Geschrieben am 1. März 2023 von für Crimemag, CrimeMag März 2023

Bloody Chops – März 2023

Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (sh), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW):

Max Bronski: Urs der Berserker
James Lee Burke: Angst um Alafair
Melisssa Ginsburg: Sunset City
Peter Grandl: Turmgold
Kathleen Kent: Der Weg ins Feuer
Jérôme Leroy: Die letzten Tage der Raubtiere
Joe R. Lansdale: Moon Lake
Thi Linh Nguyen, August Oetker: Die Schuld, die uns verfolgt

Ach, Frankreich … 

(TW) Frankreich wird gerade von neuen Corona-Varianten geplagt, eine unfassbare Hitzewelle mit vielen tausenden Toden quält das Land, Terroranschläge häufen sich und die Gewalt auf den Straßen wächst, die Wirtschaft befindet sich im Sinkflug, ein harscher Lockdown macht die Menschen wütend, Impfgegner werden immer militanter, die Reichen bunkern sich ein – mit anderen Worten: Jérôme Leroys neuer Roman „Die letzten Tage der Raubtiere“ verschiebt die Realitäten des Jahres 2021 nur um ein paar Kästchen auf dem Millimeterpapier der Wirklichkeit. Zudem stehen politische Veränderungen an: Die Präsidentin der Republik, Nathalie Séchard ist ausgebrannt und möchte lieber mit ihrem um zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber (ich muss nicht erklären, wo da der Gag liegt?) in Ruhe vögeln. Die potentiellen Nachfolger bringen sich in Stellung: Der alte reaktionäre Innenminister Beauséant und der grüne Umweltminister Manerville sind sich zumindest in einem Punkt einig: Agnès Dorgelles und ihr „Patriotischer Block“ (muss ich auch nicht erklären) müssen verhindert werden. Beauséant schreckt vor nichts zurück – und bald beginnt das Töten: Massaker, Attentate und beiläufiges Morden sowie False Flagg Aktionen gehören ganz selbstverständlich zum politischen Handwerkskasten. Und wir bangen besonders um Clio, Manervilles schöne Tochter, die zum Spielstein der Intrigen wird. Leroy seziert die politische Klasse seines Landes gnadenlos, süffisant, maliziös und präzise. Das ist erschütternd amüsant und bösartig unterhaltsam, ein ganz großer Wurf. 

Jérôme Leroy: Die letzten Tage der Raubtiere (Les derniers jours des fauves, 2021). Deutsch von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2023. Klappenbroschur, 396 Seiten, 24 Euro.

Exkursion in die Abgründe

(JF) „Nichts ergibt einen Sinn. Es ist wie eine Geschichte, die von jemand anderem für uns geschrieben wurde.“ Clete Purcel, Ex-Polizist, Privatdetektiv und Trunkenbold, hat recht. Was sich James Lee Burke für ihn und seinen Freund  Dave Robicheaux ausgedacht hat, ist mit herkömmlichen kriminalliterarischen Maßstäben nur schwer zu fassen. Trotz genrebekannter Ingredienzien. Ein Mordkomplott wird aufgeklärt und ein Serienmörder zur Strecke gebracht. Aber dieser Handlungsrahmen hält den zwanzigsten Teil der Robicheaux-Saga , wieder einmal ein Epos von weit mehr als 600 Seiten, nur notdürftig zusammen.

Der Ermittler aus New Orleans fordert das Böse heraus und kämpft gleichzeitig mit seinen eigenen Dämonen. Und zwar nicht auf heimischem Terrain, sondern in Montana, wo er mit Frau Molly, Tochter Alafair und Sidekick Purcel den Sommer auf dem Anwesen des aktivistischen Schriftstellers Albert Hollister verbringt. Hier herrscht der Ölmilliardär Love Younger, ein Selfmademan ohne Skrupel, dessen Enkelin entführt und ermordet wurde.  Als Täter käme der soziophathische Killer Asa Surrette in Frage, wäre dieser nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen. So scheint es zumindest, doch Robicheaux und Purcel haben begründete Zweifel.

Angst um Alafair  ist eine, als Kriminalroman getarnte, metaphysisch inspirierte Exkursion in die Abgründe der menschlichen Natur vor dem Hintergrund einer atemberaubenden, virtuos geschilderten Landschaft. Wer sich auf die Lektüre einlässt, sollte auf manche ästhetische Herausforderung gefasst sein. Aber es lohnt sich.

James Lee Burke: Angst um Alafair (Light of the World, 2013). Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 668 Seiten, 26 Euro.

Der Hardboiled-Polizeiroman hat einen neuen Namen

(AM) Das zweite Buch einer Reihe hat es in der Besprechungs-Hierarchie oft schwer, bleibt eher unbeachtet. Im Falle von Kathleen Kent und Der Weg ins Feuer wäre das ein schwerer Fehler. So hart und so frisch und heftig war schon lange mehr kein Polizeiroman, so anschaulich beschrieben fand ich die Folgen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) noch kaum. Schon bemerkenswert, dass es eine Frau ist, die uns zeigt, wie realitätstüchtig, poetisch und unverbraucht dieses Subgenre sein kann – während ein Jo Nesbø mit seiner neuesten 544-Seiten-Schlachtplatte namens „Blutmond“ wieder nicht auf Touren kommt.

Kathleen Kent – vom Herausgeber der Anthologie „Dallas Noir“ einst angefeuert, doch mal etwas Kontemporäres zu schreiben – versetzte für eine Kurzgeschichte eine polnisch-stämmige, lesbische Polizistin aus Brookly nach Dallas, Texas, Kulturschock inklusive. Diese Story war so gut, fett, frisch, neu und funkelnd, dass sie zum Nukleus von etwas viel Größerem wurde – nämlich zu einer Roman-Trilogie. Eine Figur zu erfinden, die ihre Schöpferin/ ihren Schöpfer so fasziniert, dass muss Autorenglück höchster Güte sein. Andreas Pflüger (der mit seiner Elite-Polizistin Jenny Aaron drei Ausnahme-Bücher schrieb) hat mir das glaubhaft versichert.

„Die Tote mit der roten Strähne“, US-Titel „The Dime“, Kathleen Kents erster Roman mit der ultra-toughen, lesbischen, rothaarigen Drogenfanderin Betty Rhyzyk war ebenso wie „The Burn“, der hier vorliegende Band, für den Edgar nominiert. Buch Nummer 2 treibt all die Härten noch tiefer in die Schatten. Das polnische Sprichwort „Wo der Teufel nichts mehr ausrichtet, schickt er eine Frau“ steht diesem Buch als Motto voran. Nach der Lektüre wissen Sie, warum.

Kathleen Kent: Der Weg ins Feuer (The Burn, 2020). Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Klappenbroschur, 360 Seiten, 16,95 Euro. – Siehe auch zu Betty Rhyzyk (1) bei uns: Ein Buch, zwei Stimmen. Sonja Hartl: Wahnsinn in Texas, und Alf Mayer: Viel Stahl in dieser Frau, in CrimeMag November 2011.

Sud und Sage

(rum) Immer wieder verschiebt sich für den Münchner Hotelier Urs Zobel die Wahrnehmung, liefert ihm im einen Moment hyperrealistische Szenen mit mikroskopischer Auflösung, Zeitsprüngen, Perspektivwechseln und ist im nächsten wieder so gewöhnlich, dass den Bildern stets schon Zweifel eingeschrieben sind. Seit Zobel von dem Fliegenpilzsud getrunken hat, den ihm ein dubioser Gast namens Igor daließ oder auch nicht, kann er sich auf seine Wahrnehmung verlassen und traut ihr doch nicht über den Weg. Beides ist wichtig, weil dieser Urs Zobel ein Trauma in sich trägt, das er lange gut vergraben hatte und das nun an die Oberfläche schießt. 

Zobel betreibt ein Hotel im Münchner Rotlichtviertel, dem allmählich die Gentrifizierung droht. Dennoch gibt es hier die alten Luden, die Siggi und Fritzi heißen, einen hilfsbereiten Haudraufundschluss namens Hansi und einen guten Geist in Zobels Haus, der sich gern mit Quantenphysik und anderen hochkomplexen Theorielabyrinthen beschäftigt, sie mit seinem Chef bespricht und damit dessen brüchig gewordene Wirklichkeit hinterfragt. 

Als vor Zobels Hotel ein Porsche über den Bürgersteig rast und mehrere Menschen tötet, meint er auf dem Beifahrersitz jenen Mann zu erkennen, der ihn Jahrzehnte zuvor gefangen gehalten hatte. Er war damals noch ein Jugendlicher, als seine Mutter und er während eines Urlaubs auf Sardinien gekidnappt und getrennt voneinander über Wochen festgehalten wurden. Er konnte sich selbst befreien, die Familienmitglieder indes gingen danach getrennte Wege. Urs übernahm von seinem Vater das Hotel und hatte sich mit seinem Leben arrangiert, bis der seltsame Gast den Pilzsud und die nordischen Sagen mitbrachte. Damit geriet bei Urs Zobel einiges in Bewegung. 

Nun ist dieser Urs ruhig, zurückhaltend, bedacht, geordnet, verschlossen, alles andere also als ein Berserker, wie sie in nordischen Heldenepen erstmals im 9. Jahrhundert beschrieben wurden, Krieger, die sich wahlweise nackt oder mit Fellen bekleidet schäumend vor Wut und scheinbar unempfindlich gegenüber jedweder Verletzung in den Kampf stürzten und damit bei ihren Gegnern mindestens ziemlich Eindruck hinterließen. Diesen Kontrast weiß Max Bronski in seiner gekonnt ineinander gefalteten, fein justierten und geschliffenen Geschichte zu nutzen. Zobels Wirklichkeit bekommt Risse, die Erinnerung wird durchlässig und er selbst weiß sich auch nicht mehr präzise einzuschätzen. Seit er von dem Sud getrunken hat (wobei die Forschung es inzwischen für unwahrscheinlich hält, dass die Normannen tatsächlich Fliegenpilzsud benutzt haben; stattdessen tippen Experten eher auf das Schwarze Bilsenkraut, das als Teechen getrunken und als Salbe auf der Haut verteilt wohl eine solche Wirkung erzielen könnte), kann  dieser Zobel plötzlich nachts angstfrei und behände über die Dächer seines Viertels huschen und sehr überzeugend sein. Aber es ist keine plumpe Rachegeschichte, die Bronski hier erzählt. Vielmehr möchte dieser Urs Zobel endlich Ruhe vor der Vergangenheit, die da so vehement in sein Leben drängt, er will Klarheit und die bringt ihm ausgerechnet ein Pilzsud – vielleicht auch nur ein Gedanke. Das lässt Max Bronski zum Glück im Dunkeln. 

Max Bronski: Urs der Berserker. Edition Nautilus, Hamburg 2023. 247 Seiten, 18 Euro.

Neues aus Ost-Texas

(TW) Joe R. Lansdale, der mit allen Genre-Wassern gewaschene Erzähler seines geliebten Ost-Texas´, lässt seinen Roman Moon Lake in den 1960er und 1970er Jahren spielen. Es beginnt mit einem Schock: Der Vater des damals 13jährigen Daniel Russell fährt sein Auto in (selbst-)mörderischer Absicht mitsamt Sohn von einer Brücke in den Moon Lake. Daniel entkommt wie durch ein Wunder, und kehrt, jetzt Journalist und Romancier, zehn Jahre später an den Ort des Geschehens zurück. Der Moon Lake war einst entstanden, als man – aus finsteren lokalpolitischen Gründen – die Kleinstadt Long Lincoln geflutet hatte, obwohl sich noch Einwohner:innen darin befunden hatten, die dadurch jämmerlich ersäuft wurden. Jetzt gibt   es gleich in der Nähe New Long Lincoln, und auch diese Stadt wird von derselben widerwärtigen Clique lokaler Geschäftsleute beherrscht, die neben ihrem üblen wirtschaftlichen Treiben, abscheuliche mörderische Rituale begehen. Mit Hilfe der schwarzen Polizistin Ronnie, einem Vietnam-Veteranen, einer tapferen, todkranken Lady und einem freundlichen, wenn auch ghoulartigen Wesen namens Winston räumt Daniel den Laden gründlich aus.

So heruntergebrochen ist die Geschichte topisch pur, ein Standard-Narrativ des Country Noir oder des Southern Gothic. Zudem lansdale-typisch mit spökenkiekerischen Elementen (der tote Vater besucht nächtens seinen Sohn Daniel) und einem kräftigen Schuss Splatter (die Unholde erfreuen sich an Garrotierungen) und Horror – ein Friedhof wird geplündert, Leichenteile werden neu sortiert und auf dem netten Ghoul tummeln sich herdenweise Ratten  wie ein lebender Mantel. Außerdem ist Lansdale verlässlich politisch korrekt und im Subtext aktuell: Er geißelt Rassismus, Homophobie und einen von jeglicher Ethik abgelösten Kapitalismus. Vom Southern Pride, dem Stolz auf die ehemalige Konföderation, der bei manchen Kollegen des Genres immer wieder unangenehm durchscheint, ist bei ihm nichts zu spüren. 

Die Erzählhaltung ist hardboiled, Romancier Daniel ist der Ich-Erzähler, sein Hauptstilmittel die ungewöhnliche, oft witzige, manchmal auch arg gesuchte Metapher: „… so unwahrscheinlich wie eine sprechende Taube, die mir ein Maisbrot-Rezept verriet“. Eine literarische Technik, die nicht nur für Schwung und Leichtigkeit sorgt, sondern mit ihrer Künstlichkeit auch die satirischen bis karikaturhaften Überzeichnungen besonders der Bösewichter trägt, und darauf hinweist, dass Lansdales Wurzeln in der Pulp Fiction liegen. Dadurch kann er prima klassischen Motive – das versunkene Long Lincoln ist eine Art Atlantis noir – und traditionellen Themen wie die vergiftete Kleinstadtidylle und den investigativen Journalisten, der zum Romancier wird, neues Leben einhauchen, sogar dann, wenn er hin und wieder damit herumalbert. Wer will kann natürlich auch die Geschichte von Daniel Russell als coming-of-age-Geschichte lesen, was ein weiteres Element zu dem eh schon vorhandenen Genre-Hybrid hinzufügen würde. Genau deswegen ist „Moon Lake“ ein so erfreulich gelungener Roman, weil er die Erkenntnis, dass Puritanismus in Genre-Fragen nicht unbedingt die kreativste Strategie ist, beispielhaft umsetzt. Klar auch: Joe R. Lansdale gehört zu den Großen. – Die Audio-Datei zur Radio-Fassung dieser Besprechung gibt es hier.

Joe R. Lansdale: Moon Lake (Moon Lake, 2021). Deutsch von Patrick Baumann. Festa Verlag, Leipzig 2022. 464 Seiten, 26,99 Euro.

Höllentour durch Houston, Texas

(JF) Die Geschichte spielt in Houston, Texas. Dort, wo es ganz finster ist. Wo harte Drogen konsumiert und Pornovideos fürs Internet gedreht werden. Eine junge Frau, die hier zuhause war, wird ermordet aufgefunden. Charlotte, einst ihre beste Freundin, versucht herauszufinden, was geschehen ist. Denn sie hat einen Verdacht. Danielle, das Mordopfer, kam aus einer wohlhabenden Familie, und es gibt jemanden, der von ihrem Tod profitiert. Doch zur erfolgreichen Amateurermittlerin taugt sie nicht. Die amerikanische Autorin Melissa Ginsburg denkt nämlich nicht daran, ihren Roman Sunset City als milieugesättigte Mördersuche zu gestalten.

Je mehr Charlotte über Danielle erfährt, desto stärker gerät ihr eigenes Leben, das sie gerade in den Griff zu bekommen schien, aus der Spur. Viel weißes Pulver, jede Menge Alkohol und Dialoge von teils schmerzhafter Banalität begleiten jeden ihrer Abstürze. Währenddessen ermittelt die Polizei in Gestalt des sympathischen Detectives Ash konsequent in die falsche Richtung, und letztendlich ist es doch Charlotte, die ohne eigenes Zutun auf die Wahrheit gestoßen wird. Was sie beinahe das Leben kostet. 

Sunset City liest sich wie eine Sightseeing Tour durch eine mittelmäßige Hölle, der jeder Halbweltglamour abgeht.  Doch die hat ein Ende. Und zwar im Supermarkt, wo Charlotte das zweifelhafte Glück der Normalität erwartet: „Ich legte Äpfel in meinen Einkaufskorb, Nudeln, Müsli, Joghurt, Käse und Brot.“

Melisssa Ginsburg: Sunset City (2016.) Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt. Polar Verlag, Stuttgart 2023. 214 Seiten, 17 Euro. – Ein Interview von Sonja Hartl mit der Autorin siehe hier nebenan in dieser Ausgabe.

Großes Blockbusterkino

(sh) Vor zehn Jahren wurde der Neonazi Steiner in einem alten Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg von einem Mossad-Agenten gefangen gehalten und gefoltert. Nun will er der Welt und seinen Kameraden zeigen, dass er sich nicht demütigen lässt – und nimmt mit seinem Neffen, dem Nachwuchs-Nazi Lutz, die Kinder und Erzieherinnen des jüdischen Kindergartens als Geisel, der mittlerweile in dem Turm untergebracht ist. Was Steiner nicht weiß: Unter dem Turm sind geheime Katakomben, in denen rechte Kräfte einen Nazigold-Schatz vermuten. 

Das ist der Ausgangspunkt von Turmgold, die Fortsetzung von Peter Grandls Überraschungserfolg „Turmschatten“. Abermals ist der Hochbunker – der Turm – in der Nähe einer bayerischen Kleinstadt der alles überragende und passende Handlungsort. Von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg als Schutzraum vor Luftangriffen gebaut, wurde er ersten Teil wurde er von dem Architekten Behrends auf Auftrag des ehemaligen Mossad-Agenten Ephraim Zamir zum High-Tech-Sicherheitsgebäude umgebaut. In „Turmgold“ wird er abermals zum Schauplatz einer Geiselnahme. Er verbindet die Figuren und Handlungsstränge – und symbolisiert die nationalsozialistische Vergangenheit und deren Kontinuitäten. Steiner – das macht „Turmgold“ eindrucksvoll klar – ist kein Einzeltäter. Schlägertypen wie er sind lediglich ein Teil eines dezentralen Gesinnungsnetzes mit vielen Ausprägungen und Ebenen. Weitere Teile sind Nationalsozialisten mit bürgerlichem Anstrich wie der Politiker Hessel: stolz auf seine preußischen Vorfahren, zieht er im Hintergrund der AfD die Fäden. Opportunisten wie der Architekt Behrends, der das Gold aufgespürt hat. Ex-Sicherheitsleute wie ehemalige KSK-Oberstabsfeldwebel Otterbach, der zusammen mit Ex-Bundeswehr-Angehörigen und Neonazis einen Umsturz plant. Aber auch reiche Unternehmer, die anonym Geld für illegale Aktionen bereitstellen. Sie kennen einander nicht alle persönlich, agieren oftmals unabhängig voneinander. Aber sie haben dasselbe Ziel: die Wiederkehr eines faschistischen Staats. Damit ist „Turmgold“ beeindruckend und erschreckend nah an der Realität. 

Engagiert schreibt Peter Grandl gegen Antisemitismus und Nationalismus an. Sprachlich ist das oft schlicht und manchmal auch klischeehaft – da erfüllt eine Stimme ein „Herz mit Wärme“, wird einem Ex-Neonazi „schmerzhaft“ klar, dass er ein „kaltblütiges Monster“ ist. Aber die Handlung trägt diesen spannenden Unterhaltungsroman über weite Strecke. Grandl ist Drehbuchautor, das merkt man der geschickten Dramaturgie des Buchs an. Gelegentlich übertreibt er es: Mit ausführlichen Einführungen von Figuren wie Lutz‘ Mutter. Mit zu pädagogischen Erklärungen für den Gesinnungswandel einzelner Figuren. Mit Frauenfiguren, deren Stärke alleine in Aufopferung besteht. Und mit dem Schlussteil dieses Romans: die vielen Explosionen, grausamen Tode und knappe Überleben sorgen für ein bombastisches Spektakel, das aber nicht verdecken kann, dass dem gesamten Setting die moralische Ambivalenz des ersten Teils fehlt. Die Sympathien sind klar verteilt – auch bei den verantwortlichen Polizisten, die erstaunlich irrational agieren.

Der erste Teil „Turmschatten“ ist ein bemerkenswerter Thriller, der aus vielen bekannten Elementen etwas Neues machte – „Turmgold“ ist eine überwiegend gelungene Fortsetzung. Bemerkenswert bleibt: Peter Grandl zeigt mit seiner „Turm“-Reihe, dass kritisches, schonungsloses, antifaschistisches Schreiben in einem Unterhaltungsroman nicht nur möglich, sondern ausnehmend spannend ist. Dass die Serienverfilmung bereits geplant ist, verwundert nicht. So großes Blockbusterkino gibt es in der deutschsprachigen Spannungsliteratur selten.

Peter Grandl: Turmgold. Piper Verlag, München 2022. 592 Seiten, 18 Euro.

Hinter den Möglichkeiten

(JF) „Die Dorfstraße lag so ausgestorben da, dass Klaus Brombowksi sich fühlte wie in einem schlechten Film.“ Nun könnte man sich fragen, inwieweit menschenleere Straßen auf dem Lande ein Merkmal schlechter Filme sind, interessanter scheint es aber allemal, sich auf den fiktionalen Raum zu konzentrieren, in dem der Provinzpolizist Brombowski hinter einem Dienstfahrzeug der Marke Opel hockt, um eine unbevölkerte Dorfszenerie zu beobachten. In seinem Blickfeld nämlich liegt die örtliche Sparkassenfiliale, in der gerade aus einem missglückten Bankraub eine ziemlich unprofessionelle Geiselnahme geworden ist. Und Brombowki wartet auf Verstärkung. Die in Gestalt seiner Vorgesetzten Lin-Thi Schmidt auch bald eintrifft, um die Sache in ihre professionellen Hände zu nehmen. Denn Frau Schmidt ist eine erstklassige Polizistin und damit ihrem Gatten, dem in Berlin ermittelnden Kriminalhauptkommissar Adam Schmidt, ebenbürtig. Der muss sich gerade mit der Entführung eines kleinen Mädchens aus einer Kita im Wedding herumschlagen, die genrekonform in direktem Zusammenhang mit dem Fall der dilettantischen Bankräuberin in dem brandenburgischen Nest Flecken-Zechlin, der gerade seine Frau beschäftigt, steht.

Die deutsch-vietnamesischen Schmidts sind als starkes Ermittlerduo einer neuen Krimireihe von Thi Linh Nguyen und August Oetker geplant, deren erster Band nun unter dem zeitgemäß-umständlichen Titel  Die Schuld, die uns verfolgt erschienen ist. Worin diese Schuld besteht, wird in zahlreichen Rückblenden ins Jahr 1997 geschildert, als die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden vietnamesischen Gangs in Berlin ihren Höhepunkt überschritten hatten. Ko-Autorin Nguyen, in Hanoi geboren und in Berlin aufgewachsen, wird hier aus biografischem Wissen schöpfen.

Erzählt wird szenisch und in flottem Tempo. Der gut erdachte Plot ist längst nicht so leicht zu durchschauen, wie es zu Anfang den Eindruck hat, wird aber leider in den letzten Kapiteln des Buches haarklein erläutert. Das hätte nicht sein müssen. Auch stilistisch ließe sich noch einiges polieren. So bleibt auch dieser Kriminalroman, trotz eines gewissen Unterhaltungswertes, hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Thi Linh Nguyen, August Oetker: Die Schuld, die uns verfolgt. Piper Verlag, München 2023. 319 Seiten, 18 Euro.

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