
Bücher kurz serviert
Kurzbesprechungen von fiction – Unsere Rubrik „non fiction, kurz“ fällt diesmal aus. Hier Joachim Feldmann (JF), Ulrich Noller (UN), und Thomas Wörtche (TW) über:
Thomas Christos: 1965 –Der erste Fall für Thomas Engel
Ute Cohen: Poor Dogs
Peter Henning: Die Tote von San Andreu
Cai Jun: Rachegeist
Michael Koryta: Die mir den Tod wünschen
Dirk Kurbjuweit: Haarmann
Mercedes Rosende: Falsche Ursula
Wallace Stroby: Zum Greifen nah
Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht
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Spannend & putzig
(JF) Einen Schnellkursus in deutscher Nachkriegsgeschichte offeriert der unter dem Pseudonym Thomas Christos schreibende Drehbuchautor Christos Yiannopoulos in seinem Debütkrimi „1965“. Gerade erst beginnen die sechziger Jahre damit, sich das Attribut „wild“ zu verdienen. Die Stones gehen auf Deutschland-Tournee und sorgen für wüste Schlachten zwischen enthusiasmierten Jugendlichen und prügelfreudigen Ordnungshütern. Und Kommissar Thomas Engel, mit 21 gerade mal volljährig, kriegt auch etwas ab, obwohl er sich dienstlich unter die Fans gemischt hat. Bevor er seine Marke zücken kann, schlägt der uniformierte Kollege zu. Doch das nur 25-minütige Live-Erlebnis lässt ihn den Schmerz vergessen. Ganz fix wird aus dem braven Beamten in Anzug und Krawatte ein jeanstragender Vertreter der aufmüpfigen Jugend mit Strubbelfrisur. Auf dem neuerworbenen Dual-Plattenspieler drehen sich „angesagte“, wie man damals sagte, „Beat-Platten“. Und seine neue Freundin Peggy, die so oft wie möglich der strengen Nonnenherrschaft ihres Fürsorgeheims entflieht, macht ihn mit der exotischen Halbwelt der Düsseldorfer Altstadt bekannt.
Dass unser jugendlicher Held auch noch einen Mordfall aufzuklären hat, versteht sich von selbst. Die Ermittlungen führen zurück in das Jahr 1939, ein Serientäter ist am Werk, der auch schon damals aktiv war. Zwanzig Jahre nach dem Ende von Weltkrieg und Naziherrschaft ist das Vergangene noch sehr präsent, wie Thomas Engel in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte erfahren muss. Das klärende Gespräch mit seinem Vater führt er „im Verhörmodus“. Als es beendet ist, verlässt er das Elternhaus, um nie mehr zurückzukehren. Doch dass ihm, wie der Text behauptet, „alles sehr nahegegangen war“, ist nicht zu spüren, ein Umstand, der auf ein zentrales Problem dieses durchaus spannenden zeitgeschichtlichen Kriminalromans verweist. Christos pflegt einen sehr munteren, mitunter putzigen Stil, der das Erzählte gelegentlich auf bizarre Weise kontrastiert. „Statt einer Antwort verschloss sie ihm mit einem zärtlichen Kuss die Lippen“, heißt es beispielsweise zum Abschluss eines Kapitels, das einen Spaziergang in Amsterdam schildert, der natürlich auch „zufällig“ am Anne-Frank-Haus vorbeiführt. Da möchte man kaum glauben, dass es Thomas Engel nicht gelingt, „die Vergangenheit hinter sich zu lassen“.
- Thomas Christos: 1965. Der erste Fall für Thomas Engel. Kriminalroman. 399 Seiten. München: Blanvalet 2020. € 20,00.

Neoliberalismus, revisited
(TW) Brandaktuell ist „Poor Dogs“ von Ute Cohen. Eine psychothrillerartige Meditation über die mentale Verfasstheit von Menschen, die aus den Ideologemen des Neoliberalismus ihre Werteparameter beziehen, die nicht nur politische Konsequenzen haben, sondern auch Leitwerte für den privaten Lebensstil bis hinein ins Sexleben haben. „Poor Dogs“ ist die Geschichte eines Paars, das nolens volens aneinanderhängt, mit einander verstrickt ist: Über Geld, Macht und Gier und den immer passenden Accessoires. Die Champagnermarken müssen stimmen, die Hotels, die Klamotten und immer wieder die passenden Aufrufe der jeweils angesagten Theorien und anderer kultureller Verweise – von Rimbaud bis Lacan, sozusagen. Ein höllischer Catwalk der schicken Beliebigkeiten, die Substanz simulieren, wo menschliche Ödnis ist und psychologische, physische und strukturelle Gewalt an der Tagesordnung. Keine schöne Welt das – und Ute Cohen häutet sie Schicht für Schicht für Schicht, ob´s uns nun gefällt oder nicht.
- Ute Cohen: „Poor Dogs“. Wien: Septime Verlag, 2020, 235 Seiten, € 22,90

Verführerischer Sound
(JF) Ben Neven sitzt vor seinem Laptop, schaut sich Bilder nackter Jungs am Strand an und masturbiert. Wie oft das passiert, erfahren wir nicht. Einmal versucht er den Stick mit der Videodatei loszuwerden und wirft ihn in die Toilette. Doch er zögert, die Spülung zu betätigen. Kurze Zeit später liegt der Stick zum Trocknen auf dem Tisch.
Neven hat Kind und Frau. Und er ist pädophil. „Niemand weiß davon“, heißt es an einer Stelle. Zum Glück, könnte man sagen. Denn Ben Neven ist Polizist. Den Stick hat er aus der Asservatenkammer entwendet. Er gehörte zu den Beweismitteln in einem Missbrauchsfall, in dem er allerdings nicht ermittelt hat. Das ist nun anders. Ein kleiner Junge ist entführt worden, und es dauert nur ein paar Seiten, bis wir erfahren, dass der Täter ebenfalls pädophil ist. Doch im Unterschied zu Neven bleibt es nicht bei bildinduzierten Fantasien.
Jan Costin Wagner, der uns in seinem neuen Roman „Sommer bei Nacht“ mit dieser Figurenkonstellation konfrontiert, traut sich etwas. Nachhaltiges Unbehagen zu erzeugen, ist kein gängiges Erfolgsrezept im Kriminalroman. Selbst die gruseligsten Schlitzerepen bemühen sich in der Regel, ihr Lesepublikum nicht allzu sehr zu verunsichern, und setzen auf eine klare Unterscheidung von Gut und Böse. Was aus Ben Neven, der wie seine Kollegen als Serienfigur angelegt ist, wird, bleibt ungewiss. In diesem Roman wird der Fall durch einen Zufall aufgeklärt, der mit dem Privatleben eines anderen Ermittlers zu tun hat.
Der Plot mäandert. Erzählt wird in kurzen, den einzelnen Figuren zugeordneten Kapiteln. Persönliches spielt, nicht nur bei Ben Neven, eine große Rolle. Doch das bleibt rein inhaltlich, auf stilistische Unterschiede in der erlebten Rede verzichtet der Autor zugunsten einer durch knappe Sätze, Ellipsen und Wiederholungen geprägten Sprache, wie er sie bereits in seinen vorherigen, in Finnland spielenden Romanen kultiviert hat. Jan Costin Wagner versteht es, ein begrenztes Repertoire an erzählerischen Mitteln äußerst effektiv einzusetzen. Das Ergebnis ist der verführerische Sound des so genannten literarischen Kriminalromans. Und schon lässt das Unbehagen ein wenig nach.
- Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht. Roman. 310 Seiten. Berlin: Galiani 2020. € 20,00.

Das Feuer lesen – um zu überleben
(UN) Waldbrände und Genreliteratur – siehe auch den Schwerpunkt in dieser CrimeMag-Ausgabe über die Feuer in Australien -, wenn es darum geht, ist ein Roman auf jeden Fall unverzichtbar für die Lektüre: Die mir den Tod wünschen von Michael Koryta (Heyne, Euro 12,99). Erstmal geht’s um Ethan Serbin, Ex-Soldat, jetzt Überlebenstrainer in den Bergen von Montana; immer im Sommer organisiert er Bootcamps für schwer erziehbare Jugendliche, die durch die Naturerfahrung zurück auf den Pfad der Tugend geführt werden sollen. Mit in der Gruppe dann der zweite zentrale Akteur: ein Junge, der auf diese Weise „inkognito“ vor zwei Killern geschützt werden soll, die er ungewollt bei einem Mord beobachtet hat. Die so fiesen wie skrupellosen Blackwell-Brüder sind aber nicht dumm und der Gruppe diesseits und jenseits der Baumgrenze bald auf der Spur, das Überlebenstraining wird zum Überlebenskampf. Und der zieht sich…
Die mir den Tod wünschen ist ein extrem packender, grandios dramatisierter und zugleich sehr elegant-modern gearbeiteter Mainstream-Thriller, bei dem beileibe nicht nur Outdoor-Fans die Luft anhalten. Die Natur ist bei einem solchen Setting natürlich omnipräsent; sie zeigt den Menschen, die sich in ihr bewegen, ständig die Grenzen auf, bietet aber auch immer wieder unerwartete Optionen. Beherrschbar ist die Umwelt in den Bergen nicht, im Gegenteil, man kann sie bloß demütig beobachten und zu verstehen versuchen. Dann hat man vielleicht den Hauch einer Chance in einem Albtraum, in der sie zum schicksalhaften Faktor wird, der letztlich entscheidend ist für Wohl und Wehe, fürs Überleben.
Bei alldem spielen eben brennende Wälder zentrale Rolle, ein krasser Waldbrand, wird erst zum Setting für den Showdown, dann sogar, wenn man so will, zum Akteur. Anders lässt sich diese Naturgewalt nicht fassen. Und sie zu fassen, sie zu verstehen suchen, ihre Wege zu antizipieren, soweit möglich – darauf kommt’s eben letztlich alles entscheidend an. Wenn man überleben will. 2016, als das Buch erschien, wirkte das, na ja, ein wenig exotisch, aber schon sehr interessant – heute, mit aktualisiertem Blick auf brennende Wälder, denkt man sich: Wow, da war einer seiner Zeit voraus. Sowieso in Sachen Nature Writing als Thriller, insbesondere aber, was Feuer und Waldbrände angeht. Wie Michael Koryta jedenfalls all das im Rahmen einer gnadenlosen Spannungstory inszeniert und entfaltet, das hat große Klasse, extrem packende Unterhaltung.
- Michael Koryta: Die mir den Tod wünschen (Those who wish me dead, 2014). Deutsch von Ulrike Clewing. Heyne Verlag, München 2016. eBook, 12,99 Euro.

Gutes Handwerk
(JF) Die Aussicht, mal eben 350.000 Dollar einzuheimsen, ist ganz schön reizvoll, zumal es sich bei den Eigentümern des Geldes um Drogenhändler handelt. Diese allerdings sind nicht zimperlich, wenn es um ihre Geschäftsinteressen geht, also schicken sie einen sehr professionellen Killer los, um ihr Kapital zurückzubekommen. Das nämlich wird dringend benötigt, um einen neuen Lieferanten zu gewinnen.
Bis diese Zusammenhänge klar werden, vergeht ein wenig Zeit in Wallace Strobys Kriminalroman „Zum Greifen nah“, der nun ein Jahrzehnt nach dem Original auf Deutsch erschienen ist. Stroby, bekannt durch seine vier Romane um die ausgesprochen sympathische gewerbsmäßige Gesetzesbrecherin Crissa Stone, hat offenbar ein Faible für Heldinnen mit einsilbigen Nachnamen und großen Problemen. Hier heißt sie Sara Cross, arbeitet als Polizistin in Florida und ist alleinerziehende Mutter. Hinzu kommt, dass ihr Sohn an Leukämie leidet und eine aufwendige Therapie über sich ergehen lassen muss. Als ihr Kollege Billy Flynn bei einer Verkehrskontrolle angeblich in Notwehr einen Mann erschießt, ist ein Loyalitätskonflikt vorprogrammiert. Eigentlich möchte sie Billy, mit dem sie früher einmal zusammen war, glauben, doch ihre Ermittlungen lassen sie immer mehr an seiner Geschichte zweifeln. Während Sara Cross mit inneren Konflikten kämpft, ist Morgan bereits auf dem Weg von Newark, New Jersey in den Süden. Morgan arbeitet seit vielen Jahren als Profikiller, ist Ende 50 und sehr krank. Dringend müsste er eine Krebsbehandlung antreten, doch dafür fehlt ihm das Geld. Dass er unterwegs ist, um die verschwundenen 350.000 Dollar seiner Auftraggeber zu finden, verleitet zu naheliegenden Schlüssen.
Ziemlich gradlinig also läuft der Plot auf die Konfrontation aller interessierten Parteien hinaus – und wer daran glaubt, dass die Guten überleben, wird nicht enttäuscht. Wallace Stroby zeigt sich bereits in diesem frühen Roman als guter Handwerker, der sich auf hinreichend komplexe Figuren und die Erzählkniffe des Genres versteht. In Serie ist Sara Cross allerdings, anders als der Klappentext der deutschen Ausgabe suggeriert, nicht gegangen. Auf der anderen Seite des Gesetzes, wo sich Crissa Stone bewegt, scheint es doch noch aufregender zuzugehen.
- Wallace Stroby: Zum Greifen nah. (Gone ‘Til November. 2009). Aus dem Amerikanischen von Bernd Gockel. 355 Seiten. Bielefeld: Pendragon 2020. € 18,00.

Bloody China
(TW) Ein wahnwitziges Buch kommt aus der VR China: „Rachegeist“ von Cai Jun. Ein Thriller, der vor Plot-Freude nur so explodiert. 1995 gerät Shen Ming, Lehrer an einer Eliteschulde, in den Verdacht eine Schülerin vergiftet zu haben. Tatsächlich ermordet er danach den Dekan seiner Schule, bevor Shen Ming hinterrücks erstochen wird. In den nächsten zwanzig Jahren geht das Morden fröhlich weiter, beinahe alle Personen, die näher oder ferne mit Shen Ming zu tun hatten, müssen sterben oder werden zu Mördern oder beides. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Shen Ming möglicherweise sieben Jahre nach seinem Tod in dem Knaben Si Wang reinkarniert und einen Rachefeldzug beginnt. Wohl gemerkt: möglicherweise. Cai Jun tanzt in höllischem Tempo auf der Grenze zwischen Kriminal- und phantastischer Literatur, die Implikationen des Wortes „Mystery“ voll ausschöpfend. Der Body Count ist schockierend, keine Figur ist frei von der Gefahr, abgeräumt zu werden. Und vor allem zeigt der Roman ein China, das nur so vibriert vor Korruption, Gier, Nepotismus, sozialer Ungerechtigkeit, Amtsmissbrauch und roher Gewalt, dass man sich schon beinahe wundert, wie dieser Autor nicht-dissident sein kann, sondern buchstäblich Millionen von Büchern in China verkauft. Vielleicht sind die Ränke und Rankünen ein bisschen too much, verblüffend ist „Rachegeist“ allemal. Und sehr unterhaltsam.
- Cai Jun: „Rachegeist“. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. München: Piper 2020, 510 Seiten, € 16,00

Virtuos, verzwickt und zweifelhaft
(JF) Weight-Watchers-Treffen können brutal sein, ganz gleich, ob sie in Oer-Erkenschwick oder New York stattfinden. Oder in unserem Fall in Montevideo. Ursula López, die sich das Geld für ihre Diäten als Übersetzerin und Gelegenheitsschauspielerin verdient, muss immer ganz tief durchatmen, bevor sie den Versammlungsraum betritt, um den Erfolgs- und Versagensmeldungen ihrer Mitleidenden zu lauschen. Wenn dann mal wieder der Strom ausgefallen ist, als sie ihren Wohnblock erreicht, ist das Desaster perfekt. Zu Fuß bis in den 5. Stock aufzusteigen, stellt Ursula vor eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Zu dick, lautet das Verdikt, „viele Kilo Übergewicht“. Und hässlich obendrein. Aber nicht dumm. Deshalb kommt sie gleich auf eine raffinierte Idee, als ein Erpresser anruft und mitteilt, man habe ihren Gatten entführt. Denn Ursula López ist unverheiratet. Und sie denkt gar nicht daran, den Irrtum aufzuklären.
„Falsche Ursula“, eine fulminante Kriminalgroteske der uruguayischen Schriftstellerin Mercedes Rosende, eine Art Prequel zu „Krokodilstränen„, reizt die dramaturgischen Möglichkeiten dieser Verwechslung auf sehr vergnügliche Weise aus. Erzähltechnisch virtuos wird ein verwickelter Plot präsentiert, der gegen Ende erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von Ursulas Auskünften weckt. Aber das ist als Finale dieser großartigen Komödie der Täuschungen nur recht und billig.
- Mercedes Rosende: Falsche Ursula. Kriminalroman. (Mujer equivocada. 2017). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. 204 Seiten. Zürich. Unionsverlag 2020. € 18,00.

En vogue
(TW) „True Crime“ ist en vogue, Stoffe aus der Weimarer Republik sind en vogue und Serial Killer sind sowieso nie out. Insofern ist Dirk Kurbjuweits Roman „Haarmann“ schon vom Production Design her auf eine Win-Win-Situation hin kalkuliert. Erzählt wird die nicht unbedingt als unbekannt zu bezeichnende Geschichte des Mehrfachtäters Fritz Haarmann aus Hannover (der mit dem Hackebeilchen, hingerichtet 1925), den man vermutlich immer noch als den bekanntesten und beliebtesten Serienkiller des deutschen Sprachraums bezeichnen kann, eine Ikone der Populären Kultur spätestens seit Fritz Langs „M“, Ulli Lommels „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ oder Romuald Karmakars „Der Totmacher“. Die True-Crime-Anteile bei Kurbjuweit speisen sich aus den allgemein bekannten Fakten über Haarmann, die Basis dafür legten Theodor Lessings (der einen Cameo bekommt) kritischer Prozessbericht von 1925: „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ und die von Michael Farin und Christine Pozsár herausgegeben „Haarmann-Protokolle“. Also nichts Neues auf der Ebene. Auf der fiktiven Romanebene erfindet Kurbjuweit den Polizisten Robert Lahnstein, der von Bochum nach Hannover beordert wird, um dem Volkszorn durch eine schnelle Überführung des unheimlichen Mörders Einhalt zu gebieten. An der Stelle kutschert der Roman erheblich: Ein fremder Kommissar, weltkriegstraumatisiert (natürlich), plus der Auftritt von Gustav Noske als „schillernde“ Person der Zeitgeschichte. Nicht fehlen darf bei einem solchen Konzept die „Aktualisierbarkeit“. Kurbjuweit stellt die Frage, wie weit eine demokratisch verfasste Polizei gehen darf, um „Sicherheit“ herzustellen, auch wenn das gegen die Bürgerrechte verstoßen sollte. Da schimmert natürlich auch der Fall Jakob von Metzler durch, bei dem 2003 mit Gewaltandrohung versucht wurde, ein Entführungsopfer noch lebend aufzufinden, und der Bezug zur heutigen sicherheitspolitischen Debatte ist evident, aber wenig originell. Und dazu noch ein bisschen Gewaltporn – wir beobachten Haarmann detailgenau beim Zerteilen einer Leiche, wie gemütlich, gar heimelig gruselig. Solch glattes, blankes und routiniertes Kalkül scheint unverhohlen aus jeder Seite des Romans auf, so unverfroren und unverhohlen, dass es schon fast belustigend ist.
- Dirk Kurbjuweit: Haarmann. Ein Kriminalroman. München 2020: Penguin, 361 Seiten. € 22,00

Böse Fragen
(TW) Eher als Meditation denn als durchgeplotteten Roman könnte man Peter Hennings „Die Tote von San Andreu“ verstehen: Die Schwester des Literaturdozenten Lennart Halm ist 2015 einem islamistischen Bombenanschlag in der U-Bahn von Barcelona zum Opfer gefallen. Halm, der seit Jahren den Kontakt zu ihr verloren hatte, fliegt nach Katalonien und muss feststellen, dass seine Schwester kein unschuldiges Opfer war, au contraire. Auch wenn diese Wende keinesfalls überraschend kommt (deswegen ist dieser Spoiler lässlich), besticht der schmale Roman, eher eine lange Erzählung, doch durch die Seriosität, mit der Henning seine „großen“ Themen angeht: Was muss passiert sein, dass eine kluge, schöne und eigenwillige Frau aus den deutschen Mittelschicht sich dem IS anschließt und gegen alle ihre früheren Überzeugungen handelt. Und wie gut können selbst sich nahestehende Menschen einander kennen? Und welche gesellschaftlichen Kräfte sind bei solchen Prozessen im Spiel? Es spricht sehr für Henning, darauf keine Antworten zu liefern, sondern das Kerngeschäft guter Kriminalliteratur zu betreiben: Die wirklich „bösen“ Fragen zu stellen und dahin zu gehen, wo es möglicherweise wehtut.
- Peter Henning: „Die Tote von San Andreu.“ Berlin: :TRANSIT, 2020, 173 Seiten. € 20,00