Geschrieben am 14. April 2018 von für Crimemag, CrimeMag April 2018

Bloody Chops April 2018

bloody chops

Bücher, kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW) über …

Helmut Böger: Mord im Adlon
Jonas Bonnier: Der Helicopter Coup 
Christopher Brookmyre: Wer andern eine Bombe baut
Curtis Dawkins: Alle meine Freunde haben wen umgebracht
Julia Ebner: Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen
Castle Freeman: Der Klügere lädt nach
Jim Heimann: Dark City. The Real Los Angeles Noir
Barbara Korte: Geheime Helden. Spione in der Populärkultur des 21. Jahrhunderts
Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Connie Palmen: Die Sünde der Frau
Sven Recker: Fake Metal Jacket
Sarah Schmidt: Seht, was ich getan habe
Martin Cruz Smith: Im Schatten von San Marco
Boris Strugatzki: Die Suche nach der Vorherbestimmung
Douglas E. Winter: Run

Im Schatten von San Marco von Martin Cruz Smith

Das Mädchen aus Venedig

(AM) Es gibt sie, die Altersmilde, nicht immer muss das eine zahnlose Sache sein. Ein wenig Abgeklärtheit dem Leben gegenüber ist die schlimmste Haltung nicht, einige Autoren entwickeln das in ihrer letzten Schaffensphase zur Meisterschaft. Aber es ist ein Wechsel in eine andere Liga – ein Gebißwechsel, um es mit einem literarischen Kalauer zu sagen -, das muss nicht immer gut gehen. Für Leser heißt das, Abschied zu nehmen von einem Autor, wie er einem vertraut war, und seiner neuen, weicheren Stimme zu folgen. Martin Cruz Smith ist solch ein Fall. Seine acht illusionslosen Romane um den russischen Polizisten Arkadi Renko, entstanden zwischen 1981 („Gorki Park“) und 2013 („Tatjana“) gehören zum Kanon der Kriminalliteratur (siehe Thomas Wörtche, 1993). Leider dürfen wir wohl nicht mehr mit einer Fortsetzung rechnen. Cruz Smith, 75 Jahre alt und seit 1995 an Parkinson leidend, ist zu gebrechlich geworden, seine Romane lebten sehr von eigener Vor-Ort-Recherche. Für seinen jüngsten Roman (in USA 2016 erschienen) hat er die verstrahlten Ruinen von Tschernobyl und das brutale, zeitgenössische Moskau gegen Venedig eingetauscht, taucht es in einen goldenen Weichzeichner, erzählt eine Geschichte, von der man ab irgendwann will, dass sie gut ausgeht. Im Schatten von San Marco ist historischer Politthriller und Liebesgeschichte, „The Girl from Venice“ lautet der Originaltitel, auch das eine Abkehr von früherer Härte. Die gute Nachricht ist, dass es funktioniert. 

Von Alan Fursts letzten Romanen kann man das leider nicht mehr sagen. Wie bei ihm bereits länger zu beobachten, gibt es auch bei Martin Cruz Smith den Effekt, dass einer elegisch gewordenen Erzählweise die Unmittelbarkeit abhanden kommt. Ein auktorialer Ton verstärkt den Milchglaseffekt, der sich vor die erzählerischen Details legt und ihnen Dornen, Rauheit und Affekte raubt. Milde eben. Aber der alte Markenkern, er ist noch da. Cruz Smiths Recherchefreude gilt dieses Mal dem Fischermilieu in der Lagune von Venedig anno 1945 und dem Kriegsende in Italien, zeigt in filmreifen Szenen die letzten Tage von Mussolinis Regime in Salò, bringt einen Fieseler Storch zum Fliegen (Cenzo war im Abessinien-Krieg Pilot von Aufklärungsflugzeugen) und zeigt sich auch sattelfest bei einem typisch italienischen Macho-Satz wie: „Diese Celestina hat einen Arsch wie ein Maserati.“ Tatsächlich baute das Unternehmen mit dem Dreizack im Logo seit 1914 Fahrzeuge, schnelle dazu, mit tatsächlich schönen Hinterteilen. Alleine der Maserati Tipo 6CM gewann bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs insgesamt 19 Rennen.
PS. In seinen schwierigen und schmerzhaften Schreibprozess gab Martin Cruz Smith in einem Porträt der „New York Times“ im November 2013 Einblick.

Martin Cruz Smith: Im Schatten von San Marco (The Girl from Venice, 2016). Deutsch von Rainer Schmidt. C. Bertelsmann Verlag, München 2018. 352 Seiten, 20 Euro.

chop castle ARTK_CT0_9783312010585_0001Mit kräftigem Strich

(TW) Glücklicherweise ohne Aufwand und Getue funktioniert Castle Freemans Der Klügere lädt nach. Im Grunde ist der Roman ein sehr, sehr säkulares Re-Writing von Jim Thompsons „Pop 1280“ (oder eher von Bernard Taverniers Verfilmung „Coup de torchon“, ein all time favorite). Der gehörnte, harmlos und gutmütig tuende Dorfsheriff Lucian Wing hat sehr effektive Vorstellungen vom ruhigen Landleben und eine sehr konsequente Einstellung, was man so mit den Störenfrieden machen kann, fein tariert nach der Schwere ihrer lästigen Missetaten. Und wer richtig auf Ärger aus ist, tja …

Transzendenz oder irgendeinen anderen metaphysischen Fidelwipp (wie bei Thompson/Tavernier) braucht Wing überhaupt nicht, er agiert ganz und gar pragmatisch und with a little bit help from his friends. Das Ganze ist gutlaunig, sehr komisch, ohne Country-Noir-Albernheiten, strikt und kunstfertig durcherzählt wie ein kräftiger Strich, mit bezauberndem Sarkasmus. Absolut vergnüglich.

Castle Freeman: Der Klügere lädt nach (Old Number Five; noch keine US-Publikation angekündigt). Übersetzung: Dirk van Gunsterer. Nagel & Kimche, Zürch 2018. 208 Seiten, 19 Euro.

chop Curtis Dawkins 46857Darf man einen Mörder preisen?

(AM) „Italian Tom war Saucier gewesen, bevor ihn ein Cadillac mit hundert Sachen erwischte und ihm die Rezepte aus dem Schädel haute. Eine blasse Linie wie eine alte, glatte Schweißnaht zog sich quer über seine Stirn, gespickt mit den dunklen Punkten der Nahtstiche. Er war noch keine fünf Minuten bei uns in der Zelle, als er sich schon mit den Fingerknöcheln an die Narbe klopfte, was sich blechern anhörte, als würde er eine offene Coladose anschnippen. »Komm, probier du auch mal«, sagte er und kam einen Schritt näher.“

So beginnt die erste Story in Alle meine Freunde haben wen umgebrachtvon Curtis Dawkins. Es sind allesamt Geschichten von Männern hinter Gittern. Von Männern, die schlimme Dinge getan haben. Von Männer, die deshalb viel verloren. Von Männern, die irgendwie auf den Beinen bleiben wollen. Von Männern, denen – so sagt es das Motto der „Dears“ – zwar kaltes Blut durch die Adern fließt, deren Herz aber immer noch zur Liebe fähig ist.
Curtis Dawkins selbst ist einer von ihnen. Vater von drei Kindern, Master of Fine Arts in Literarischem Schreiben an der Western Michigan University, Veröffentlichungen in Literaturmagazinen. An Halloween 2004 erschießt er, berauscht von Crack und Wodka, einen ihm völlig unbekannten Mann. Mitten ins Herz. Jetzt sitzt er lebenslänglich, ohne Aussicht auf Bewährung. Lakeland Correctional Facility in Coldwater. Und er schreibt. Wie die Besten der Besten. Große Literatur.

In den USA gab und gibt es seinetwegen eine ethische Debatte. Lässt die Kunst sich von ihrem Schöpfer trennen? Darf man einen Mörder preisen? Darf ein Mörder im Literaturgeschäft Kohle machen? Schreibkurse für Gefängnisinsassen gibt es zwar wie Sand am Meer, einen Verleger und große Öffentlichkeit aber finden nur wenige Werke. Curt Dawkins gelang das sofort, sein Erzählband The Graybar Hotel, so der Originaltitel, erschien im Verlag Simon & Schuster, am 4. Juli, Unabhängigkeitstag. Joyce Carol Oates attestierte: „Kein Zweifel: Dawkins ist ein sagenhaft begabter Erzähler.“

Der Bruder des Ermordeten, ein Marine, findet nicht, dass Dawkins etwas veröffentlichen oder Zeit seines Lebens Freude empfinden dürfe. Dawkins selbst ließ sich im Gefängnis den Auftakt von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, in dem die Reise in den Wahnsinn führt, auf die Brust tätowieren: „A screaming comes across the sky…“

Vierzehn Geschichten enthält der Band, es sind die vielleicht besten, die je über Gefängnis geschrieben worden sind. Ruhig, genau, humorvoll, lakonisch, detailreich, wunderbare Dialoge, brillant konstruiert, unaufgeregt. Wie aus einem Lehrbuch für Kurzgeschichten und wie aus einem Lehrbuch auch, wie wir über Gefängnis denken sollten.

Curtis Dawkins: Alle meine Freunde haben wen umgebracht. Stories (The Graybar Hotel, 2017). Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2018. 212 Seiten, Klappenbroschur, 14,95 Euro. Leseprobe hier.

LOS_ANGELES_NOIR_VA_INT_3D_04655Konstitutiv für den Noir selbst

(TW) Nicht nur buchstäblich schwergewichtig ist der von Jim Heimann herausgegebene und kommentierte Prachtbildband Dark City. The Real Los Angeles Noir. Heimann historisiert Los Angeles als Noir-Metropole ungefähr zwischen 1920 und 1960, weil die Stadt in dieser Zeit besonders als Gegenbildlichkeit zu ihrem optimistischen Image einen eigenen Code des Dunklen, Verbrecherischen, Unmoralischen und Verdorbenen entwickelt hat. Ein Code, den Heimann mit Pressefotos, Filmstills, beigebundenen Exemplaren von Periodika wie „Confidential“ oder „Official Detectives“ und Bergen anderer Trouvaillen belegt. Eine Art Verbrechensgeschichte in Bildern (mit den dazugehörigen literarischen Fiktionen der einschlägigen Art) als Komplementärgeschichte des Offiziellen.  Die historische Eingrenzung zeigt den Noir ganz deutlich als Phänomen der Stilisierung, bei dem sich verschiedene Sorten von Bildwelten und Perspektiven zu einer Art mythischen Ästhetik vermischen, die sich durch die verschiedenen Medien und Narrative durchzieht. Der Kontrast zu den offiziellen Bildwelten, deren Negation der L.A.Noir ist, so gesehen, konstitutiv für den Noir selbst: „Die Schattenseite von Los Angeles gärte vor sich hin wie in der ewigen Sonne faulende Orangen“.

Heimanns These, dass sich spätestens in den 1960er Jahren jede andere Stadt ebenfalls ihren Noir verdient hatte, der paradigmatische L.A. Noir sein Alleinstellungsmerkmal verloren hat und nur noch historisch fassbar ist (wie in  den Büchern von James Ellroy und Walter Mosley, etwa) hat durchaus ihren methodischen Vorteil. Unsere Bilder, Sounds, Mythen und Phantasien von Noir haben in diesem Chronotopos ihren Grund und ihren Nährboden – davon kann sich auch die heutige Inflation des Begriffs nicht lösen. Und wenn er das tun will, wird er leicht lächerlich oder zum beliebigen, marketingtechnischen Kleingeld. Aber auch ohne solche Überlegungen ist Dark City ein fast unerschöpflicher Thesaurus an einschlägigen Materialien.

Jim Heimann: Dark City. The Real Los Angeles Noir. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Hardcover, Halbleinen, Format 25 x 27,8 cm, im Schuber, mit beigebundenen Faksimile-Magazinausschnitten. 480 Seiten, 
75 Euro. VerlagsinformationenSiehe dazu auch Alf Mayers ausführliche Vorkritik für diesen Band vom Februar 2018.

chop wut ARTK_C3D_1020368_0001True Crime (1) Spiegeleffekte

(AM) Gewidmet ist dieses realitätshalttige Buch der britischen Abgeordneten Jo Cox, im aufgeheizten Brexit-Votum im Juni 2016 von einem Rechtsextremisten ermordet. „Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien“ stieß Thomas Mair, ihr Mörder, vor Gericht hervor, als er nach seinem Namen gefragt wurde. Diese Worte wurden zum Slogan der National Action, Englands erster suprematistischer Terrorgruppe, Donald Trump linkte auf Videos aus deren Umfeld.

Die Hassproduktion kocht hoch, rund um die Welt, eine „reziproke Radikalisierung“, und es zündeln auch die Biedermänner, ob sie nun Donald oder Horst heißen. Die Wissenschaftlerin Julia Ebner, die aus Wien stammt und in London forscht und arbeitet, hat ein erfrischend heißes Herz, ihr Buch Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen ist alles andere als staubtrockene Feldforschung, wobei sie genau das getan hat: mit gezielten Undercover-Recherchen und Gesprächen mit Radikalen beider Seiten, mit Dschihadisten und Rechtsnationalen. Praxisgetränkt und anschaulich gelingt es ihr zu zeigen, wie sich die Strategien von Islamismus und Rechtsradikalismus wechselseitig ergänzen und verstärken, wie die Spiegeleffekte einer gewaltsamen Rhetorik wirken, wie beide Seiten sich je immer besser vernetzen und wie ultranationalistische Netzwerke länderübergreifend agieren. Julia Ebner beobachtet online und offline, ihr 2016/2017 entstandenes Buch könnte man – gerade eben war „Münster“ – einmal pro Monat fortschreiben. Die von ihr dargestellten Mechanismen aber wirken immer gleich: Beiden Seiten geht es darum, mit kontrollierter Provokation und strategischer Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der westlichen Gesellschaften freizusetzen.

Im Nachwort „Im Auge des Hass-Sturms“ berichtet Julia Ebner, wie sie im Mai 2017 selbst zur Zielscheibe eines Social-Media-Sturms wurde. Ihre verdienstvolle Arbeit ist sozusagen der aktuelle Praxisteil von Pankaj Mishra, der in „Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart“ die Wurzeln und Quellen von Fanatismus, Ultranationalismus, Totalitarismus, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Tyrannei, Rückbau von demokratischen Strukturen, Populismus und deren jeweiliger Gewaltbereitschaft bis weit ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt hat (CM-Kritik von Thomas Wörtche hier).

Julia Ebner: Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen (The Rage. The Visious Circle of Islamist and Far-Right Extremism, 2017). Aus dem Englischen von Thomas Bertram. Theiss Verlag, Darmstadt 2018. 336 Seiten, 19,95 Euro.

chop Helikopter-10003114True Crime (2) Nur mit Gewalt aus der Hand

(AM) True Crime als Roman? Why not. Der Fall ist spektakulär. Der erste Raubüberfall Schwedens per Hubschrauber. Für Faktenhuber: ein Bell 206 JetRanger, gestohlen und unversehrt abgestellt, bald danach wieder im Dienst der alten Leihfirma. (Deren Website informiert detailliert und nüchtern über die Sache.)
Kurz nach 5 Uhr früh am 23. September 2009 landet der Heli auf dem Dach des G4S-Banknotendepots in Västberga, einem Industriegebiet bei Stockholm. Die Filiale einer der größten Sicherheitsfirmen der Welt. Die Räuber schlagen ein Dachfenster ein, verschaffen sich mit Sprengsätzen Zugang zum Gebäude, zur gleichen Zeit werden Polizei-Hubschrauber durch Bombenattrappen am Einsatz gehindert. Die Täter entkommen mit über 39 Millionen schwedischer Kronen (ca. 4 Millionen Euro), es gibt keine Verletzten. Die Beute ist bis heute nicht gefunden. Zehn Verdächtige werden in den nächsten Tagen festgenommen, sieben von ihnen verurteilt. Mäßige Strafen.
Die Tat gehört längst zur schwedischen Folklore. Ziemlich schnell erschienen zwei Bücher: „Helikopterrånet inifrån“ von Samuel Brissman und „Helikopterpiloten“ von Håkan Lahger. Jetzt, mit Heimvorteil, bereits in 34 Länder verkauft, von einer geplanten Netflix-Verfilmung mit mit Jake Gyllenhaal profitierend, Buch Nummer drei, Der Helicopter Coup, kein Bindestrich. Mit dem rundum schwarzen Farbschnitt  kommt es so auffällig daher wie zuletzt Don Winslow mit Kings of Cool (Suhrkamp, 2012). Ein schwarzer Block. Ultracool.

Das wäre dieses Buch auch gerne, ist es aber nicht so ganz. Aus True Crime wird nicht automatisch Good Crime. Ich fand den Stil eher bemüht und uneben, aber machen Sie sich gerne selbst einen Eindruck in der Leseprobe. Der Heimvorteil: Autor Jonas Bonnierwar 2008 bis 2014 CEO der schwedischen Bonnier Verlagsgruppe, zu der auch Piper gehört. Natürlich bekommt so ein Buch Rückenwind. Bonnier konnte vier der Täter gleich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis interviewen (warum nicht vorher?), stützte sich auf jede Menge Material, entschied sich für die fiktive Form, bleibt aber einem Tatsachenbericht zu sehr verhaftet als dass ich von einem gelungenen Roman sprechen möchte. Auf der Verlags-Website zum Buch gibt es einen Link zu den Aufnahmen der Überwachungskameras von damals, die sind cool. Weiter unten fand ich den lustigsten Leserkommentar seit langem: „Ein spannendes Buch, einmal begonnen, legt man es nur mit Gewalt aus der Hand.“

Jonas Bonnier: Der Helicopter Coup. Die Millionenbeute (Helikopterrånet, 2017). Übersetztung aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Piper Verlag, München 2017. Hardcover, 416 Seiten, 20 Euro. Verlagsinformationen.

9783869711638_10Spezialist für abgedrehte Krimiplots

(JF) Einen alten Freund plötzlich am Flughafen wiederzusehen, kann ein schönes Erlebnis sein. Seltsam wird es allerdings, wenn der Kumpel von gestern schon vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Findet man sich kurze Zeit später von zwei Typen mit schallgedämpfter Pistole bedroht und kann sich nur durch einen beherzten Sprung ins Wasser retten, dürfte klar sein, dass die unerwartete Begegnung nicht ganz ungefährlich war. Aber noch ist Raymond Ash ahnungslos. Dass das Killerpärchen seinen Namen wusste, sollte ihn allerdings stutzig machen. Denn der totgeglaubte Jugendfreund, mit dem Raymond einst mit einer vielversprechenden Band scheiterte, hat es in seinem neuen Beruf als Terrorunternehmer zu erheblich mehr gebracht als im Popgeschäft. Unter dem (ziemlich albernen) Decknamen Black Spirit bietet er seine Dienstleistungen, vom Auftragsmord bis zum Bombenanschlag, allen an, die ihn bezahlen können. Raymond hingegen wohnt mit Frau und Kind in einer der schlechteren Gegenden Glasgows und versucht sich ohne großes Talent als Lehrer. Gerne würde er sein Leben ändern, doch sicher nicht auf die Art und Weise, die Christopher Brookmyre, Spezialist für abgedrehte Krimiplots, sich für ihn ausgedacht hat. Das Modell hat sich der schottische Autor zwar von Graham Greene ausgeborgt, doch der Penicillinschieber Harry Lime ist gegen den international aktiven Massenmörder Simon Darcourt nur ein kleines Licht. Und verglichen mit den knapp 150 Seiten, auf die es „Der dritte Mann“ in der deutschen Neuübersetzung bringt (CM-Besprechung hier), ist „Wer andern eine Bombe baut“, im Original bereits 2001 unter einem witzigeren Originaltitel erschienen, ein regelrechter Wälzer, der sich mit Liebe zum Detail seinen Protagonisten, unter ihnen eine taffe Polizistin, die unserem Antihelden tatkräftig zu Seite steht, widmet. Das sorgt zwar nicht unbedingt für einen literarischen Mehrwert, ist aber vom unvermeidlichen Prolog bis zum dramatischen Showdown, mit dem der Roman nach fast 500 Seiten endet, ziemlich unterhaltsam, vor allem für ältere Zeitgenossen, die mit den zahlreichen popkulturellen Anspielungen, von Hannes Meyer weitgehend souverän aus dem „schottischen Englisch“ ins Deutsche gebracht, noch etwas anfangen können.

Christopher Brookmyre: Wer andern eine Bombe baut (A Big Boy Did It And Ran Away, 2001). Thriller. Aus dem schottischen Englisch von Hannes Meyer. Verlag Galiani, Berlin 2018. 512 Seiten,  14,99 Euro.

chop korte 9783835319448lDer Spion als Opferpriester

(AM)  Ist Ian Fleming noch von Relevanz? Nun ja, für die Literatur- und Kulturwissenschaft gewiss, da halten sich auch Schiller und Feuerbach als gebetsmühlenhaft zitierte Säulenheilige der Kriminalliteratur und „Die Zeit“ bemüht für ihre Krimibeilagen immer noch gern die altzopfigen Illustrationen aus der „Gartenlaube“ selig. Die sogleich eingeschlafenen Füße aber kribbelten mir dann doch, je mehr ich mich in dem großen Essay Geheime Helden. Spione in der Populärkultur des 21. Jahrhundertsvon Barbara Kortebefand. Über den Kunstgriff, James Bond mittels der aktuellen Verfilmungen ins 21. Jahrhundert weiterzulesen, schafft sie auf recht engem Raum tatsächlich eine Art kulturwissenschaftlicher Bestandsaufnahme der Spionageliteratur, steckt sie Topoi und Potentiale ab und „rettet“ so den Stand des akademischen Genre-Diskurses in die Jetztzeit. Der schmale Band mit gerade 100 Seiten ist handfeste Sekundärliteratur, schreibt die Standardwerke von Cawelti und Rosenberg, Sauerberg, Goodman oder Eva Horn weiter oder kondensiert sie brauchbar.

Figur und Narrativ des Spions eigenen sich nach Ansicht von Barbara Korte in besonderer Weise, Helden und Heldentum in Zeiten zu verhandeln, die gemeinhin als „postheroisch“ verstanden werden. Geheimagenten sind typischerweise defizitäre Helden, das nicht nur auf der (zwischen-)menschlichen Ebene. Ihnen haftet ein Element des Sündenbocks an, sie nehmen – siehe auch den Klassiker-Check zu Hazel Rosenstrauchs fulminanter Henker-Studie in dieser CrimeMag-Ausgabe – quasi die Rolle und den gesellschaftlichen Stellenwert des öffentlich bestellten Henkers ein. Man braucht ihn, den Spion, aber man will ihn nicht, schätzt ihn wenig. Ihn umgibt die Aura eines Opferpriesters, da er zum allgemeinen Wohl handelt, wenn er tötet. Diese Figur ist noch lange nicht erledigt. Helden sind mit kollektiver Bedeutung aufgeladen, sie manifestieren Tugenden, Werte und Ideale einer Gesellschaft. Barbara Korte folgert daraus: Spione mit Heroik aufzuladen, das fordere die Frage heraus, ob und wieweit geheimdienstliche Maßnahmen den Werten einer Gesellschaft entsprechen.

Barbara Korte: Geheime Helden. Spione in der Populärkultur des 21. Jahrhunderts. Reihe: Figurationen des Heroischen (hg. von Ralf von den Hoff); Bd. 4. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 100 Seiten, Klappenbroschur, 12,90 Euro.

chop mittelweg b76bc04056True Crime (3) Bomben auf die Republik

(AM) „Das war wie eine Reality-Serie, jede Woche, immer mit echten Toten und echten Waffen, mit Entführungen und Hungerstreiks … die meisten aus der Bewegung, die den Marsch durch die Institutionen angetreten hatten, die Lehrer, Richter, Journalisten, haben die RAF und die anderen extremen Gruppen konsumiert. Die haben revolutionieren lassen. Mit schönem Grusel.“, So fasste Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhoff, neulich im „Spiegel“-Interview die RAF-Zeit zusammen.
Zu den Qualitätsmerkmalen von Mittelweg 36, der Zweimonats-Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, gehört für mich Wolfgang Kraushaars beharrlich regelmäßige Rubrik „Aus der Protest-Chronik“. Der Politikwissenschaftler schreibt darin seine 1996 in vier Bänden bei Rogner und Bernhard/ Zweitausendeins erschienene Protest-Chronik 1949-1959fort, stützt sich dabei oft auf Quellen, die am Rande liegen, ignoriert wurden oder bislang unentdeckt geblieben sind. Die Lieferung für das Heft Februar/ März 2018 ist lapidar überschrieben mit „24. Mai 1972, Heidelberg“. Auf neun Seiten breitet Kraushaar nüchtern aus, was sich heute zur Bombenserie der Roten Armee Fraktion „gegen den Unterdrückungsapparat“ wissen lässt, beginnend mit einer Rohrbombe im Offizierskasino des IG-Farben-Hauses in Frankfurt, wo das V. US-Korps und die CIA untergebracht war, gefolgt u.a. von zwei Bomben im Hamburger Axel-Springer-Hochhaus und dann am 24. Mai dem zweifachen Bombenanschlag auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Europa. Eine der Beteiligten, legt die Recherche dar, könnte IM des Bundesverfassungsschutzes gewesen sein.
Aufregend ist aber auch der Hauptteil der Zeitschrift, er behandelt das Kriminalthema  „Von Steuern und Staaten“, erzählt mit „Fiskalregime – eine andere Geschichte des modernen Staates“ und hat als Motto ein der kriminellen Energie gewidmetes Zitat von Wolfgang Schäuble: „Manchmal ist die Fantasie des Steuerzahlers größer als die Regelungskraft des Gesetzgebers. Das war in der Geschichte immer so.“

Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: Von Steuern und Staaten. 27. Jahrgang, Heft 1, Februar/ März 2018. 134 Seiten, 9,50 Euro.

chop die-suende-der-frau-9783257608731Steile Thesen, ungedeckt

(TW) Etwas irritiert lässt einen der Essay-Band Die Sünde der Frau der niederländischen Autorin Connie Palmen zurück. An den Beispielen Marilyn Monroe, Marguerite Duras, Jane Bowles und Patricia Highsmith geht es ihr um den Preis, den Frauen für ein selbstbestimmtes Leben zahlen müssen – konstitutiv und habituell. Ob tatsächlich Highsmiths Misanthropie, ihre rassistische und antisemitische Verbitterung, ihr katastrophales Sozialleben, ihr Alkoholismus und ihre Depressionen ausgerechnet in der Figur des Mörders Tom Ripley ihren möglicherweise selbsttherapeutischen Spiegel haben, scheint mir eine steile These zu sein, die zudem reiner Biographismus ist und unter Auslassung jeder literarisch-ästhetischer Dimension die meaning of structure von Texten ignoriert, auch ungedeckt bleibt.

Also leider keine neuen Erkenntnisse über eine problematische Autorin und ihren problematischen Helden. Das ist betrüblich.

Connie Palmen: Die Sünde der Frau. Übers. Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2018.  96 Seiten, 20 Euro.

51W2T6Bn3-L._SX299_BO1,204,203,200_Es darf rauchen, es darf bluten – aber nicht zu viel

(AM) Die Kriegsreporter und Kriegsfotografen haben ein eigenes literarisches Subgenre, Ecksteine zum Beispiel Philip Caputos „Delcorso’s Gallery“ (1983) oder Nicolas Borns „Die Fälschung“ (1979), von Volker Schöndorff verfilmt. Kubricks „Full Metal Jacket“ von 1987 beruhte auf Gustaf Hasfords halbautobiographischem Roman „The Short-Timers“ (deutscher Titel: Höllenfeuer). Der Film wurde ganz und gar in Cambridgeshire, England, gedreht, Fake Vietnam also. In der zweiten Hälfte belegen Joker und seine Freunde einen Kurs namens „Basic Military Journalism“und werden instruiert, nur Artikel über die Siege der USA zu schreiben, auch wenn man dafür manchmal etwas mit der Wahrheit großzügig sein muss. Der Filmtitel, der ein Vollmantelgeschoss bezeichnete, ist nun 30 Jahre später bei Sven Recker an die heutigen Gegebenheiten angepasst: Fake Metal Jacket.

Der Mann kann schreiben. Und wie Hasford, Caputo oder Born hat er vor Ort gesehen, was abgeht. Sven Recker war Not- und Katastrophenhelfer in Krisenregionen, schult seit 2009 Journalisten aus Libyen, Tunesien, Ägypten, Irak, Sudan, Südsudan oder Ruanda vor Ort. Sein Kriegsreporter Peter Larsen ist ein (Born’scher) Fälscher im Zeitalter der technischen (Re-)Produzierbarkeit. Das Buch ist schnell und hart und dunkel, und so geschrieben, dass es sich auch vorgelesen süffig und fies anhört. „Das Weltbild nach Fakten definieren, wo kommt man da hin? Es geht um Meinung, basta und Maulkorberlass. Krieg führen, das will doch keiner, deshalb braucht es Nachrichten, die Angst machen und beruhigen zugleich… Dafür braucht es Leute wie Larsen, Zitate von unten, blumige Worte, es darf rauchen, da darf es bluten, aber bloß nicht zu viel, selbst vom Westen enttäuscht sein darf man, aber bitte in Maßen. Kritik ja, ein bisschen verstören ist gut, aber bloß nicht zu viel, drei Seiten später kommt der Rezeptvorschlag vom Sternekoch, das schmeckt sonst doch nicht…“

Sven Recker: Fake Metal Jacket. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2018. 128 Seiten, Hardcover, 18 Euro.

chop schmidt produkt-13414Nichts Neues von der Lizzie-Front

(TW) Seltsam ambitioniert ist Seht, was ich getan habe von der australischen Autorin Sarah Schmidt (Pendo) – ein Buch, das die Ereignisse des 4. Augusts 1892 rekonstruieren möchte, dem Tag, an dem Lizzie Borden anscheinend ihren Vater und ihre Stiefmutter massakriert hat und damit zu der beliebtesten Axtmörderin der Populären Kultur wurde, multimedial verarbeitet, gar zu einer Franchise-Figur geworden, großartig porträtiert in Walter Satterthwaits Roman „Miss Lizzie“ (und einem Sequel). Verurteilt wurde sie nie, was ihren Nimbus ausmacht. Hat sie nun – oder hat sie doch nicht? Tatsächlich tendiert auch Sarah Schmidt zu einer Variante, aber auch sie sät leise Zweifel. Sie fächert den Roman in verschiedene Perspektiven auf – einmal Lizzie selbst, dann ihre Schwester Emma, die Haushälterin Bridget und der möglicherweise von Lizzies Onkel als Mörder gedungene Benjamin. So entsteht ein beklemmendes Familienporträt der nicht sehr netten Bordens: eine überforderte Stiefmutter, ein geiziger, engherziger Vater, zwei fatal ineinander verhakte Schwestern – was für ein Horror. Versinnbildlicht durch eine immer wieder aufgewärmte, eklige Hammelbrühe, deren Fleischfasern den Figuren in den Zähnen hängen (ein Bild, das nach der Lektüre beklagenswerterweise in der Tat hängen bleibt, würg) und durch die Plopp-Geräusche, die beim Taubenschlachten entstehen. Nach der Lektüre wissen wir immer noch nicht, ob Lizzie die Axt geführt hat, aber wir würden mit ihr sympathisieren, wenn. Obwohl sie selbst ein nicht gerade nettes Neurosenbündel ist. So wie alle anderen Personen ihrer Familie, wobei das irische Dienstmädchen Bridget als „normalsinniger“ Gegenpol aufgebaut wird, inklusive eigener Biographie, die so überflüssig ist wie die Passagen, in denen wir alles von Benjamin erfahren, was wir für den Roman eigentlich gar nicht zu wissen brauchen und was auch wenig explikativ ist. Schmidt folgt dem psychologischen Realismus des 19. Jahrhunderts, der nach „tiefen Figuren“ verlangt – das blödsinnige Stichwort heißt heutzutage „Charakterzeichnung“, fast immer ein Hinweis auf prämoderne und naive Vorstellungen von Literatur – und sie folgt ihm mechanisch, weil dadurch Wichtiges und Unwichtiges eine Art sinnlos gleicher Wertigkeit bekommen. Nichts Neues von der Lizzie-Front also, aber dieses Nicht-Neue ist als schwer bedeutende Tiefenbohrung angelegt, deren Unfunktionalität schon beinahe evident ist. Und alles andere als spannend.

Sarah Schmidt. Seht, was ich getan habe. Pendo Verlag, Zürich 2018. 384 Seiten, 20 Euro.

chop Strugatzki 46843Die gierigen Dinge des Jahrhunderts

(AM) Alleine des Kontrastes wegen muss das manchmal sein, das lineare Erzählen befindet sich eh auf dem Vormarsch. Da kann ein Ausflug in die Phantastik wie eine Frischzellenkur wirken – haben Sie eigentlich bemerkt, dass die Rechtschreibreform zwar die Fantasie des „Ph“s beraubte, den Fallus aber ungeschoren ließ? Kennern der Werke der Brüder Strugatzki sage ich hier nichts Neues, sie kennen vermutlich die 2005er Erstausgabe von Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik, allen andern aber sei jetzt die Taschenbuchausgabe empfohlen. Zwar ist ihr leider das Nachwort abhanden gekommen, aber die Lektüre ist eh eine Begegnung mit sich selbst – und mit Ideen, wie eben beinahe nur die Strugatzkis sie verhandelt haben. „Das jüngste Gericht hat längst stattgefunden, wir haben es … nur nicht bemerkt.“

Stanislaw Krasnogorow – man darf dabei an Lem denken, den großen polnischen Autor – ist Programmierer künstlicher Intelligenz und Amateurschriftsteller, und er beginnt zu begreifen, dass er eine seltsame Gabe hat: Ganze 23 Mal schon ist er dem Tod entronnen. Wer sich ihm – und seiner Vorbestimmung – in den Weg stellt, der erleidet unerwartet tödliche Hirnblutungen. Der KGB wird auf diese „Waffe“ (?) aufmerksam, die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ verschränkt sich mit Allegorien des realen Sozialismus. Die Verfolgung der russischen Intelligenzia, der Hungerwinter bei der Blockade Leningrads (den Boris Strugatzki als Kind selbst erlebte), Errettungsphantasien und die Rolle des Individuums in einer absurd gewordenen Gesellschaft, all das in einer literarischen Konstruktion von Buch im Buch, so erzählt, dass man an Tarkowski denken muss, dessen „Stalker“ für mich immer noch die beste Romanadaption aller Zeiten ist (von „Picknick am Wegesrand“). Ach waren das noch Zeiten, als Suhrkamps Phantastische Bibliothek uns zwischen 1978 und 1998 mit über 360 Romanen versorgte.
Die Strugatzkis hatten schon Anfang der 70er Jahre die Idee, einen Roman über die Rolle der Vorherbestimmung in der Geschichte zu schreiben. Nach dem Tod von Arkadi 1991 war es dann Boris alleine, der ihn schrieb. „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ hieß einer ihrer frühen Romane, „Die gierigen Dinge des Jahrhunderts“ ein anderer, „Die Wunschmaschine“ oder „Das lahme Schicksal“ andere. Sie sind ein eigenes Universum. Arkadi (1925-1991) war Anglist und Japanologe, Boris Stellarastronom. Die russische Internetseite, die das Ansehen der Strugatzkis pflegt, zitiert ihr Motto: „Denken ist kein Vergnügen, sondern Verpflichtung.“

Boris Strugatzki: Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik (1994; deutsch erstmals 2004, Klett-Cotta). Aus dem Russischen von Erik Simon. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2018. 476 Seiten, 12 Euro. Eine deutsche Bibliografie der Strugatzkis hier.

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(TW) Eine interessante Ausgrabung kommt vom Luzifer Verlag: Run von Douglas E. Winter. Ein rasantes Verwirrspiel um einen einfach erscheinenden Waffendeal, der allerdings riesige politische Dimensionen hat. Und so gerät die Hauptfigur Burdon Lane, ein eher benevolenter Gangster, der auch aus dem Westlake/ Parker-Universum stammen könnte, in Teufels Küche. Zwei schwarze Gangs sollen gegeneinander ausgespielt, ein schwarzer Politiker abgeräumt und überhaupt an der White Supremacy gearbeitet werden. Lane, der brave Soldat, als der er von seinen Bossen gesehen wird, ist natürlich nicht so brav, Verrat und Heimtücke lauern überall – und dann sprechen die Waffen, der Bodycount ist beträchtlich.

Winter, ein schreibender Anwalt und Kritiker, der sich ansonsten eher in Horror-Gefilden tummelt, mischt hier Gangster-Roman und Polit-Thriller zu einem ziemlich explosiven Cocktail, der zudem politisch – das Buch stammt aus dem Jahr 2000 – erstaunlich klarsichtig ist: die politischen Strippenzieher von damals sind jetzt an der Regierung, könnte man pointiert sagen. Auf der literarischen Ebene versucht Winter, die üblichen Licks und Standards zu vermeiden – Verkürzungen, Tempo, wenig Introspektion, kaum Erklärungen, keine ausufernden Dialoge, Action statt Diskurs, das ist alles sehr erfreulich und mutet immer noch „modern“ an. Allerdings schleicht sich auch zu viel Pose ein – zu superduperknallhart, schon fast pathetisch „gnadenlos“ und „verdammt schonungslos“, aber letztendlich doch nicht konsequent (weil ausgerechnet dann Sentimentalität ins Spiel kommt, wenn eine Frau mal eine Rolle spielt), am Ende eher kitsch noir, und auch weil in der Häufung der Ballerorgien nichts anderes steckt als eben viel Geballere. Und der Held reitet einsam in die Dämmerung, ohne jede Ironie, ohne jeden Sarkasmus, die das Buch passagenweise so erfreulich machen.

Also irgendwie mit viel Bremsschaum ausgestattet, gerade wenn es anfängt spannend, zu werden. Das ist schade und macht Run dann doch nicht zu dem großen, übersehenen Klassiker, der der Roman mit mehr Konsequenz und Radikalität hätte sein können. Aber immerhin: Nice try.

Douglas E. Winter: Run – Sein letzter Deal (Run, 2000). Thriller. Aus dem Amerikanischen von Peter Mehler. Luzifer Verlag, Drensteinfurt 2018. Klappenbroschur, 440 Seiten, 13,95 Euro. Das Anfangskapitel exklusiv bei CrimeMag hier.

chop helmut böger 447True Crime (4) Ein Fall für Inspector Barnaby?

(AM) Ein Coffee-Table-Buch im Normalformat, großzügig illustriert und mit einer Schriftgröße, die älteren Lesern entgegenkommt. Mord im Adlon – Die wahre Geschichte eines mörderischen Hochstaplers, recherchiert und aufgeschrieben von Helmut Böger, könnte ich mir sehr gut als Charakterstudie in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ vorstellen. Könnte, wie gesagt. Die Figur des Wilhelm Blume hätte das Zeug dazu. Er ist Hochstapler, Gewohnheitsverbrecher, Mörder und erfolgloser Schriftsteller, vom Theater besessen. Zur Finanzierung seiner Bühnenstücke ermordet er drei Menschen. Darunter – zu Kaisers Zeiten ein in der Metropole Berlin wichtiger Beruf – einen Geldbriefträger, dessen Vertrauen er mitten in den Spartakusaufständen mit Butterbroten gewinnt und in seine Suite im Hotel Adlon lockt, wo er als Baron Hans von Winterfeldt eingecheckt hat. Die Butterbrote finden die Ermittler später in der Badewanne, den Geldbriefträger erdrosselt unter einem Badetuch.

Helmut Böger stieß im Berliner Landesarchiv auf die umfangreichen Verhörprotokolle, rekonstruierte den Fall, der zeitnah schon Gerhard Hauptmann zum Drama „Herbert Engelmann“ und Carl Zuckmayer 30 Jahre später zu einem Theaterstück inspirierte. Ernst Gennat, der Kommissar, der Blume verhörte, notierte in seinen Erinnerungen: „Der dramatische Dichter wird zum Raubtier.“ Horst Bosetzky (ky) übrigens behandelte die Sache in „Der Fall des Dichters“ (Gmeiner, 2012), Sibyl Volk kurz zuvor in ihrem Kriminalroman „Café Größenwahn“ (Jaron, 2007). In seinem Nachwort outet der Autor sich als Fan der TV-Serie „Inspector Barnaby“, als Format für eine Verfilmung des Falls Blume schwebt ihm eine Art „History-Tatort“ vor. Musil hat Pech gehabt.

Helmut Böger: Mord im Adlon – Die wahre Geschichte eines mörderischen Hochstaplers. Elisabeth Sandmann Verlag, Berlin 2018. 136 Seiten, Hardcover, viele Abb., 19,95 Euro.

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