
Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF) und Alf Mayer (AM):
Yasmin Angoe: Echo der Gewalt
Ken Bruen: McDead
Richard Coles: Der Tote in der Dorfkirche
Tom Hindle: Der Tod reist mit
C. K. McDonnell: Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht
Yves Ravey: Taormina
Matthias Wittekindt: Spur des Verrats

Echos von Modesty
(AM) Der Kriegsreporter Sebastian Junger spürte 2016 in „Tribe – On Homecoming and Belonging“ jenem „verlorenen Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit“ nach (so der deutsche Untertitel), das Stammesgemeinschaften und aber auch Menschen, die Krieg und Katastrophen erleben, verbindet – und zu sozialeren Gesellschaften schmiedet als unsere ach so angeblich friedvolle zivile Welt das zu tun vermag. Sich als Mitglied eines Stammes zu fühlen und auch so behandelt zu werden, dieses, so Junger „kostbare Gefühl“, ist als Geisteshaltung in der modernen Welt selten geworden. Diese Fehlstelle hat Konsequenzen, sie erzeugt das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, nutzlos zu sein. Jungers Buch handelt davon, wieso sich Krieg für viele Menschen besser anfühlt als Frieden, und warum sich Entbehrungen als großer Segen entpuppen können.
Insofern ist Echo der Gewalt von Yasmin Angoe ein Bildungs- und Coming-of-Age-Roman der besonderen Art, unerschrocken vor Gewalt und dazu, weil ja ein Thriller, rasend spannend. Die Autorin setzt ihm eine Trigger-Warnung voran: „Bitte beachten Sie, dass in diesem Roman Schilderungen von emotionalem und sexuellem Missbrauch vorkommen. Außerdem geht es um den Tod von Eltern, um Menschenhandel und sexuelle sowie allgemein körperliche Gewalt.“ Einmal heißt es über ihre Figur: „Jede Berührung von Männern hat bisher nur zu Schmerzen und Demütigung geführt.“
Fast 60 Jahre ist es her, dass der Brite Peter O’Donnell (1920 – 2010) erst als Comicstrip und dann ab 1965 als Romanfigur die überaus selbständige Geheimagentin Modesty Blaise erschuf. „Die tödliche Lady“ lautete der Titel ihres ersten Auftritts. Yasmin Angoes Nena – Codename Echo, Mädchenname Aninyeh, Attentäterin, Auftragskillerin, Mörderin, in ihrer Sprache eine Wudini, todgefährlich – könnte ihre Urenkelin sein. Sie arbeitet für den „Tribe“, einen Zusammenschluss mehrerer afrikanischer Länder („Wir arbeiten daran, Afrika so mächtig zu machen wie die westliche Welt“). Hundert Jahre westlicher Agentenromane finden hier ihre postkoloniale Spiegelung. Peter O’Donnell machte 1942 während des Zweiten Weltkriegs als Funker in Persien die Bekanntschaft eines kleinen, überaus resilienten Flüchtlingsmädchens, das ihn später zu seiner Romanfigur inspirierte. Yasmin Angoe, Amerikanerin der ersten Generation aus Ghana, verarbeitet Gewalterfahrungen, die zu erzählen sie den Segen ihrer ghanaischen Landsleute hat – ihres Tribe. Bei aller Fiktion und Spannungkunst, die Erzählstimme ist in ein Davor und Danach, schließlich auch in ein Jetzt gesplittet, durchwehen dieses Buch eine Ernsthaftigkeit und ein Gemeinschaftsgefühl, die auch Sebastian Junger gefallen könnten. „Brotherhood of Pain“, nennt er es.
Yasmin Angoe: Echo der Gewalt (Her Name is Knight, 2021). Aus dem Englischen von Karin Diemerling. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Klappenbroschur, 422 Seiten, 18 Euro.

Ein Gewinn für das Genre
(JF) Berlin im August 1910. Eine wilde Schießerei im Zoologischen Garten macht Schlagzeilen. Und ruft den kaiserlichen Geheimdienst auf den Plan. Denn während die Schüsse fielen, waren russische Sprachfetzen vernehmbar. Unter anderem soll das Wort „Verräter“ gefallen sein. Die Ermittlungen in der exilrussischen Gemeinde bleiben weitgehend ergebnislos. Doch dann führt eine Spur nach Kopenhagen, wo der 8. Internationale Sozialistenkongress, ein Tummelplatz für Revolutionäre aller Art, stattfinden wird. Da trifft es sich gut, dass Major Albert Craemer, Leiter eines klandestinen Agentengrüppchens, plant, mit seiner Frau ein paar Tage in der dänischen Hauptstadt zu verbringen.
Wie nicht anders zu erwarten, gelingt es ihm, den brisanten Hintergrund des Attentats auf die Spur aufzuklären, selbstverständlich unter Einsatz seines Lebens. Und mit kräftiger Unterstützung seines „Außendienstes“, dem als Ehepaar getarnten Agentenduo Lena Vogel und Gustav Nante. Personal, das wie auch andere prominente Figuren in dem historischem Spionageroman Spur des Verrats von Matthias Wittekindt bereits aus dem Vorgängerband „Fabrik der Schatten“ (2022) bekannt ist, den der Autor noch mit dem zu früh verstorbenen Rainer Wittkamp verfasst hatte. Dass Wittekindt die Reihe nun alleine weiterführt, ist ein Gewinn für das gelegentlich überstrapazierte Genre. Das liegt nicht nur an dem hinreichend komplexen Plot und dem liebevoll ausgemalten Zeitkolorit, sondern ist auch dem zwischen sanfter Ironie und Tagträumerei changierenden Erzählton geschuldet, der allerdings nur notdürftig kaschiert, dass es gelegentlich brutal zur Sache geht. Der Effekt ist Absicht. Dass sich Wittekindts Held Craemer als Connaisseur impressionistischer Malerei zeigt, lässt sich deshalb auch als poetologischer Kommentar lesen. Und zwar mit Vergnügen.
Matthias Wittekindt: Spur des Verrats. Historischer Kriminalroman. Heyne, München 2023. 383 Seiten, 12 Euro.

Das Schlechte im Menschen
(JF) Tommy Logan heißt in Wirklichkeit anders. Er ist auch kein Ire, obwohl er Guinness aus der Flasche trinkt und gelegentlich einen Hurling-Schläger schwingt. Wer den zu spüren bekommt, hat nichts zu lachen. Denn Tommy Logan ist ein übler Schurke. Und sehr jähzornig.
Es versteht sich, dass Logan nicht der einzige zweifelhafte Charakter in Ken Bruens Noir-Groteske McDead ist. Schließlich handelt es sich um den abschließenden Teil der „White Trilogie“ um Chief Inspector Roberts und Detective Sergeant Brant von der Londoner Metropolitan Police, die nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel sind, wenn es gegen böse Buben geht. Oder einfach nur um Rache. Denn Tommy Logan hat Roberts‘ Bruder auf dem Gewissen. Doch bis es dem bestens vernetzten Gangster an den Kragen geht, hat der noch so manche Gelegenheit, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Das ist nichts für schwache Nerven. So wundert es nicht, dass poetische Gerechtigkeit in diesem Roman auf ziemlich handfeste Weise geübt wird.
Wie die beiden Vorgängerbände (und die vier folgenden) ist „McDead“ ein rasant getaktetes und perfekt arrangiertes Stück Spannungsprosa von finsterer Komik. Kongenial ins Deutsche gebracht von Karen Witthuhn. Wer Gefahr läuft, den Glauben an das Schlechte im Menschen zu verlieren, findet in „McDead“ ein probates Antidot.
Ken Bruen: McDead (The McDead, 2000). Aus dem Englischen von Karen Witthuhn. Polar Verlag, Stuttgart 2023. 140 Seiten, 16 Euro.

In der Wüste des Egoismus
(AM) „Die Atmosphäre war nicht erhebend, das kann man wirklich nicht sagen. Für einen ersten Ferientag war sie sogar ziemlich enttäuschend.“ Ein Paar am Rande einer Beziehungskrise macht Urlaub auf Sizilien. So etwas kann vielleicht alles besser, oder aber, wie wir als Faustregel wissen, alles noch viel schlimmer machen. Taormina von Yves Ravey ist ein Noir. Also wird es schlimm. Und schlimmer.
Wie Yves Ravey das erzählt – aus Sicht des unzuverlässigen Melvil Hammett, welch eine doppelte Verbeugung vor den alten Meistern – macht das Buch zu einem Kabinettstück. Nach „Bruderliebe“ (2012), „Ein Freund des Hauses“ (2014, beide bei Kunstmann) und „Abfindung“, (2022 bei Liebeskind) ist dies der vierte von ihm bei uns übersetzte Roman. In seinem Heimatland Frankreich wird Ravey regelmäßig veröffentlicht, seit 1989 hat er über 20 Romane geschrieben. Dazu Theaterstücke und -Bearbeitungen. Er war Lehrer für Französisch und Kunst am Collège Stendhal in Besançon, hat dessen Lektionen gelernt, ist aber auch bei Simenon und Camus in die Schule gegangen. Henri Stendhal (1783 – 1842) wusste: „Der Zank ist das Band vieler bürgerlicher Ehen.“ Und: „Bei den meisten Menschen schlägt Zärtlichkeit in Verschlagenheit um.“ Oder: „Was ist das noch für eine Liebe, die zum Gähnen reizt?“ Und: „Nichts ist so ansteckend wie schlechte Laune.“
In „dieser Wüste des Egoismus, die man das Leben nennt“, so Stendhal, schaukelt sich bei den beiden Figuren dieses Romans das Unheil hoch. Eine falsche Abfahrt zum Strand, der Wind bläst keine Meeresluft heran, sondern gelbbrauen Staub, sie sind auf einer Baustelle gelandet. Sie verfahren sich noch mehr, dann gibt es einen heftigen Schlag gegen die Karosserie ihres Mietwagens, vorne rechts. Sie wollen den Unfall vertuschen. Lernen, dass es vermutlich ein Migrantenkind war, das bei dem Zusammenprall ums Leben kam. Aber so genau wollen sie das gar nicht wissen. Es ist der Erzähler Ravey, der Gerechtigkeit herstellt, dies auf eine rabenschwarze Art. Ohne Schnörkel auf knapp hundert Seiten erzählt. Nur ein großer Geist wagt es, meinte Henri Stendhal, einfach im Stil zu sein.
Yves Ravey: Taormina (Taormine, 2022). Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind, München 2023. Gebunden, 112 Seiten, 20 Euro.

Sehr famos
(JF) Der Mann ist fast tot, aber dennoch brandgefährlich. Paul Mulchrone kommt zwar mit einer Stichwunde davon, muss aber weiterhin um sein Leben fürchten. Und das nur, weil er Schwester Brigit den Gefallen getan hat, einem schwerkranken alten Herrn ein wenig Gesellschaft zu leisten. Zu erklären, wie all das und noch viel mehr zusammenhängt, würde den Lektürespaß an Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht, einem sehr komischen Kriminalroman des irischen Autors C. K. McDonnell, erheblich schmälern. Darum unterbleiben hier weitere Hinweise auf den Inhalt.
Erwähnt sei allerdings noch, dass sich der im Titel genannte Bunny McGarry weitgehend im Hintergrund hält. Ein unorthodoxe Kriminalist, der auf Anhieb wie ein gälischer Klon des flatulenzgeplagten Geheimdienstlers Jackson Lamb aus Mick Herrons famoser „Slough House“-Reihe wirkt. Aber das muss ja nicht so bleiben. Schließlich war der 2016 im Original erschienene Band als Auftakt zu einer „Dublin-Trilogie“ gedacht. Und die umfasst inzwischen sieben Teile. Hoffen wir also, dass dem Eichborn Verlag, dem die sehr gekonnte deutschen Übersetzung von „A Man With One of Those Faces“ zu verdanken ist, nicht die Puste ausgeht.
C. K. McDonnell: Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht. Ein Dublin-Krimi (A Man With One of Those Faces, 2016) Aus dem Englischen von André Mumot. Eichborn Verlag, Köln 2023. 444 Seiten, 18 Euro.

Schäfchen, etwas gestutzt
(JF) „Haben Sie schon eine Vermutung, wer diese grauenvolle Tat begangen haben könnte? „Dafür ist es noch zu früh, Mylord.“
Constable Scott, der hier für Klarheit sorgt, weiß, wovon er spricht. Schließlich befindet sich dieser klassische Dialog auf Seite 100 des Romans. Der erste Mord ist gerade geschehen, ein zweiter wird nicht lange auf sich warten lassen. Und die Auflösung erfolgt, wie es sich gehört, erst im vorletzten Kapitel. „Der Tote in der Dorfkirche“ ist das Krimidebüt von Reverend Richard Coles, studierter Theologe, ehemaliger Gemeindepfarrer und in einem noch früheren Leben Keyboarder des Pop-Duos „The Communards“. Dass er einen fiktiven Kollegen ermitteln lässt, liegt nahe. Daniel Clement betreut seine anglo-katholische Gemeinde in dem idyllischen Dörflein Champton nach bestem Wissen und Gewissen, doch konfliktfrei ist das nicht. Denn nicht wenige seiner Schäfchen sind recht stur und jeder Veränderung abhold. Selbst wenn es „nur“ um eine Toilette in der Kirche geht. Was der Mordfall mit diesem Konflikt zu tun hat, ist einer der interessanteren Aspekte dieses leicht angestaubt wirkenden, aber nicht uncharmanten Detektivspiels. Wohlweislich hat der Autor die Handlung im Jahre 1988 angesiedelt, in einer Welt ohne Mobiltelefone und anderen Schnickschnack, die aber dennoch in ihrer Existenz bedroht ist.
Übrigens lässt sich der Beginn der Handlung exakt datieren – es ist Sonntag, der 10. April 1988. Der linke Gewerkschaftsführer Arthur Scargill ist zu Gast in der BBC-Radiosendung „Desert Island Discs“ und wählt zum Erstaunen des Pfarrers ein altes schottisches Kirchenlied zur Nummer eins seiner Liste. Wer die deutsche Ausgabe liest, wird leider auf solche zeithistorischen Anspielungen verzichten müssen. Denn Scargill wurde ebenso eliminiert wie Verweise auf den Lyriker Philip Larkin oder den Regisseur Julien Temple. Man möchte offenbar sein Lesepublikum nicht überfordern. Das ist schade, erinnert es doch an jene kulturfernen Zeiten, als englische und amerikanische Kriminalromane auf das gängige Taschenbuchmaß gestutzt wurden.
Richard Coles: Der Tote in der Dorfkirche. Ein Fall für Pfarrer Daniel Clement (Murder Before Evensong, 2022). Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt. Goldmann Taschenbuch, München 2023. 316 Seiten, 16 Euro.

Schmökerformat
(JF) Das Setting passt zur aktuellen Retrowelle: Im November 1924 befindet sich ein Ozeanriese mit 2.000 Passagieren auf dem Weg nach New York. Als eine Leiche gefunden wird, tippt ein zufällig anwesender Kriminalist von Scotland Yard umgehend auf Mord und übernimmt handstreichartig die Ermittlungen, argwöhnisch beäugt von einem Schiffsoffizier, der auch die Rolle des Erzählers übernimmt.
Dass beide Figuren sehr ökonomisch mit der Wahrheit umgehen, verbessert die Chemie zwischen ihnen nicht unbedingt, steigert aber die Spannung. Das ist auch bitter notwendig, denn der „Wer hat es getan“-Plot um ein verschwundenes wertvolles Gemälde gestaltet sich ziemlich ermüdend. Die vom Autor bewunderte Agatha Christie hätte die maritime Mördersuche wahrscheinlich erheblich zügiger abgehandelt, doch der aktuelle Buchmarkt will Krimis im Schmökerformat. Und fast 500 Seiten zu füllen, kann eine mühsame Angelegenheit sein.
Der englische PR-Spezialist Tom Hindle bewältigt in seinem Debütroman Der Tod reist mit diese Herausforderung mit spürbarer Anstrengung. Dass er das Buch mit einem regelrechten Knalleffekt enden lässt, kommt auch deshalb nicht unerwartet.
Tom Hindle: Der Tod reist mit. Kriminalroman. (A Fatal Crossing. 2022) Aus dem Englischen von Jens Plassmann. München, Heyne 2023. 478 S. 16 Euro.