
LiBeraturpreis 2019 für Mercedes Rosende: „Krokodilstränen“ – Die Laudatio
Estimada Mercedes Rosende, sehr geehrte Damen und Herren,
für Fans der einfachen Weltbilder, könnte man versucht sein zu sagen: Für „Krokodilstränen“ hat Mercedes Rosende ausgerechnet den feministisch inspirierten LiBeratur-Preis gewonnen, weil in diesem Kriminalroman alle männlichen Hauptfiguren unfassliche Trottel sind. Und die weiblichen Hauptfiguren schlau und ausgekocht.
Das stimmt sogar. Aber ganz bestimmt hat Meredes Rosende den LiBeratur-Preis deswegen nicht bekommen. Sie hat ihn bekommen, weil „Krokodilstränen“ ein raffiniert gemachter Roman ist. Ein beinahe klassisch anmutender Kriminalroman sogar, aber eben nur beinahe. Und das ist der Punkt.
Bricht man den Roman auf seinen Plot herunter, ist „Krokodilstränen“ eine sog. caper novel, oder eine heist novel, das heißt, die Erzählung eines Raubs, dessen Vorbereitung, Ausführung und (möglicherweise fatalen) Ergebnisses. Ein Muster also, das seine Standardausprägung (man könnte auch von „Pseudo-Norm“ sprechen) bei Autoren wie Donald E. Westlake oder Garry Disher erfahren hat und seitdem einer der verlässlich funktionierenden Topoi der internationalen Kriminalliteratur geworden ist.
Nun stand, in Bezug auf die lateinamerikanischen Kriminalliteratur, lange das Statement des Kulturtheoretikers Ilan Stavans im Raum, der lateinamerikanische Kriminalroman (was an sich schon eine abenteuerliche Konstruktion ist) leide grundsätzlich und konstitutiv an dem Problem des „Re-Writings“ westlich/US-amerikanischer Modelle. Angesichts der Tatsache, dass Mercedes Rosende eine uruguayische Autorin ist, scheint diese Beschreibung zutreffend – auf den ersten Blick. Denn dass die handelnden Figuren gendermäßig anders quotiert sind – Úrsula, die clevere Profiteurin des Geldraubs, Leonilda Lima, die zähe Polizistin, Germán, der leicht beschränkte Sidekick von Úrsula – könnte man zunächst als lediglich zeitgemäße Anpassung beschreiben, die nichts an den Strukturen des narrativen Modells ändert, ja sogar inzwischen internationaler Standard ist, wie man zum Beispiel an Wallace Strobys Romanen um die Profi-Gangsterin Clarissa Stone sehen kann, die ebenfalls strikt dem Westlake-Muster folgen.

Aber mit diesem eher mechanistischen Re-Writing-Modell kommt man nicht wirklich weiter. Einmal, weil der (immer noch abenteuerliche) lateinamerikanische Kriminalroman natürlich nicht im Nach- oder Ausschreiben „fremder“ Muster aufgeht, bzw. nie aufgegangen ist: Borges hat zwar immer wieder auf Gilbert Keith Chesterton und Agatha Christie rekurriert, aber niemand würde auf die Idee kommen, seine eigenen kriminalliterarischen Texte als epigonal zu beziehen. Zum zweiten sind die diversen Strömungen der lateinamerikanischen Kriminalliteratur so stark geworden, dass sie einen eigenen Resonanz- und Referenzraum geschaffen haben – egal, ob sie aus der eher ludistischen Borges-Tradition kommen oder aus der sozialkritisch, subversiven eines Rodolfo Walsh, was natürlich insbesondere für die novela negra platense gilt, der, aus schlicht geographischen Gründen, auch Mercedes Rosende aus Montevideo zuzurechnen wäre. Kontextualisiert man also „Krokodilstränen“ (und man kann keine Texte einordnen und wirklich verstehen, ohne sie zu kontextualisieren) möglichst genau, liegt es nahe, den Roman als Hybrid zu verstehen. Hybrid nicht in dem Sinne, dass sich zwei oder mehrere Genres dort kreuzten, sondern im Sinne Michail M. Bachtins als „Vermischung zweier sozialer Sprachen in einer Äußerung“. Oder, wie es die Literaturwissenschaftlerin Doris Wieser in ihrem Standardwerk „Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrtausendwende. Typen und Kontexte“ beschrieben hat: „Die lateinamerikanischen Autoren treten in eine von ausländischen Modellen dominierte Kommunikationssituation ein, was es ihnen erlaubt, sowohl nach innen gegen ihr eigenes Gesellschaftssystem als auch nach außen gegen die ausländische Pseudonorm einen subversiven, hybriden Diskurs zu artikulieren“.
Genau das macht Mercedes Rosende mit „Krokodilstränen“.

Sie suspendiert – zwei Fliegen mit einer Klappe, sozusagen – einerseits die lateinamerikanischen Traditionen, sowohl die Borges´sche art pour art-Linie als auch die explizit sozialkritische Linie. Die Borgeseske Linie ganz evident, in dem sie einfach nicht vorkommt, nicht einmal als zu dementierende Folie (die Signifikanz des lauthals Nicht-Vorhandenen) und die sozialkritische Linie, in dem sie ihre durchaus und massiv vorhanden Sozialkritik implizit aufscheinen lässt, mit den Mitteln der Brechung, der Polyphonie und der Komisierung. Mit den gleichen stilistischen Mitteln hält sie sich andererseits das amerikanische Modell polemisch vom Hals, sie löst seine autoritär monologische Struktur auf. Nicht nur durch das gendermäßige Counter-Casting der Hauptfiguren, sondern vor allem durch den Multiperspektivismus des Romans, der selbst die auktorialen Teile multiphon erscheinen lässt. Die Erzählinstanz weiß manchmal, was in den Köpfen der Hauptfiguren vorgeht, manchmal spekuliert sie nur und stellt diese Spekulationen dann zu rezeptiven Disposition.
Aber der Roman geht nicht nur in seinem Plot resp. seiner generellen Erzählstrategie auf. „Krokodilstränen“ ist auch deswegen preisträchtig, weil er eine Menge anderer Codierungen aufbietet.
Da ist zum einen der grundsätzlich schlechte Witz des Universums, zwei Personen namens Úrsula Lopez in die Handlung zu involvieren und diese Konstellation zum grundkomischen Ausgangspunkt aller Ereignisse zu machen. Kontingenter geht´s nimmer. Die eine ist die Gattin des entführten Industriellen Salgado, die andere, die für den Roman wichtigere Úrsula, ist die leicht übergewichtige Stalkerin, die ihren von ihrem monströsen Vater ansozialisierten Minderwertigkeitskomplex mittels sie befriedigender Morde zu dämpfen sucht und erst dann zur Ruhe kommt, wenn sie sagen kann: „Úrsula, das bin ich“ und „Endlich werde ich nicht mehr ich selbst sein“.
Gegen Kontingenz aber hilft – vermeintlich oder angeblich – Transzendenz. Mercedes Rosendes tief ironisch-paradoxer Umgang mit Transzendenz gehört zweifelsohne zu den großen Qualitäten ihres Romans.
Das fängt mit dem Original-Titel an – „El Miserere de los Cocodrilos.“ „Seufzend vergoss, um Vergebung flehend, das Krokodil seine Tränen“ heißt es in dem Motto-Gedicht des uruguayischen Lyrikers Julio Herrera y Reisig (1875 – 1910, dessen Weg von den Romantik zum Surrealismus interessant genug ist) und mit dem Misere, das im Originaltitel steht, ist vermutlich Vivaldis „Miserere“ gemeint, auf jeden Fall wird es explizit aufgerufen – ob nun RV 638 oder RV 641 ist eher egal -, wichtig ist nur, dass Rosende mit dem Misere als Element des Buß-Psalmes, also Psalm 51 spielt: „Tilge meinen Frevel nach deinem reichen Erbarmen“.
Danach sehnt sich permanent ausgerechnet der schleimige Anwalt und Obergangster Antinucci, der sich um seine „Reinheit“ sorgt und pausenlos bemüht ist „frei von Sünde zu sein“, was ihn aber nicht im Geringsten daran hindert, Leute einfach mal so zu erschießen, und sei´s mit einem Raketenwerfer. Danach trieft er vor Reue.
Und auch Úrsula, die Mörderische, wird vom schlechten Gewissen gepeitscht. Sie hat massive Schuldgefühle, wenn sie ihrem Voyeurismus nachgeht – sie peept mit einem starken Fernrohr in anderer Leute Schlafzimmer -, denn „sie will leiden“. Was sie wiederum nicht daran hindert, den armen Trottel Germán transzendent zu motivieren. Immer, wenn er wieder versagt (und auf wundersame Weise doch obsiegt) rückt sie ihm mit Offenbarung, 3:16 zu Leibe: „Den Lauen aber wird Gott ausspeien.“ Tatsächlich aber ist sie nur auf sehr toxische Art zu versöhnen: Nämlich durch das Lob aus dem Grabe, das ihr ihr Vater posthum und weil sie sich immer mit ihm post mortem unterhält, spendet, als sie endlich skrupellos den Raubüberfall zu ihren Gunsten manipuliert hat. Töten und Verbrechen (von Úrsula an der Stelle frei von jeglichem Schuldgefühl „als Handwerk“ verstanden) werden so zu einem ganz und gar un-transzendenten Akt der Emanzipation. Und das ist, zumindest in meinem Verständnis, komisch.
Und auch Leonilda Lima, die wackere Polizistin in einem hochkorrupten Polizeiapparat, der eher mit den Verbrechern unter einer Decke steht, glaubt zwar ganz weltlich fest und treu an „Gerechtigkeit“, traut dem Braten aber nicht so recht, sondern sichert sich ebenfalls transzendent ab: auf ihrem Schreibtisch steht ein Heiligenbild.
Das allerdings ist schon stark: Ein auf Kontingenz basierender Roman bekommt hier einen massiven und deutlichen transzendenten Subtext, den aber niemand wirklich ernst nimmt. Insofern ist „Krokodilstränen“ in ein Roman, dessen eigentliches Thema Heuchelei (ein ebenso theologisch aufgeladener Begriff, laut Adelung: „ein äußern Schein der Heiligkeit, d. i. der Gottesfurcht, annehmend und habend“) ist – auf so ziemlich allen Ebenen. Oder, pointiert gesagt, ein Roman als Absage an alle Transzendenz, die sich so als nackte Ideologie darstellt und für die Realitäten unserer Welt unbrauchbar geworden ist. Und insofern auch keinesfalls zufällig, sondern eher notwendig, ein Kriminalroman.
Angesichts der zunehmen totalitär-ideologischen Tendenzen unserer Zeit liegt darin in der Tat ein großes subversives und somit im besten Sinne aufklärerisches Statement. Und somit wird auch das feministische Countercasting des Romans organischer Teil dieses spezifischen Aufklärungsprojekts – und nicht nur ein simpler Reflex auf „männliche Muster“.
Insofern bekommt „Krokodilstränen“ zurecht den LiBeraturpreis. Weil die Frauen clever und die Männer Trottel sind. Aber eben ganz anders, als man zunächst vermuten mag. Herzlichen Glückwunsch, liebe Mercedes Rosende.
Vielen Dank.
© 10/2019 Thomas Wörtche
Es handelt sich hierbei um die ausformulierte Urfassung. Der tatsächliche Redetext wich unvermeidlicherweise davon ein wenig ab.
- Mercedes Rosende: Krokodilstränen (El miserere de los cocodrilos, 2016). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2018. Englische Broschur, 224 Seiten, 18 Euro.
Siehe auch die Besprechung von Katja Bohnet in CrimeMag September 2018.
Mercedes Rosende (*1958 in Montevideo, Uruguay) studierte Recht und Integrationspolitik. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Anwältin und Journalistin aktiv. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2005 erhielt sie den Premio Municipal de Narrativa für Demasiados Blues, 2008 den uruguayischen Nationalliteraturpreis für La Muerte Tendrá tus Ojos und 2014 den Código Negro für Falsche Ursula. 2019 wurde sie für ihren Roman Krokodilstränen mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.