Geschrieben am 1. Dezember 2021 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2021

Bloody Chops Dezember 2021

Kurzbesprechungen – fiction

Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW):

Robert Brack: Blizzard
Marcel Häußler: Kant und der sechste Winter
Gerhard Henschel: Schauerroman
Gerhard Henschel: Kindheitsroman. Die Urfassung
Mick Herron: Spook Street
Colin Niel: Unter Raubtieren
Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten
Diana Garcia Simon: Schattenfinsternis und andere Geschichten
Michael Wäser: Das Wunder von Runxendorf. Ein Mörder Roman
Tanja Weber: Betongold

Heia Safari 

(TW) Unter Raubtieren von Colin Niel ist ein schon fast sensationell überraschender Thriller, inhaltlich und formal gleichermaßen. Ein Teil des Buches spielt in Namibia und erzählt von der Jagd auf einen riesigen Löwen, der in die Ziegen- und Kuhherden der einheimischen Himba einbricht und erheblichen Schaden anrichtet. Für solche Fälle gibt der Staat den Abschuss des Raubtieres frei, gegen eine Gebühr von 60.000 Dollar, also attraktiv für ausländische Jäger. Das ist die Chance für die junge Jägerin Apolline Laffourcade mit ihrem Hightech-Bogen.

Der zweite Teil erzählt von der Jagd des Tierschützers und Umweltaktivisten Martin, Parkaufseher in den Pyrenäen, auf Apolline. Er hatte nämlich ein Foto von ihr mit dem erlegten Löwen in den sozialen Medien gesehen, und will an ihr ein Exempel statuieren. Zunehmend obsessiv will er sie erlegen, so wie sie Tiere erlegt. 

Bei Colin Niel kann man, wie wir auch von seinem Roman „Nur die Tiere“ wissen, nie aufgrund von „Genrewissen“ ahnen, wie ein Buch läuft und in welchen literarischen Bezugsfeldern es sich letztendlich bewegt.  Zwar ist der Roman anscheinend konventionell multiperspektivisch erzählt, aber eine Perspektive ist die von Charles, dem Löwen, dem wir – innerer Monolog – sozusagen in den Kopf schauen (ob allerdings eine „Kathedrale“ in seinem Metaphernspeicher vorkommen kann?), was ihn die literarische Reihe reflektierender Tiere à la dem Hund Berganza bei Cervantes und E.T.A. Hoffmann stellt. Gleichzeitig aber ist die Ausstattung eines Tieres mit Bewusstsein eine Absage an die ganzen Großwildjagdschmonzetten à la Wilbur Smith, Ernest Hemingway oder dem Howard Hawks-Film „Hatari“. Wobei die Besetzung des Jägers mit einer Frau die klassischen Rollen dementiert. Doppelt verzwirbelt auch durch den Umstand, dass die Französin mit Pfeil und Bogen jagt, während sich die Himba-Hirten Sorgen über ihren Handy-Empfang im kargen Kaokoveld machen. Nimm das, Klischee, möchte man sagen. 

Und auch die moralische Positionierung der Figuren dreht sich. Martin, der Ranger, der verzweifelt versucht, den letzten überlebenden Pyrenäen-Bär zu beschützen, wird zum blutrünstigen Menschenjäger, während die europäischen Löwenjäger nicht nur die Staatskasse von Namibia füllen, sondern auch die Hirten effektiver beschützen als diese selbst es können.  An solchen Stellen arbeitet Colin Niel, selbst Wildtierbiologe und Ökologe, mit wahrhaft grimmiger und blutiger Ironie. Am Ende sind die beiden „unschuldigsten“ Wesen des Romans tot, soviel kann man getrost spoilern. Und auch das sind nicht die, die man für diese Rolle als vorgesehen glaubt. Denn auch die Tatsache, dass es sich bei „Unter Raubtieren“ um einen sogenannten Man-on-the-run-Roman handelt (ein Subgenre des Thrillers, das von Autoren wie Geoffrey Household oder John Buchan entwickelt wurde) gibt keinen Hinweis auf das Ende des Buches. Und so ist „Unter Raubtieren“ abermals ein virtuoses Meisterwerk von Niel, das Traditionen innovativ und überraschend renoviert.

Colin Niel: Unter Raubtieren (Entre fauves, 2020). Deutsch von Anne Thomas. Lenos Verlag, Basel 2021. 403 Seiten, 24 Euro.

Bemerkenswert

(JF) Kann man den gewaltigen Schneesturm, der im Winter 1978 Norddeutschland heimsuchte, einen Blizzard nennen? Darüber lässt sich trefflich meteorologisch debattieren. Dem Hamburger Autor Robert Brack jedenfalls bietet die Wetterkatastrophe, der allein in der damaligen Bundesrepublik 17 Menschen zum Opfer fielen, die perfekte Kulisse für einen klaustrophobischen Zeitgeschichtsthriller. Was zunächst wie ein einheimischer Beitrag zum populären Heist-Genre daherkommt, endet als hochdramatische Gewaltstudie. Dabei möchte Gisela, die wegen Bankraubs bereits eine Haftstrafe abgesessen hat, nichts weiter, als mit ihrem Komplizen und Liebhaber Frieder nach dessen Entlassung eine kleinbürgerliche Existenz aufzubauen, am liebsten irgendwo in der schwedischen Provinz. Das notwendige Kapital soll durch einen Überfall auf ein Hamburger Juweliergeschäft besorgt werden. Doch der Traum von Bullerbü endet blutig. Eine Informantin spielt falsch, es fallen Schüsse und eine überhastete Flucht beginnt. Es ist ein seltsames Figurenensemble, das sich in zwei Autos hinein in das Schneedesaster bewegt, und jede einzelne scheint eigene Interessen zu verfolgen. Das Objekt der Begierde ist die Beute, ein legendäres Collier mit wechselvoller Geschichte und von unschätzbarem Wert, genannt „Blizzard“ und mehr als ein bloßer MacGuffin. Von einem jüdischen Künstler im Auftrag einer von den Nazis deportierten Industriellenfamilie entworfen, steht es für die Schrecken der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und glücklich kann damit niemand werden.

Robert Brack erzählt multiperspektivisch und auktorial mit einem Sinn für Überraschungseffekte. Sprachliche Wucht gewinnt der Roman, wenn die elementare Gewalt des Extremwetters beschrieben wird, dem keine menschliche Ambition gewachsen ist. Am Ende verschwindet der Blizzard. Und es bleiben zwei Überlebende und ein mühsam ins Eis geschlagenes Loch. 

Robert Brack: Blizzard. Thriller. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2021. 283 Seiten. 12 Euro.

Gruben im goldnen Boden

(rum) München und Geld, das schiebt sich in Gedanken fast schon von alleine zusammen. Die Mieten sind exorbitant, Immobilienpreise sowieso und der Boden, auf dem gebaut werden könnte, ein Spielplatz für Spekulanten. Und Tanja Webers Protagonist Josef Frey ist mit diesem goldenen Boden bestens vertraut. Denn der ehemalige Mordermittler leidet an Morbus Bechterew, einer rheumatischen Wirbelsäulenerkrankung. Er nennt sie nur „der Russe“, der ihn in eine gebückte Haltung zwingt und dem er mit Cannabis versucht, etwas Gewicht zu nehmen. Den Blick zu Boden gerichtet bewegt er sich also kreuz und quer durch München, um seinen alten Freund Martin Schanninger besser kennenzulernen. Denn der verdiente sein Geld als Immobilienhai, bevor er tot in einer Baugrube endete. 

Die beiden, der Sepp und der Schani, wie sie sich gegenseitig nannten, hatten ihre Jugend zusammen verbracht. Dritter im Bund war Matthias Hinterkammer, der Hias. Der betreibt in Giesing eine Eckkneipe, lange mit seiner haitianischen Frau Monique. „Monis Eck“ heißt die Kneipe, doch seit seine Frau gestorben ist, geht man nicht mehr zur, sondern zum Moni. Pragmatismus allenthalben. Seit der Sepp Cannabis raucht, heißt er nur noch Smokey. Und die drei scheinen bei weitem nicht so vertraut miteinander gewesen zu sein, wie es die Spitznamen nahelegen. 

Genau dieser über Jahrzehnte gewachsenen Freundschaft mit ihren oft verschlungenen, vernarbten, überwachsenen und wieder ausgebesserten Verbindungen widmet sich Tanja Weber in ihrem aktuellen Roman Betongold. Gleichzeitig erzählt sie damit von München, wie sich in den vergangenen Jahrzehnten Stadtgesellschaft und der Umgang miteinander, ganze Viertel und Milieus wandelten, oder auch nicht. Von 1974 bis ins Pandemiejahr spannt sich ihre Geschichte, in der Weber am Beispiel Schanningers erzählt, wie man so als Gerüstbauer ins Immobiliengeschäft rutschen kann, wie die Deals größer, die Finanzierungen luftiger und die Bekannten seltsamer werden. Tanja Weber, die Drehbücher fürs Fernsehen und bereits etliche Kriminalromane, teils unter ihrem Pseudonym Judith Arendt schrieb, arbeitet mit kantigem Humor und hat sich hier für eine eingängige Erzählstimme entschieden, die an den Dialekt andockt, lakonisch und dazu sacht melancholisch ist. Diesen kumpelhaften Sound muss man mögen, aber er ist nunmal wie gemacht für diese Geschichte über ein paar von ihren Erinnerungen bedrängten Typen, die irgendwie in den 80ern stecken geblieben sind, während um sie herum die Stadt wucherte. 

Tanja Weber: Betongold. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 239 Seiten, 20 Euro. 

Erzählerische Meisterschaft

(JF) Es war die Zeit, als man im Antiquariat für Bücher von „Luise Rinser, Uta Ranke-Heinemann und Co.“ noch einen Fünfzigmarkschein erlösen konnte. Martin Schlosser kommt diese kleine Finanzspritze nicht ungelegen. Zwar hat die publizistische Karriere des nicht mehr ganz jungen Mannes im Jahre 1992 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht – regelmäßig erscheinen seine Beiträge im Satiremagazin „Kowalski“, in „konkret“ und sogar im respektablen „Merkur“ – doch um die Zahlungsmoral mancher Auftraggeber ist es schlecht bestellt. Und die Notlügen der Buchhaltungsangestellten kennt Schlosser aus regelmäßigen Telefonaten zur Genüge.

Schauerroman heißt der neunte Band der Martin Schlosser-Saga, dem gigantischen autobiografischen Romanprojekt des Schriftstellers Gerhard Henschel, ein Titel, der sich nicht auf die pekuniäre Lage des Protagonisten, sondern auf ein Drama bezieht, das sich im emsländischen Meppen abspielt. Dort lebt Schlossers verwitweter Vater im Zustand zunehmender Verwahrlosung, so dass jeder Besuch des Sohnes von Einkaufs- und Aufräumtätigkeiten gefüllt ist, während der frühvergreiste Mittsechziger nörgelt und schimpft. In  diesen, oft tragikomischen, Szenen des elenden Immergleichen, geschildert im scheinbar leichten Martin-Schlosser-Ton, zeigt sich Henschels Meisterschaft als Erzähler und Arrangeur.

Vor beinahe zwanzig Jahren erschien mit dem Briefroman „Die Liebenden“ eine Art Prolog zu Henschels Chronik eines Nachgeborenen, die denn 2004 mit dem Kindheitsroman begann. Vom Plan, aus den Briefen seiner Eltern ein episches Werk zu montieren, kann man im vorliegenden Buch lesen.  Und fast zeitgleich hat der Verlag Hoffmann & Campe für Forscherinnen und Liebhaber eine mit Familienfotos versehene „Urfassung“ des „Kindheitsromans“ herausgebracht, in der die Grenze zwischen vorgeblich Fiktionalem und Autobiografie mit Vorsatz verwischt wird. So schließt sich ein Kreis. Allerdings nur vorläufig. Gerhard Henschel ist zu unserer Freude bereits mitten in der Arbeit am zehnten Band. 

Gerhard Henschel: Schauerroman. Hoffmann & Campe, Hamburg 2021. 587 Seiten. 26 Euro.
Gerhard Henschel: Kindheitsroman. Die Urfassung. Hoffmann & Campe, Hamburg 2021. 529 Seiten. 26 Euro.

Geborene Erzählerin

(AM) Das Argentinien der 1950er bis 1980er Jahre ist es, das sich Diana Garcia Simon als Rahmen von drei sehr lesenswerten short stories gesetzt hat. Sie sind so dicht und nah, dass teilweise wohl Biografisches mit eingeflossen sein könnte. Drei sich von ihrer Umgebung emanzipierende junge Frauen beschreiben in Schattenfinsternis und andere Geschichten je ihre Welt. Der Erzählstil ist so sicher, so eigen und beeindruckend, dass ich sofort nachgeschaut habe, ob es von dieser Autorin auch Romane gibt. Gibt es (noch) nicht, jedoch eine Spurensuche über jüdische Einflüsse im argentinischen Tange (nebenan bei „nonfiction, kurz“ besprochen). Diana Garcia Simon, geboren in Argentinien, hat in Buenos Aires, Granada, Salamanca, Barcelona Romanistik studiert und in Frankfurt am Main promoviert. Ihre Sprache ist geschliffen und souverän. Eine große Entdeckung. Eine geborene Erzählerin.

Ihr „Brief an den Vater“ zum Beispiel ist ein literaturpreis-würdiges Stück Selbstbemächtigung durch Sprache und Erzählen und eine hinreißende Antwort auf die Frage: Warum will/ warum muss man schreiben? Hier ein kleiner Textauszug: „Allerliebster Papa, komm zurück. Mama hat einen neuen Papa für mich mitgebracht. Sie macht das aus reiner Vergesslichkeit. Du weißt das. Sie hat für einen Moment vergessen, dass du ihr Mann bist, auch wenn du nicht da bist. Du und ich und sie, wir sind eine Familie, sonst niemand. Du musst mir alle Geschenke mitbringen, die du für mich besorgt hast. Mama sagt, sie will mir ein Geschwisterchen schenken. Komm bald zurück. Deine Tochter.“

Diana Garcia Simon: Schattenfinsternis und andere Geschichten. Abrazos Verlag, Stuttgart 2021. 194 Seiten, 15 Euro.

Tiefschwarze Geschichte

(JF) BRD 1974: Pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft bestellt der Büroangestellte Ewald Müller, ehemals als Bergmann unter Tage, einen Farbfernseher beim Versandhaus Quelle. Das teure Gerät soll im neuen Partykeller seinen Platz finden, denn Müller plant, gemeinsam mit den Nachbarn alle Begegnungen der bundesdeutschen Nationalmannschaft anzuschauen. Die Idee ist ein Erfolg. Schon zu den Vorbereitungsspielen findet sich bei Bier, Schnaps und Wurstbroten eine fidele Runde aus vier Herren zusammen. Und der Gastgeber schmiedet einen perfiden Plan, dessen Bösartigkeit selbst den verwundern dürfte, der weiß, was Müller regelmäßig seiner Teenagertochter Steffi antut. „Ein Mörder Roman“ lautet der Untertitel dieser tiefschwarzen Geschichte, denn was in Müllers Partykeller geschieht, überlebt keines der Opfer des Männerquartetts. 

Der Roman Das Wunder von Runxendorf von Michael Wäser führt uns zurück in eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs, die in der Erinnerung gerne poppig bunt dargestellt wird. Doch das ist nur die Oberfläche. Hinter den Fassaden der properen Vorortsiedlungen herrscht brutale männliche Gewalt und archaische Lust. Täter und Opfer zugleich ist Müllers Sohn Gerald, ein halbwüchsiger Tunichtgut und Herumtreiber, der von seinem Vater zum willfährigen Werkzeug abgerichtet wird.

Präsentiert wird dieser alptraumhafte Plot in einem umgangssprachlichen Plauderton, der den verstörenden Effekt der Lektüre noch verstärkt, zumal die Identität des nicht immer gut informierten Ich-Erzählers erst in der Mitte des Romans gelüftet wird. Dieser Kunstgriff ist nur ein Beispiel für den virtuosen Umgang des Autors mit seinem abgründigen Stoff, den man so schnell nicht vergisst.

Michael Wäser: Das Wunder von Runxendorf. Ein Mörder Roman. Dielmann Verlag, Frankfurt 2021. 221 Seiten. 20 Euro.

Ausrangierte Agenten

(rum) Mick Herrons Serie um eine Gruppe abgehalfterter, englischer Spione bleibt interessant, weil sie unberechenbar genug ist. „Slow Horses“ werden bei ihm jene Agenten genannt, die einen Auftrag in den Sand gesetzt, Schwierigkeiten mit der Hierarchie oder persönliche Probleme hatten und deshalb ausgemustert wurden. Ihren Dienst, meist so aufwändige, wie sinnlose Recherchen, versehen sie in einem heruntergekommenen Gebäude an einer verkehrsreichen Londoner Ecke, dem Slough House, eine Art „administrative Besenkammer des Geheimdienstes“. Alle Slow Horses haben mit Selbstzweifeln zu kämpfen, hoffen aber unverzagt auf eine Gelegenheit, sich beweisen zu können, um so vielleicht wieder in den regulären Dienst zurück zu finden.

Diesmal explodiert in einem Londoner Einkaufszentrum eine Bombe und über verschlungene Wege bekommen auch die Slow Horses damit zu tun. Denn einer von ihnen namens River Cartwright ist der Sohn des ehemaligen MI5-Vize. Der ist inzwischen dement und für den Dienst ein Sicherheitsrisiko. Aber ganz so hinüber ist er noch nicht, als dass er einen Killer nicht erkennt, wenn er vor ihm steht – auch wenn er in diesem Fall aussieht, wie sein eigener Sohn. Doch der Alte ist sich sicher und erschießt den Mann. Als River dazu kommt, wittert er seine Chance und folgt einer Spur nach Frankreich, um herauszufinden, wer hinter dem Angriff steckt. Und bei dieser Gelegenheit wirbelt er so viel Staub auf, dass sie noch in der obersten Geheimdienstetage husten müssen. 

Mick Herron zeigt sich auch im vierten Band der Reihe als gewiefter Erzähler. Schön verschachtelt ist seine Geschichte um Terrorismus, alte Rechnungen und die Frage, welche Rolle eigentlich der Geheimdienst dabei gespielt haben könnte. Schwer abzusehen sind die Untiefen seiner Figuren, allen voran jene des herrlich monströsen Slough House-Kopfs Jackson Lamb. Er selbst, aber auch jeder und jede seiner Slow Horses trägt reichlich Ballast mit sich herum. In diesem Band etwa stößt ein schweigsamer Neuer zu den Slow Horses, die ihn zunächst als „ein in ein Geheimnis gehülltes Enigma in der Verpackung eines mürrischen, unkommunikativen Trottels“ sehen – was sich im Laufe der Geschichte ändert. Derweil versuchen sie, am Ball zu bleiben, zusammen zu arbeiten, während die munter intrigiernden Verantwortlichen in der Zentrale des MI5 vor allem eines wollen: persönlich möglichst unbeschadet aus dem ganzen Schlamassel kommen. 

Mick Herron: Spook Street (Original: Spook Street, 2017). Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. Diogenes-Verlag, Zürich 2021. 456 Seiten, 18 Euro.

Souveränes Debüt

(JF) Die Zutaten sind vertraut: Hauptkommissar Kant von der Münchner Kripo, alleinerziehender Vater einer rebellischen Fünfzehnjährigen, und sein Team, vom jungen Schnösel über die taffe Ermittlerin bis zum altgedienten Alkoholiker, sind unbedingt fernsehkrimitauglich, während der Fall – psychisch derangierter Einzelgänger übt Vergeltung für eine Jahre zurückliegende Tat, indem er die Beteiligten der Reihe nach umbringt – aus dem Fundus skandinavischen Thrillerschaffens à la Adler-Olsen stammen könnte. Als Kulisse dienen das winterliche München und ein Dorf am Ammersee, dessen Bewohner jenen Grad an Verstocktheit aufweisen, wie er der Landbevölkerung seit jeher zu eigen ist.

Und das Rezept funktioniert. Marcel Häußlers souverän erzähltes Krimidebüt „Kant und der sechste Winter“ erweist sich als solide Unterhaltungskost für ein klischeeresistentes Lesepublikum, das sich gewiss auf eine baldige Fortsetzung freuen darf.

Marcel Häußler: Kant und der sechste Winter. Heyne Verlag, München 2021. 318 Seiten, 15 Euro. 

Dysfunktionale Familienbeziehungen

(sh) Liz Nugents „Kleine Grausamkeiten“ geht von einer großartigen und sehr spannenden Prämisse aus: „Alle der Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg“. In dem ersten Teil des Buchs lernt man dann die drei Brüder kennen, in wechselnden Abschnitten, die jeweils mit dem Namen des Bruders übertitelt sind, der in den Passagen erzählt. Dadurch entsteht nach und nach ein Bild einer zutiefst dysfunktionalen Familie, in der die titelgebenden „kleinen Grausamkeiten“ alltäglich und oftmals gar nicht klein waren. Angetrieben wird die Spannung durch die Fragen, welcher der Brüder stirbt, wer dafür verantwortlich ist – und nicht zuletzt auch wer hier eigentlich derjenigen sein soll, auf dessen Seite man sich schlägt. Da ist William, der Älteste, ein arroganter, misogyner Filmproduzent, von der Mutter klar bevorzugt. Der mittlere Bruder Brian, er wirkt ein wenig hilflos und überfordert, verurteilt dafür aber das Verhalten der anderen umso schneller. Der Jüngste ist Luke, instabil, von der Mutter verabscheut, hat er letztlich als Popsänger schnellen Erfolg und wird drogensüchtig. Richtig gut können sie alle eigentlich nur eines: sich selbst als benachteiligt zu sehen.

Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zu schildern, ist ein gängiges Verfahren in psychologischen Spannungsromanen; Liz Nugent geht in diesem ersten Teil indes einen Schritt weiter und lässt die Leser*innen völlig im Unklaren, wer sich hier nur annähernd richtig erinnert. Zuverlässig und zugewandt ist keiner der drei Brüder, ihr Verhältnis zueinander ist eine Mischung aus Eifersucht und Dominanzgehabe, in dem aber zugleich deutlich wird, dass sie eben doch Brüder sind (so sehr sie es auch nicht wollen). In dieser Beschreibung der dysfunktionalen Bruder- und Familienbeziehungen ist „Kleine Grausamkeiten“ sehr überzeugend und spannend. Leider aber gibt es am Ende dann viel zu viele Überraschungen sowie einen Ausflug in #Metoo-Gefilde, der viel zu kurz und oberflächlich ist. Dieser wichtige Handlungsstrang wirkt wie angefügt, ohne tatsächlich notwendig zu sein; keine der von den Taten der Brüder betroffenen Frauen entwickelt eine distinktive Stimme. Und so bleibt dieses Buch insgesamt hinter seiner bemerkenswert guten ersten Hälfte weit zurück. Schade.

Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten. Übersetzt von Kathrin Razum. Steidl 2021. 400 Seiten. 24 Euro.

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