltall, in Artemis. Es ist ein Touristenmagnet für Erdenbürger, alle Ressourcen knapp für die Bewohner. Jazz verdient ihr Geld als Schmugglerin, um sich ihre nur sarggroße Behausung leisten zu können. Sie spart und trainiert darauf, Mitglied der „Extravehicular Activity Guild“ (EVA) zu werden, um Mondausflüge anführen zu können. Die Anfangssituation im Buch, das klärt sich schnell, ist ein Training, sich draußen in der feindlichen Mondatmosphäre behaupten zu können.
Ein kleiner Auftrag bringt Jazz mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung, daraus entwickelt sich eine caper novel im Weltall – mit zusammengewürfeltem Team und all den Zutaten, die wir von der Erde kennen. Unterm Strich nichts Neues unter der Sonne, aber man lernt Wichtiges zum Beispiel über das Schweißen in der Mondatmosphäre und sonstige extraterrestrische Survivalkünste.
Andy Weir landete mit „Der Marsianer“ einen Mega-Bestseller – in der Kategorie „Unterhaltung“ 2015 als „Wissensbuch des Jahres“ ausgezeichnet, mit Matt Damon in der Hauptrolle verfilmt von Ridley Scott -, der als Fortsetzungsgeschichte auf seiner privaten Webseite begann, geschickt das Schwarm-Wissen seiner Leser nutzte und es verstand, wissenschaftliche Fakten in die Suspense-Story eines alleine auf dem Mars zurückgelassenen Astronauten zu integrieren. Weir war damit auch ein Hoffnungsstern für die Verlage, sich aus den Sternschnuppen im Selbstverlegerkosmos erfolgreich bedienen zu können. Für sein zweites Buch stand ihm ein voller Verlagsapparat zur Verfügung, Testleserinnen inklusive, die ihm die Stimme und Perspektive seiner Erzählerin begutachteten. Mir haben sich trotzdem manchmal die Zehennägel gekrümmt, manche der Witze erreichen nur pubertäres Niveau. Weir schreibt hemdsärmelig, Flüche inklusive, literarisch ist das Buch kein Vollmond.
In einem Porträt der „New York Times“ gab Weir zu Protokoll, dass seine Geschichten garantiert nichts mehr als eskapistisch seien. „Kein Subtext, keine Botschaft. Wenn Sie denken, dass Sie da etwas sehen, ist es nur in Ihrem Kopf, nicht in meinem. Ich will nur, dass Sie Spaß beim Lesen haben.“
Andy Weir: Artemis (Artemis, 2017). Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowki. Heyne Verlag, München 2018. Paperback, Klappenbroschur, 432 Seiten, 15 Euro.
Insel-Etüde (2): Isle of Jura
(AM) Rüge!, wollte ich schon schreiben, weil ich weder im Impressum noch auf dem Schmutztitel Übersetzer oder Originaltitel dieses auf der Isle of Jura, also in Schottland spielenden Thrillers fand. „Zur Autorin“ linkt die Verlags-Website, dort aber heißt es dann: „Gordon Tyrie, geboren 1966 in der schottischen Grafschaft Renfrewshire, wuchs auf einer Farm auf und wollte ursprünglich Tierarzt werden. Er hat Jura studiert und als Gerichtsreporter gearbeitet, bevor er mit dem Schreiben begann. Todesströmung ist sein erster Roman.“ Als ich meine Presse-Information zu Rate zog, fand ich dort: „Gordon Tyrie ist das Pseudonym eines deutschen Krimi-Autors.“
Nun denn. Mögen die Spiele beginnen. Friedrich Ani ist es nicht, auch nicht Andreas Pflüger, Frank Göhre oder Oliver Bottini. „Schräge Typen, stürmische Atmosphäre und schwarzer Humor … ein ungewöhnlicher Insel-Thriller … ein gekonntes Spiel um Moral und Menschlichkeit“ würde mich erwarten. Als alten Scharfschützen nahm mich der Beginn von Kapitel 5 positiv ein: „Hynch war kein Zielfernrohrjunkie wie so manche Irakkriegrückkehrer (woah, was’n Wort!, vier Ks, vier Rs), denen schon einer abging, wenn sie lange genug durch das Visier blickten und ihre Ziele beobachteten. Die konnten nicht mehr unter Leute gehen, ohne alles und jeden nach Scharfschützenkriterien zu scannen.“
Der Plot: Nachdem sie einen Job versaut haben, bleibt drei Glasgower Auftragskillern nur die Flucht – und zwar auf die karge Hebriden-Insel Jura, sie tarnen sich als Outdoor-Touristen. Das fliegt auf, die Einwohner zeigen sich gesprächsbereit, schließlich gilt es zu verhindern, dass ein Milliardär die Insel in einen Golfclub verwandelt… Nun ja.
Es gibt viel Inselinfo, die Falklands inklusive, den strudelnden Hexenkessel Corryvreckan im Jura-Sund als Zugabe. George Orwell, erfahren wir, war dort einmal in Seenot geraten. Die Wogen rissen ihm den Außenbordmotor ab, beinahe wäre er mit seinem dreijährigen Adoptivsohn ertrunken, überlebte mit Müh und Not. Am Schluss liegt Hynch dann doch wieder auf einer Microfaserdecke und blickt durch ein Zielfernrohr.
Gordon Tyrie: Todesströmung. Droemer Verlag, München 2018. 377 Seiten, 14,99 Euro.
Old Crime, zirka 1927 – oder: Des Kaisers alte Kleider
(AM) Er war der erste Schwedenkrimi-Autor: Frank Heller, eigentlich Martin Gunnar Serner (1886 – 1947), sein Leben selbst ein Kriminalroman. Englische Literatur studiert, promovierte er über den viktorianischen Dichter Algernon Charles Swinburne, der sich Themen wie Sadomasochismus, lesbischen Phantasien, Todessehnsucht oder anti-christlichen Einstellungen gewidmet hatte. Das schien nicht einträglich, nach einigen Betrugsversuchen wurde er als Verbrecher gesucht, floh aus seiner Heimat, legte sich unter anderen das Pseudonym Frank Heller zu, verlor das ergaunerte Geld beim Glücksspiel in Monte Carlo, begann in der Not – ein wenig wie Namensvetter Walter Serner – seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller zu verdienen. Einige seiner Geschichten waren teilweise autobiographisch angelegt.
Die deutschen Literaten liebten ihn, Tucholsky war so begeistert, dass sein Zitat immer noch verwendbar ist (siehe den Buchumschlag). Die Diagnosen des Dr. Zimmertür von Frank Heller erschienen erstmals 1927. Der bei Walde + Graf wiederaufgelegte Band enthält sieben Kriminalgeschichten. Ihr Held: ebenjener in Amsterdam eigentlich als Psychoanalytiker tätige Doktor Joseph Zimmertür, dem oft Literaturzitate von Ovid bis Shakespeare und Baudelaire auf die intuitiven Sprünge helfen. Golden Age, also, des Kaisers alte Kleider (so ein Heller-Buch). Der Band ist auch für jene geeignet, die immer noch Stiche aus dem 19. Jahrhundert zur Illustration ihrer Krimimagazine verwenden (hallo, Tante „Zeit“) oder Rezensionen anfangen mit: „Ich lese ja keine Krimis.“
Frank Heller: Die Diagnosen des Dr. Zimmertür. Kriminalgeschichten (zuerst 1927). Aus dem Schwedischen von Marie Franzos. Verlag Walde + Graf, Berlin 2018. 192 Seiten, Hardcover, 20 Euro.