Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Bloody Chops – Kurzbesprechungen Februar 2023

Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (sh) und Ulrich Noller (UN).

Harlan Coben: Kein Sterbenswort
Kenneth Fearing: Die große Uhr
Tom Lin: Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen
Lea Stein: Altes Leid

Er mordet sich von Utah nach Nevada 

(sh) Es ist eine bekannte Geschichte: ein knallharter Außenseiter begibt sich auf einen Rachefeldzug, um die Männer zu töten, die seine Ehefrau entführt und ihn durch eine Intrige zu zehn Jahren Zwangsarbeit verdammt haben. Aber in Tom Lins Die tausend Verbrechen des Ming Tsu bewegt sich keiner jener weißen harten Männer durch das Utah und Nevada des Jahres 1869, sondern Ming Tsu. Seine chinesischen Eltern kennt er nicht, er wurde in den USA geboren und von einem weißen Mann adoptiert, der ihn zu einem Auftragskiller gemacht hat. Ming Tsu hat präzise und abgeklärt gemordet – bis er sich in eine weiße Frau verliebt hat. Und nun macht er sich auf, seine Ehefrau zu finden und sich an den Männern zu rächen, die sein Leben ruiniert haben. 

Seine Herkunft spielt bei diesem Unterfangen eine mehrschichtige Rolle: Solange er alleine unterwegs ist, fällt er auf, weil er nicht weiß ist. Er wird beschimpft, angegriffen und gejagt. Deckung findet er indes inmitten der chinesischen Arbeiter, die in diesen Jahren die Gleise der Central Pacific Railroad verlegen. Die rassistischen weißen Vorarbeiter wollen die Arbeiter gar nicht unterscheiden – und lange Zeit wurde ihre Arbeit aus der offiziellen Geschichte der Erschließung des amerikanischen Westens gestrichen. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Rassismus jedem US-amerikanischen Mythos eingeschrieben ist. 

Aber Tom Lin macht in seinem spannenden Thriller mehr als nur bekannte Rollen neu und interessant zu besetzen: Mings Opfer sind austauschbar, seine Ehefrau bleibt sogar in den Rückblenden blass – und zwar absichtlich. Tom Lin markiert diese bekannten weißen Figuren als auserzählt. Wie Ishmael Reed erzählt Tom Lin von denen, die lange im Western nicht vorgekommen sind, und mischt verschiedene Genre-Elemente: Ming reist mit einem alten blinden Propheten, der die Zukunft vorhersagt und oftmals das Ende eines Aufeinandertreffens bereits vorwegnimmt. Er trifft auf eine Zirkustruppe, zu denen ein stummen Junge gehört, der als Bauchredner auftritt, und eine Frau, die sich anzündet und es überlebt. 

Diese bisweilen magische Momente verbinden sich mit präzisen Beschreibungen, die an Cormac McCarthy erinneren, einem schnellen Erzähltempo und kurze Kapitel. Tom Lin setzt sehr klug Wiederholungen ein – das wiederholte Polieren eines Nagels, das Reinigen der Waffe –, die die Monotonie des Tötens, dieses Lebens und damit des Westerns deutlich machen. Außerdem erzählt dieser knapp 300-seitige packende Roman des 26-jährigen Tom Lin davon, wie ein Mythos durch verklärte und falsche Erinnerungen entsteht. Ein beeindruckendes Debüt. 

Tom Lin: Die tausend Verbrechen des Ming Tsu (The Thousand Crimes of Ming Tsu, 2021). Aus dem amerikanischen Englisch von Volker Oldenburg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 301 Seiten,16 Euro. 

Ebenso unterhaltsam wie instruktiv

(JF) Ida Rabe ist klug, empathisch und nicht auf den Mund gefallen. Eigenschaften, die ihr vom ersten Tag als Schutzpolizistin in der Hamburger Davidwache das Leben schwer machen. Denn ihre Kollegen und Vorgesetzten warten nur darauf, dass bald wieder genügend männliche Bewerber für den Polizeidienst zur Verfügung stehen werden. Aber zwei Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs sieht die Situation anders aus. Die britische Militärregierung möchte eine „Weibliche Schutzpolizei“ einrichten, die sich speziell um Kinder und weibliche Jugendliche kümmern sollte. Und Männer sind Mangelware.

Es versteht sich von selbst, dass sich Ida Rabe nicht mit den ihr zugeteilten Aufgaben zufrieden gibt, denn es gilt, eine Serie mysteriöser Sexualstraftaten aufzuklären. Was ihr auch, wie nicht anders zu erwarten, gegen alle Widerstände gelingt. 

Altes Leid ist der erste Band einer neuen Reihe historischer Kriminalromane der Journalistin Kerstin Sgonina, die unter dem Pseudonym Lea Stein zeigt, dass sich traditionelle Genremuster in jedem Kontext bewähren, wenn sie mit erzählerischer Expertise behandelt werden. Das ist ebenso unterhaltsam wie instruktiv. Man darf Frau Rabes weiteren Fällen gespannt entgegensehen.

Lea Stein: Altes Leid. Heyne Verlag, München 2023. 445 Seiten, 16 Euro.

Die Macht der Literatur und die Kraft des Erzählens

(UN) Ein junger Schriftsteller sucht nach einem legendären Roman, der ebenso verschollen ist wie sein Verfasser, und er gerät dabei immer stärker in den Bann dieses Werkes – das klingt zunächst nach einer ganz einfachen Geschichte.

Das Szenario, das Mohamed Mbougar Sarr aus dieser Grundlage zaubert, ist allerdings ein ungeheuer vielschichtiges und facettenreiches Geschehen, das nicht bloß die Geschichte des Romanes und die Geschichten seiner Protagonisten erzählt, sondern dabei zugleich auch jederzeit die Bedingungen seines Erzählens sowie die Konsequenzen reflektiert.

Der verschwundene Autor war ein Afrikaner in Europa, der erste, der in Frankreich literarisch reüssieren konnte – möglicherweise ein Hauptgrund dafür, dass er so unvermittelt, wie er aufgetaucht war, auch wieder verschwand. „Literatur“ von einem Afrikaner? Und dann auch noch „hohe“ Literatur? Das war in den 1930er Jahren für Viele nicht denkbar – und es ist ja bis heute nur bedingt selbstverständlich. Auch dies Thema durchdringt Mbougar Sarr in all seinen Dimensionen, mit viel Bezug zu heutigen Diskursen auf, höchstem Niveau.

Die geheimste Erinnerung der Menschen ist ein großes Spiel; Mohamed Mbougar Sarr erzählt und reflektiert in Einem, und das ist ein so souveränes wie elegantes Jonglieren, mit vielen gewagten Bewegungen dabei, ein (intellektuelles) Abenteuer, das sich aus Abenteuern speist, Inhalt und Form sind dabei meisterhaft verschränkt. 

Bei alledem ist Mbougar Sarr vor allem anderen exzellenter Erzähler, der genau weiß, wie er nicht bloß seinen zentralen Protagonisten, sondern seine Leserinnen und Leser in den Bann zieht. Dieser Roman ist ein Geschenk; wer sich auf ihn einlassen mag, wird reich belohnt: mit einem Füllhorn an packenden Geschichten und einer Vielzahl an (Denk-)Welten, die sich immer wieder neu auftun bei der staunenden Lektüre. 

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen (La plus secrète mémoire des hommes, 2021). Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Verlag, München 2022. 448 Seiten, 27 Euro.

75 Jahre nach Erscheinen

(JF) Unterschätzt nennt ihn Julian Symons in seiner 1972 erschienenen Geschichte der Kriminalliteratur, „Bloody Murder“. Obwohl er zum Beispiel von Raymond Chandler bewundert wurde und sein berühmtester, mehrfach verfilmter Roman „The Big Clock“ (1946) bis heute in diversen Ausgaben lieferbar ist. Aber wenn hierzulande von der großen Zeit des finsteren Kriminalromans die Rede ist, fällt der Name des Journalisten, Lyrikers und Pulp-Autors Kenneth Fearing (1902 – 1961) tatsächlich eher selten. 

Und das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass es bislang keine deutsche Übersetzung von „The Big Clock“ gab. Dabei hat die Geschichte des Journalisten George Stroud, der unschuldig zum Gegenstand seiner eigenen Ermittlungen in einem Mordfall wird, alles, was ein literarisch ambitionierter Noir-Klassiker braucht, vom raffinierten Plot über eine ordentliche Dosis Gesellschafts- und Medienkritik bis zur multiperspektivischen Erzählstruktur. Dass die existentialistische Symbolik der titelgebenden „großen Uhr“, die den Roman durchzieht, ein wenig aufdringlich daherkommt, tut der Spannung keinen Abbruch. Deshalb lässt sich die brandneue, mit mehr als 75 Jahren Verspätung als angemessen edle Klappenbroschur erschienene, deutsche Erstausgabe samt umfangreichem Nachwort guten Gewissens zur Anschaffung und Lektüre empfehlen.

Kenneth Fearing: Die große Uhr (The Big Clock, 1946). Ins Deutsche übertragen von Jakob Vandenberg. Nachwort Martin Compart. Elsinor Verlag, Coesfeld 2023. 200 Seiten, 20 Euro.

Ein Lieblings-Liebesroman

(UN) Harlan Coben kennt vermutlich (fast) jeder. Abgesehen davon, dass der Amerikaner schon zig Millionen Bücher weltweit unters Volk brachte, hat auch Netflix vor fünf Jahren einen Deal mit ihm vereinbart, 14 Serien sollte Coben für den Streamingdienst entwickeln, viele sind tatsächlich auch schon fertig und online. „Ich schweige für Dich“, zum Beispiel, „Das Grab im Wald“ oder „Kein Friede den Toten“.

Das Interessante dabei: Diese Serien werden nach den Coben ausgearbeiteten Vorlagen nicht ausschließlich in den Vereinigten Staaten produziert, sondern weltweit, zum Beispiel auch in Polen, Spanien, Frankreich und England. Das ist auch deshalb spannend anzuschauen, weil man einen Blick dafür bekommt, wie verschieden in den jeweiligen Film-/Fernsehkulturen so etwas bewerkstelligt wird.

Die, nennen wir es mal, Harlan Coben-DNA ist dabei so etwas wie die Grundlage, die sich im Prinzip (in Romanen wie in Serien) immer gleicht: Jemand ist verschwunden und führt unerkannt ein ganz anderes Leben als ehedem, dann aber holt ihn oder sie die Vergangenheit ein – und es beginnt ein großer Kampf mit den Schatten ebendieser Vergangenheit, um das feine Leben der Gegenwart irgendwie zu retten. Oder so …

Ungefähr drei Dutzend Romane hat Harlan Coben seit Mitte der Neunziger Jahre geschrieben und veröffentlicht. Mein Aha-Erlebnis mit ihm war der Krimi Kein Sterbenswort, der im amerikanischen Original 2001 und auf Deutsch 2004 erschien, sein erster Stand-Alone – ein astreiner Thriller und zugleich ein klasse Liebesroman. Und ja, das geht beides wider Erwarten sehr gut zusammen, das weiß man spätestens seit diesem Roman.

Dr. David Beck, darum geht’s in der Story, arbeitet als Armenarzt irgendwo im Ghetto einer US-Großstadt. Ein Privatleben hat er nicht, möchte er auch nicht haben, denn er hat im Prinzip längst mit seinem Leben abgeschlossen, seit seine Frau entführt und umgebracht wurde, an ihrer beider Hochzeitstag. Eines Tages landet dann eine Email mit dem Videoschnipsel einer Überwachungskamera irgendwo auf der Welt in seinem Posteingang. Darin zu sehen: Seine Frau. Ziemlich eindeutig. Die Frage ist also: Warum hat man ihm (hat sie?) ihm dieses Video geschickt. Und was, zur Hölle, ist damals wirklich passiert?

Hinzu kommt die Frage „Wie das überleben“, denn bald macht das FBI Jagd auf Beck, überraschenderweise steht er jetzt unter Mordverdacht. Der wilde Ritt beginnt, natürlich alles im Namen der Liebe … Die Antworten liefert die extrem packende, krass geplottete Geschichte dieses Romans. Der deshalb die ungewöhnliche Melanche von „Krimi“ und „Liebesroman“ so toll hinbekommt, weil die Story die Strukturen des einen Genres mit denen des anderen exzellent verzahnt, das ist wirklich spektakulär. 

So habe ich es zumindest in Erinnerung. Denn gelesen habe ich „Kein Sterbenswort“ seit 2004 nicht mehr, vorsichtshalber; ich behalte dieses Buch lieber mit meinem Erstleseeindruck in Erinnerung. Insofern: Ein Erstleser:innen-Tipp. Und einer für alle die, die sich so eine Power-Liebesgeschichte nicht entgehen lassen wollen.

Harlan Coben: Kein Sterbenswort (Tell No One, 2001 ). Goldmann Verlag, München 2015 (2001). Klappenbroschur, 352 Seiten, 9,99 Euro.

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