
Kurzbesprechungen von fiction – Joachim Feldmann (JF), Hans Helmut Prinzler (hhp) und Frank Rumpel (rum) über:
Pascal Dessaint: Verlorener Horizont
Garry Disher: Barrier Road
Katrine Engberg: Das Nest
Castle Freeman: Herren der Lage
Charles Lewinsky: Kastelau
Petros Markaris: Das Lied des Geldes
Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels
Quentin Tarantino: Es war einmal in Hollywood

Menschenfreundliche Tradition
(JF) Constable Hirschhausen ist ein guter Polizist. Einer, der sich kümmert. Und dessen Aufmerksamkeit nur wenig entgeht. Weder das vernachlässigte Kind, das in einem Wohnwagen dahinvegetiert, noch ein gefährlich mit Schrott überladener Lastwagen. Manchmal drückt er ein Auge zu und belässt es bei einer Ermahnung, doch das ist nicht immer die richtige Entscheidung. Hirsch, wie er kurz genannt wird, weiß, dass er nicht perfekt ist. Die Arroganz höhergestellter Kollegen erträgt er stoisch, obwohl er über das bessere kriminalistische Gespür verfügt. All das macht ihn zur idealen Identifikationsfigur.
Mit Barrier Highway legt der australische Autor Garry Disher seinen dritten Kriminalroman um den sympathischen Ermittler im südaustralischen Outback, der sich mit allerhand unerfreulichen Ereignissen herumschlagen muss, vor. Und wieder sind es unscheinbar wirkende Dinge, die eine rasante kriminelle Dynamik entwickeln können. Vom großangelegten Betrug bis hin zum Mord. Da sind die irischen Wanderhandwerker, die naiven älteren Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, noch von der harmloseren Sorte.
Garry Disher ist ein Meister des subtilen Spannungsaufbau und versiert in der Kunst der Mimesis. Denn es ist gar nicht so einfach, eine realistisch wirkende Erzählprosa zu gestalten, die den fiktiven Figuren mit Empathie begegnet. In Paul Hirschhausen findet diese menschenfreundliche, aber mitnichten idealisierende literarische Tradition, die sich bis ins 18. Jahrhundert, namentlich bis zu den Romanen Henry Fieldings („Tom Jones“), zurückverfolgen lässt, einen zeitgemäßen Protagonisten.
Garry Disher: Barrier Road (Consolation, 2021). Aus dem Englischen von Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2021. 345 Seiten, 22 Euro.

Von der Insel in die Zukunft
(rum) Ein Inselleben führte Heinrich Steinfests Protagonist Leo Prager über 40 Jahre lang, ein Gestrandeter, der sich mit den Verhältnissen arrangiert hatte. Die freilich waren nicht allzu übel: eine abgelegene private Karibikinsel war es, auf die das Meer den Schiffbrüchigen seinerzeit zufällig schwemmte. Und dort blieb er, bis er nun, mit 61, zurück nach Wien musste. Seine Schwester wurde ermordet, er soll sie identifizieren und ist damit zurück in jener Stadt, die er seinerzeit als Jugendlicher überstürzt verlassen hatte. „Er hatte dieses Land gewissermaßen in der Bronzezeit verlassen und war nun in der Zukunft gelandet, auch wenn diese Zukunft immer noch etwas Bronzezeitliches besaß – und das nennt man dann wohl Tradition.“
Seine Schwester war Stenographin, arbeitete unter anderem für einen obskuren Unternehmer. Aber auch das ist nur eine vage Spur. Weil die Polizei nicht richtig vorankommt, engagiert Leo Prager auf Seite 174 eine Privatdetektei, die von der stilsicheren Frau Wolf geleitet wird. Sie war zunächst die Sekretärin des einarmigen, in bisher fünf Romanen als Detektiv arbeitenden Markus Cheng, doch hatten die beiden zuletzt beschlossen, die Plätze zu tauschen. Fast ebenso wie die Aufklärung des Mordes aber interessiert Prager eine persönliche Angelegenheit. Im Bücherregal seiner Schwester fand er ein 1970 erschienenes Buch (das übrigens den Titel „Die Möbel des Teufels“ trägt), in dem Ereignisse vorweg genommen werden, die sich erst 1976 zutragen sollten. Am 1. August stürzte die Wiener Reichsbrücke ein und Leo Prager war vor Ort. Er filmte zufällig den Einsturz, ließ den Film aber nie entwickeln. Denn er meinte, durch das Objektiv etwas gesehen zu haben, was in den Nachrichten danach nicht erwähnt wurde. Seine Beobachtung, fürchtete er, könnte am Ende womöglich Realität schaffen. „Eine Idee, die er schon lange mit sich trug.“
Es ist dieser Punkt, der auch in Heinrich Steinfests neuem Roman Die Möbel des Teufels eine zentrale Rolle spielt, ein Gedanke, der sich in der Realität spiegelt, sie hie und da womöglich etwas weitet, sie aber viel häufiger verdeckt. Das liefert dem aus Wien stammenden Stuttgarter Autor Gelegenheit, wunderbare Bögen zu schlagen, auszuholen und weit abgelegene Themen zusammen zu spannen, einprägsame Bilder zu entwerfen, also Geschichten zu erzählen, die sonst womöglich etwas überdreht oder bemüht wirken würden. Steinfests Geschichten aber wurzeln im Alltag (hier bereits im Pandemie-Alltag), fußen auf genauer Beobachtung, die er gerne weiterspinnt, neu verbindet und so dem noch so Abgefahrenen Tiefe gibt. Und dafür ist ihm jedes Thema recht, hier ist unter anderem einiges über Qi Gong zu lesen, über das stilvolle, disziplinierte Rauchen, über den Wert von Kunst und deren Fälschung sowie das nur allzu oft verquere Miteinander. Hineingestrickt hat er einen Kriminalfall, eine Ermittlung, die einige Haken schlägt, deren Beifang jedoch reichhaltiger und interessanter als die Auflösung ist, was bei einem Meister der gehaltvollen Abschweifung nicht weiter wundert. Wie selbstverständlich er da etwa Frau Wolf zur Ermittlerin macht, ihr Profil und Autorität gibt und seine Serienfigur Cheng in den Hintergrund treten lässt, ist schon sehr lässig, wie er diese Geschichte zusammen schnürt und zum leuchten bringt, eine Klasse für sich.
Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels. Frau Wolf und Cheng ermitteln. Piper-Verlag, München 2021. 432 Seiten, 16 Euro.

Das Gute im Menschen
(JF) Ein Wohnmobil, eine ausrangierte Frittenbude und ein Wohnwagen: Anatole hat sich am Strand nahe dem französischen Kanalhafen Calais häuslich eingerichtet. Bis vor kurzem gab es dort den „Dschungel“ – ein wildes Camp von Flüchtlingen, die hofften, sich irgendwie nach England durchschlagen zu können. Gerne wäre Anatole ein richtiger Jäger, doch meistens bleibt es dabei, dass er Lockvögel aus Treibholz schnitzt. Seine Beute macht er im Supermarkt mit dem strategisch geplanten Einsatz von Rabattgutscheinen. Er liebt Filme mit Jean Gabin und die Rubettes, eine englische Band, die mehr als vier Jahrzehnte nach ihrem größten Hit noch immer in ihrer Bühnenverkleidung auftrete. Das verdiene Respekt, sagt Anatole, und er meint es auch so.
Zwei andere Außenseiter haben bei ihm Unterschlupf gefunden: Die junge Lehrerin Lucille, ausgebrannt von der freiwilligen Arbeit im „Dschungel“ und enttäuscht von ihrem treulosen Freund, ist im Wohnwagen untergekommen, und der Ganove Loik, ein „Beinahe-Schweinehund“, der Arbeit beim Neubau des Fährterminals gefunden hat, wohnt in der Frittenbude. Wie fragil diese skurrile Gemeinschaft ist, ahnt man schon während der ersten Kapitel von Pascal Dessaints finster-poetischem Roman Verlorener Horizont. Loiks Temperament ist unberechenbar, und auch Lucille, die die Geschichte des ungewöhnlichen Trios erzählt, weiß sich ihrer Gefühle nicht sicher. Die unausweichliche Katastrophe ereignet sich fast beiläufig, die Opfer sind die denkbar unschuldigsten. Dafür die gesellschaftlichen Verhältnisse, so schlimm sie auch sind, verantwortlich zu machen, kommt Pascal Dessaint, schon aus Respekt vor seinen Figuren, nicht in den Sinn. Nur so kann sich das tragische Potential dieses Romans, der gelegentlich die Grenze zur Burleske streift, entfalten.
Was uns zurück zu den Rubettes führt. Als die aus Studiomusikern zusammengestellte Band 1974 mit „Sugar Baby Love“ die Hitparaden stürmte, war der Sänger Paul da Vinci schon nicht mehr dabei. Sein Ersatzmann Alan Williams bewegte bei Auftritten die Lippen zum Playback. Dass heute, fast ein halbes Jahrhundert später, gleich zwei Gruppen dieses Namens, eine mit da Vinci, eine mit seinem Nachfolger, von einer Oldieshow zur nächsten touren, ist fast bemerkenswerter als die anhaltende Gültigkeit der Jean Gabin-Filmzitate, die Anatole wie magische Formeln einsetzt: „Meine große Schwäche ist, an das Gute im Menschen zu glauben, an seine Großzügigkeit …“. Und manchmal wirken sie sogar.
Pascal Dessaint: Verlorener Horizont (L’horizon qui nous manque, 2019). Aus dem Französischen von Ronald Voullié und Beate Braumann. Polar Verlag, Stuttgart 2021. 222 Seiten, 22 Euro.

Schlaue Hinterwäldler
(rum) Die Ruhe täuscht meist. Besonders gilt das für Cardiff, einem Ort im ländlichen Vermont an der US-Ostküste, wo Sheriff Lucian Wing versucht, für Ordnung zu sorgen. Diesmal bekommt er Besuch von einem Anwalt aus der Stadt, der behauptet, im Auftrag seines einflussreichen Arbeitgebers dessen jugendliche Tochter zu suchen, die zusammen mit einem Jungen aus einem Internat ausgebüxt sei und sich in der Gegend verstecke. Wing soll sie suchen, spürt die beiden auch tatsächlich in einem Waldstück auf, beschließt dann aber, sie lieber dort zu lassen, weil er dem Anwalt nicht über den Weg traut. Allerdings finden auch dessen Männer fürs Grobe das Lager. Die jungen Leute können fliehen, Wing bringt sie in einem ausrangierten Motelzimmer unter. Die Jungs des Anwalts finden auch dieses Versteck und zerlegen es. An einem weiteren kommt es zu einer Schießerei. So richtig im Griff hat die Lage hier niemand.
Freemans Protagonist gibt den Hinterwäldler in Vollendung, lässt sich alles gern haarklein erklären, walzt das Offensichtliche nochmals breit aus, was immer wieder zu wunderbar weitschweifigen und doch fein geschliffenen Dialogen führt. Denn dieser Lucian Wing ist als Sheriff gewählt, muss es irgendwie allen recht machen, sich um alle Kleinigkeiten im Tal kümmern und darf dabei das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren. Es ist ein Balanceakt und seine Strategie ist es, Ruhe zu bewahren, abzuwarten, Dinge auch mal laufen zu lassen und sich naiver zu geben, als er ist, gerade gegenüber Städtern, die meinen, in der Provinz sei einfach alles provinziell. Denn Lucian Wing kennt die Menschen, weiß „dass die Motive für das, was die Leute so tun, meist ziemlich offensichtlich sind. Normalerweise nehmen sie den kürzesten Weg, besonders wenn sie was Verbotenes vorhaben“.
Es ist der vierte Roman um den etwas aus der Zeit gefallenen Sheriff, den der 76-jährige Castle Freeman da mit lakonischem Witz in Szene setzt und dabei im luftigen Plauderton Geschichten erzählt, die so gar nicht ins ländliche Vermont passen wollen. Denn hier geht es um handfeste Auseinandersetzungen, um Entführung, Erpressung, Korruption. Allerdings hat dieser Roman nicht ganz die feinnervige Verspieltheit und die Fülle etwa des vorangegangenen Romans „Der Klügere lädt nach“. Die Geschichte von Herren der Lage bleibt etwas schlicht, so dass die gelegentlich enervierend umständliche Art des Erzählens ihr hier eher im Weg steht. Ein kleines, aber immer noch lesenswertes Tief in der Reihe und kein Grund, sich nicht auf den nächsten Freeman zu freuen.
Castle Freeman: Herren der Lage (Children of the Valley, 2020). Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser-Verlag, München 2021. 183 Seiten, 20 Euro.

Reales und Fiktives, wild gemischt
(hhp) Der Film ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD von Quentin Tarantino war vor zwei Jahren im Kino zu sehen. Jetzt gibt es eine Romanversion, die gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist: Es war einmal in Hollywood. Sie erweitert die Handlung durch lange Rückblenden, gibt den Figuren eine konkrete Vergangenheit und folgt einer anderen Dramaturgie. Das hat Vor- und Nachteile. Das Personal ist weitgehend identisch. Hauptpersonen sind der gealterte Westernstar Rick Dalton, der Alkoholiker ist, der Stuntman Cliff Booth, der Dalton als Freund und Chauffeur durch schwierige Zeiten begleitet, die Schauspielerin Sharon Tate, die mit ihrem Ehemann Roman Polanski im Nachbarhaus wohnt, der Clan des Musikers und Kriminellen Charles Manson, der auf der Spahn Movie Ranch in der Nähe von Los Angeles lebt, der Pferdezüchter George Spahn, der inzwischen erblindet ist, Daltons Agent Marvin Schwarz, der im Hintergrund wirkt. In Tarantinos Film werden sie von Leonardo DiCaprio (Dalton), Brad Pitt (Cliff), Margot Robbie (Sharon), Damon Harriman (Manson), Bruce Dern (Spahn), Al Pacino (Schwarz) gespielt.
160 Filmminuten erweitern sich auf 410 Buchseiten. Die Rückblenden in die Vergangenheit sind oft sehr detailliert und reduziert auf die Aufzählung von Namen und Titeln. Reale und fiktive sind wild gemischt. Die Lebensgeschichte von Cliff wird erweitert durch seinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg und die Morde, die er in den 50er Jahren begangen hat. Wenn er von Dalton nicht gebraucht wird, geht er gern ins Kino, er ist ein Fan von Akira Kurosawa. Vor den Dreharbeiten zur Pilotfolge der Serie LANCER werden wir ausführlich in die Geschichte der Familie des Viehzüchters Lancer eingeführt, speziell in die seiner Söhne Scott und Johnnie. Schön sind die langen Dialoge zwischen Dalton und der Kinderdarstellerin Trudi Fraser, die in der Serie Mirabella spielt. Mit einem nächtlichen Telefonat von ihnen endet auch das Buch. Ein Happyend. Der Weg dorthin ist lang.
Quentin Tarantino: Es war einmal in Hollywood (Once Upon a Time in Hollywood, 2021). Aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Thomas Melle. Kiepenheier & Witsch, Köln 2021. Hardcover, 416 Seiten, 25 Euro. – Anm. d. Red.: Siehe auch die englischspachige Besprechung von Nick Kolakowski in dieser CrimeMag-Ausgabe hier nebenan.

An das Gute glauben
(JF) Die Linke ist tot. Das meint zumindest der Altkommunist Lambros Sissi und lässt sie symbolisch zu Grabe tragen. Der Trauerzug aber soll der Beginn einer neuen Bewegung sein, in der sich die Armen wiederfinden. Und von denen gibt es im heutigen Griechenland sehr viele. Ältere Arbeitslose, die mit 55 keinen Job mehr finden, junge Schul- und Universitätsabsolventen, die noch nie eine feste Stelle hatten oder zu einem Hungerlohn arbeiten, und all die Ladenbesitzer und Kleinunternehmer, denen mangelnde Nachfrage geschäftlich den Garaus bereitet hat. Dazu kommen Flüchtlinge aus Afrika und osteuropäische Tagelöhner, denen nicht selten der blanke Hass der Einheimischen entgegenschlägt.
All diese Menschen sind Lambros Sissi, der ein Obdachlosenheim leitet, willkommen. Und sein Freund, Hauptkommissar Kostas Charitos von der Athener Kriminalpolizei, sorgt dafür, dass die Protestkundgebungen unter dem Schutz der Staatsgewalt stattfinden und störende Rechtsradikale keine Chance haben. Fast eine Idylle, möchte man meinen, wären da nicht die Morde an zwei ausländischen Geschäftsleuten. Ein Investor aus Saudi-Arabien und ein chinesischer Immmobilienaufkäufer werden erstochen aufgefunden. Bekennerschreiben gibt es nicht, aber nach jeder Tat ist offenbar ein alter Schlager, Das Lied des Geldes, abgespielt worden, so dass an der politischen Botschaft kein Zweifel herrscht. Zu einem Zeitpunkt, da, so eine verbreitete Meinung, nur ausländisches Kapital die griechische Wirtschaft retten kann, sind solche Nachrichten fatal. Kommissar Charitos‘ Ermittlungen stehen unter erheblichem Druck, gestalten sich aber recht mühselig. Entscheidende Hinweise ergeben sich erst, als ein dritter Mord geschieht. Dass hinter den Attentaten jemand steckt, „der meint, dass die Armut verschwindet, wenn man ihre Urheber beseitigt“, wie ein Bewohner des Obdachlosenheims resümiert, ist keine Überraschung.
So endet Petros Markaris‘ dreizehnter Kriminalroman um den liebenswerten Souflaki-Liebhaber und scharfsinnigen Ermittler Kostas Charitos mit einem Plädoyer des Alt-Kommunisten Sissi für gewaltfreies politisches Engagement und gegenseitige Hilfe in einer „Internationale der Armut“. Und man möchte wirklich glauben, dass sein historischer Optimismus ihn diesmal nicht trügt.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes (Ο φόνος είναι χρήμα, 2020). Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 311 Seiten, 24 Euro.

Die Idylle als Kriegsschauplatz
(hhp) Der Roman des Schweizer Autors Charles Lewinsky wurde vor sieben Jahren im Verlag Nagel & Kimche publiziert. Jetzt ist bei Diogenes die Taschenbuchausgabe erschienen. Erzählt wird die fiktive Geschichte eines Filmteams, das im Winter 1944/45 aus dem bombenbedrohten Berlin in die Idylle des bayerischen Dorfes Kastelau reist, um dort den Film „Lied der Freiheit“ zu drehen. Die Idylle wird zu einem psychischen Kriegsschauplatz, am Ende wird der Drehbuchautor offenbar von einem Schauspieler erschossen. Wir erfahren die Geschichte aus mehreren Perspektiven, wir lesen Interviews, Tagebucheintragungen, Drehbuchauszüge, diverse Dokumente. Die Montage führt zu einer spannenden Lektüre, der Stil der Einzelteile ist sehr unterschiedlich, und der Blick zurück in die Nazizeit ist erstaunlich informativ.
Natürlich erinnern wir uns daran, dass der Autor Erich Kästner die letzten Monate vor Kriegsende mit einem Filmteam in Tirol verbracht hat, um dort das Filmprojekt „Das falsche Gesicht“ zu realisieren. Darüber gibt es seine Tagebuchaufzeichnungen „Notabene 45“. Lewinskys Texte sind pure Fiktion.
Charles Lewinsky: Kastelau. Diogenes Verlag, Zürich 2021. Taschenbuch, 416 Seiten, 13 Euro.

Wohl wahr
(JF) Altersdemenz, Alkoholismus und Spielsucht, es gibt kaum ein Problem, das die dänische Schriftstellerin Katrine Engberg in ihrem Kriminalroman Das Nest unerwähnt lässt. Und wir reden von der Nebenhandlung. Im vierten Band ihrer Serie um Anette Werner und Jeppe Kørner von der Kopenhagener Polizei dürfen auch Umweltverbrechen und Kindesmissbrauch nicht fehlen. Dass die beiden Gewalttaten, um deren Aufklärung es geht, in ihrer relativen Zufälligkeit angesichts dessen keine entscheidende Rolle spielen, würde für den Roman sprechen, hätte die Autorin darauf verzichtet, eine ihrer Ermittlerfiguren zum Abschluss über die schlimmen Konsequenzen fehlgeleiteter Ambitionen sinnieren zu lassen. „Wenn man liebt, tut man Böses“, heißt es da in berückender Schlichtheit. Wohl wahr. Oder auch nicht.
PS: Nach dem „Wortwitz“, der die deutsche Krimiautorin Nele Neuhaus, wie man auf dem Umschlag lesen kann, bei der Lektüre von Engbergs Romanen „schmunzeln oder innehalten“ lässt, sucht man in diesem Buch vergebens.
Katrine Engberg: Das Nest (Vådeskud, 2019). Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 414 Seiten, 20 Euro.