
Kurzbesprechungen von fiction – Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Tobias Gohlis (TG), Günther Grosser (gg), Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM), Kolja Mensing (KM) und Thomas Wörtche (TW) über:
Francisco Álvarez: Durruti
Max Annas: MUK 2. Der Fall Melchior Nikoleit
Lauren Beukes: Afterland
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Ray Celestin: Gangsterswing in New York
Tom Chatfield: Hier ist Gomorrha
Lee Child: Der Bluthund
Sophie Hénaff: Mission Blindgänger
Gerhard Henschel: SOKO Heidefieber
Robert Hültner: Inspektor Kajetan: Die gesamte Reihe
Philip Kerr: Trojanische Pferde
Dennis Lehane: Gone Baby Gone
Nicolas Mathieu: Rose Royal
Adrian McKinty: Alter Hund, neue Tricks
Wolfgang Schweiger: Land der bösen Dinge
Jason Starr: Seitensprung
Karsten Stegemann: Niewetow
Olen Steinhauer: The Last Tourist
Scott Thornley: Der gute Cop
Felix Weber: Staub zu Staub
Hideo Yokoyama: 50

Hohe Kunst
(TW) Beeindruckend ist, was Max Annas in seinem zweiten Roman über die Morduntersuchungskommission Gera, Der Fall Melchior Nikoleit, gelingt. Gerade ist Gorbatschow an die Macht gekommen, die DDR geht auf ihr Ende zu. Die Jugend wird immer unruhiger, hier in Gestalt der Punk-Szene und ihren Verknüpfungen zur kirchlichen Opposition. „Die Organe“ werden nervös, VoPO und MfS gehen mit brutaler Gewalt und den üblichen „Zersetzungstaktiken“ gegen die jungen Menschen vor. Auch die MUK kann nicht „ideologiefrei“ operieren. Als der Punk Melchior Nikoleit erschlagen aufgefunden wird, weist eine Spur in die Richtung eines „verdienten Parteigenossen“, eines NVA-Offiziers zudem. Und der kann doch unmöglich ein Mörder sein?
Max Annas ist allerdings zu klug, um hier den Haken seines ersten Romans um den Oberleutnant der MUK, Otto Castorp, noch einmal zu schlagen. Otto hat Beziehungsprobleme, ist frustriert, trinkt zu viel, aber er will weiterhin nur ein guter Mordermittler sein. Der Fall Nikoleit verzweigt sich immer mehr, die neuralgischen Probleme der DDR treten offen zutage. Dazu die Tristesse des Thüringer Alltags, grau, verfallen, marode. Noch zeigt sich kein Vorschein besserer Zeiten, noch dominiert klemmige Enge, aber immerhin leben die Punks, gegen alle Widerstände, und das gefällt vielen Leuten nicht. Annas splittet die Erzählperspektiven, ruft die Zeitkontexte geschickt auf (das Wort „urst“ habe ich ewig nicht mehr gehört) und erfreut uns mit hübsch-ekligen Bandnamen wie „Smegma“. Vor allem aber: Der Roman ist ein klassisches, perfektes Police Procedural mit vielen Extensionen, die bis heute reichen. – Siehe auch den Textauszug aus dem Roman in dieser CrimeMag-Ausgabe nebenan.
- Max Annas: Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit. Rowohlt Tausend Augen, Hamburg 2020.

Winterbilder der strukturellen Gewalt
(TG) Der niederländische Krimiautor Gauke Andriesse hat sich für seinen Gang in die dunkle Vergangenheit extra das Pseudonym Felix Weber zugelegt. Als benötige er eine andere Identität, um erzählen zu können, was damals 1949 in den Niederlanden geschah in dem fiktiven Dorf Wercke, am Ufer der Maas und nahe zur Grenze nach Deutschland gelegen.
Dieser Ort ist beherrscht vom Schatten des Klosters Sint Norbertus und das ist in den Niederlanden in jener Zeit weithin bekannt, weil es ein Heim für die Kinder betreibt, die schwer behindert sind – „unwertes“ Leben in der menschenfeindlichen Diktion der Nazis, deren Besatzungsterror erst wenige Jahre zuvor beendet wurde. Protagonist von Staub zu Staub ist der ehemalige Widerstandskämpfer Siem Coburg. In seiner kommunistischen Widerstandsgruppe war er Außenseiter, er glaubte an nichts und wurde wegen seiner Kaltblütigkeit zur Hinrichtung von Verrätern eingesetzt. Ein behindertes Kind hat Coburg vor Jahren das Leben gerettet, jetzt soll er herausfinden, wer diesen Jungen getötet hat. Unter dem Vorwand, über die Betreuung der Behinderten berichten zu wollen, dringt Coburg in das Kloster vor und stößt auf Barmherzigkeit und Gewalt. Denn die behinderten Kinder werden von Mönchen betreut, die selbst schwer traumatisiert sind.
Die kriminalistische Suche Coburgs wird von Felix Weber flankiert durch weitere Erzählstränge, die bis in das Grauen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückführen, aber auch den aktuellen Kolonialkrieg der Niederlande gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen des späteren Indonesien nicht aussparen. „Staub zu Staub“ entfaltet in düsteren Winterbildern ein Panorama struktureller Gewalt und damit verbundener persönlicher Schuld. Der Roman ist eine große Klage, und vor allem eine erschütternde Mahnung: Die Zeiten, in denen ein Menschenleben sehr wenig wert war und die Würde vieler Menschen ein Nichts, sind kaum vergangen und schon gar nicht vorbei. Das Buch rührt mächtig an den euphemistischen Darstellungen des niederländischen Widerstands. Obwohl eher Nihilist als Kommunist war Coburg Teil des sehr aktiven und auch militanten kommunistischen Widerstands. Dessen Geschichte ist literarisch kaum erzählt und wird überlagert von der offiziellen Geschichtsschreibung des bürgerlich-königlichen Lagers der Exilregierung in London. Auch hier schrieben die Sieger die Geschichte.
Webers radikaler sozialer Pazifismus ist nie aufdringlich, aber eindeutig. Auf seine weiteren Bücher – und deutsche Übersetzungen – bin ich gespannt. Gauke Andriesse ist 1959 geboren. Er hat zehn Jahre als Ökonom in der Entwicklungshilfe in Ecuador gearbeitet und unterstützt in Afrika Programme für Kleinkredite. In den Niederlanden sind von ihm sechs bisher nicht ins Deutsche veröffentlichte Kriminalromane erschienen. „Tot Stof“ wurde 2017, „De handen van Kalman Teller“ 2011 mit dem höchsten niederländischen Krimipreis Gouden Strop ausgezeichnet. „Staub zu Staub“ – der niederländische Titel „Tot Stof“, Toter Stoff, klingt noch düsterer – ist eines der schwärzesten und traurigsten, aber auch ergreifendsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
- Felix Weber: Staub zu Staub (Tot Stof, 2017). Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. Penguin, München 2020. Klappenbroschur, 416 Seiten, 15 Euro.

Mitgefühl für Opfer und Täter
(hpe) Eine Karriere als Krimiautor kann man auch in fortgeschrittenem Alter noch starten. Das zeigt der kanadische Werbe- und Marketingspezialist Scott Thornley, der 2011 als 67-Jähriger mit »Erasing Memory« debütierte und inzwischen bereits vier Kriminalromane mit Detective Superintendent MacNeice veröffentlicht hat. Herausgeber Thomas Wörtche startet die Serie bei Suhrkamp mit dem zweiten Roman, dessen deutscher Titel Der gute Cop auf die Hauptfigur fokussiert, während der englische Originaltitel »The Ambitious City« auf den Schauplatz hinweist. Dundurn heißt der fiktive Ort, für den die kanadische Stadt Hamilton am Ontariosee, aus der Thornley stammt, die Vorlage bildet. Ausgerechnet im Hafenbecken, in dem ein Museum als neuer Touristenmagnet entstehen soll, werden Leichen gefunden. Zwei sind vor rund zwei Jahren, in Beton gegossen, versenkt worden, die anderen liegen schon seit Jahrzehnten dort. Der Bürgermeister befürchtet, dass dies sein ehrgeiziges Projekt gefährden könnte. Er bittet darum seinen Jugendfreund MacNeice, die Ermittlungen diskret anzugehen. MacNeice findet, bei Mord könne man nicht diskret bleiben. Zudem hat er gerade etwas viel um die Ohren. Auf einer Farm vor der Stadt liegen einige Leichen aus einem Rockerbandenkrieg herum, und ein offenbar rassistischer Killer schlitzt erfolgreiche junge Immigrantinnen auf. »Wir sind unterbesetzt, wie du weißt«, sagt MacNeice zum Bürgermeister, »du hast den Kürzungen im Polizeietat zugestimmt.«
Über mehr als 500 Seiten entwickelt Thornley eine Geschichte, die immer spannend bleibt und sich mit latent aktuellen Themen auseinandersetzt. Die Rockerbanden sind in Konkurrenzkämpfe im regionalen Betongewerbe verwickelt, die mit dem Großprojekt des Bürgermeisters im Hafen zusammenhängen. Es gibt Verstrickungen über die nahe Grenze in die USA: Einer der Toten im Hafenbecken ist im Nahkampf geschulter ehemaliger US-Soldat. Und im anderen Fall wird eine muslimische Kollegin zum Köder für den rassistischen und frauenfeindlichen Mörder.
MacNeice geht Risiken ein, um in seinen Fällen vorwärts zu kommen. Er kann es sich leisten. Bei der Polizei gilt er als »Genie«, gar »so was wie Gott«. Doch durch den Verlust seiner Frau leidet er entweder unter Alpträumen oder unter schlaflosen Nächten; beides versucht er mit Grappa zu vertreiben. Aber er bleibt immer »der gute Cop«. Das Wichtigste, was seine Mitarbeiter von ihm lernen sollen, »ist Mitgefühl für das Opfer, für die Familie, für die Stadt und, ja, auch für den Täter«.
- Scott Thornley: Der gute Cop (The Ambitious City, 2012). Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und Andrea O’Brien. Suhrkamp, Berlin 2020. 524 Seiten, 16 Euro.

Das eigentliche Vergehen
(KM) Der Fall ist so eindeutig wie traurig. Der Polizeihauptwachmeister Soichiro Kaji betritt am frühen Morgen das Kriminaldezernat und der Präfektur W. und zeigt sich selbst an: Er hat seine Frau erwürgt. Sie war an Alzheimer erkrankt und hatte ihren Mann gebeten, ihrem Leben ein Ende zu setzen, bevor sie völlig im Dunkeln der Krankheit verschwindet – und sie die Erinnerung an ihren vor Jahren verstorben Sohn verliert. Am Tathergang – „Tötung auf Verlangen“ – gibt es keinen Zweifel. Doch beim Verhör stellt sich heraus, dass die Tat bereits drei Tage zurückliegt. Auf die Nachfrage des vernehmenden Beamten, warum Kaji sich erst jetzt stellt und was er gemacht hat, nachdem er seine Frau getötet hat, schweigt er beharrlich. Auch seine Vorgesetzten bei der Polizei wollen es lieber nicht so genau wissen und würden die Angelegenheit gern schnell vor Gericht bringen. Koste es, was es wolle.
50 heißt der Debütroman des japanischen Schriftstellers und Bestseller-Autors Hideo Yokoyama, der mit seinem epischen, 800 Seiten langen Polizeiroman „64“ auch in Deutschland bekannt geworden ist. Sein erster Krimi ist dagegen vergleichsweise knapp gehalten, aber Yokoyama nimmt sich trotzdem Zeit: In einem ruhigen, langsamen Rhythmus schildert er, wie eine Handvoll Menschen versuchen, das Rätsel um Kajis Schweigen zu lösen und herausfinden, was es mit der Kalligrafie auf sich hat, die in Kajis Wohnung an der Wand hängt (und dem Roman in der deutschen Übersetzung den Titel gegeben hat): „Der Mensch lebt fünfzig Jahre.“ Kaji – das muss man wissen – ist zum Zeitpunkt der Tat 49 Jahre alt.
„50“ ist tatsächlich ein ausgesprochen japanischer Kriminalroman. Spannung erwächst hier nicht aus „suspense“-Effekten und den psychischen Vorgängen im Innern der Protagonisten, sondern aus einem komplizierten Netz aus steinernen Hierarchien, moralischen Verpflichtungen und schuldhaften Verstrickungen, das nach und nach entrollt wird: Der Polizist Kazmasu Shiki rennt mit eisernem Pflichtbewusstsein gegen Wände an, der aufrechte Staatsanwalt Morio Sase kann den Geistern der eigenen Vergangenheit nicht entkommen und der gescheiterte Journalist Yohei Nakao opfert sein berufliches Ethos, um im Karrieregefüge seiner Zeitung eine Chance zu bekommen.
Im Japanischen gibt es dafür den Begriff „giri“, der manchmal mit „Pflicht“ oder „Verpflichtung“ übersetzt wird. In Japan bestimmt „giri“ bis heute das soziale Feld: Es ist eine Last (im übertragenen Sinne), die schwer zu tragen ist, aber eben getragen werden muss. Auch Soichiro Kaji hat sich sein Leben lang vorbildlich in diesem engen, gesellschaftlich vorgegeben Rahmen bewegt – selbst dann noch, als er seine eigene Frau erwürgt. Erst danach, an den beiden Tagen nach ihrem Tod, kurz vor seinem 50. Geburtstag, bricht er aus. Das ist sein eigentliches Vergehen: Soichiro Kaji verlässt das System. Und das ist ein Verbrechen, das in Japan genauso geahndet wird wie im Rest der Welt. Mit lebenslang.
- Hideo Yokoyama: 50 (半落ち, 2002). Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium Verlag, Zürich 2020. 346 Seiten, 22 Euro.

Besuch in der Vergangenheit eines Autors
(AM) Es war einmal ein vielversprechender Krimiautor. Dann ging er nach Hollywood. Dort verdiente er gut Geld, pro Auftrag vermutlich mehr als für die ersten fünf Romane zusammen, und sei es nur das Herumdoktorn an einem schon lange herumgereichten Drehbuch (aktuell etwa für Stefano Sollimas „Colt“ nach einer alten Vorlage von Sergio Leone). Für die Romanwelt war er damit erst einmal verloren. Vielleicht kehrt er ja eines Tages zurück, aber das weiß man nicht, nicht alle diese Geschichten gehen gut aus. In dieser hier ist sein Name Dennis Lehane. Er ist Jahrgang 1965, hat zwischen 1994 bis 1999 fünf erstklassige Privatdetektivromane mit dem Ermittlerduo Patrick Kenzie & Angie Gennaro vorgelegt, zehn Jahre später gefolgt von einem Nachzügler, dazwischen einige auf Leinwand angelegte Romane. Seitdem ist ziemlich Sendepause.
2003 beehrte sich Clint Eastwood mit einer Verfilmung von „Mystic River“, 2009 Martin Scorsese mit der von „Shutter Island“, dazwischen lag 2007 Ben Affleck mit der Adapation des hier besprochenen Romans Gone Baby Gone. Im Film schrumpfte Angies Rolle (gespielt von Michelle Monaghan) zugunsten der von Casey Affleck. Die Romanvorlage gehört in jede Krimibibliothek, sie wurde gerade von Peter Torberg neu übersetzt, der bei Diogenes der ganzen Kenzie & Gennaro-Reihe einen neuen Schliff gibt. Zwei Neuübersetzungen stehen darin noch aus. Wir sind im Bostoner Arbeiterviertel Dorchester, die vierjährige Amanda ist entführt worden. Patrick und Angie werden von der Tante und dem Onkel des verschwundenen Mädchens angeheuert, der Fall führt in die Unterwelt und zwischen viele Allianzen. Polizisten und FBI-Agenten bekriegen sich ebenso wie die Gangsterbanden, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen schnell. Korruption frisst sich in alle Gefüge der Gesellschaft, auch wenn das Buch gelesen ist, schwingen die moralischen Fragen noch eine ganze Weile nach. Lehane, dessen spätere Arbeiten zunehmend in vielen Szenen „Hollywood, verfilm’ mich doch!“ rufen, erzählt hier solide und handfest. Man kann sehen, warum er als äußerst verlässlicher Autor galt. Vielleicht kommt er ja doch eines Tages wieder …
- Dennis Lehane: Gone Baby Gone. Ein Fall für Kenzie & Gennaro (Gone, Baby, Gone, 1998). Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2020. Paperback, 576 Seiten, 17 Euro.

Nicht nur für Jazzfans
(gg) Der Swing ist bereits ein Auslaufmodell, und die Macht in den New Yorker Jazzclubs übernehmen gerade die Bebop-Hipster um Charlie Parker und Miles Davis, als Gabriel Leveson, Betreiber eines großen Samba-Clubs im historischen Kriminalroman Gangsterswing in New York von Ray Celestin seinen leisen Ausstieg aus der Mafia plant. Dann jedoch bekommt er den Auftrag, ein paar Millionen zurückzuholen die einer der Bosse unterschlagen hat, und die große Jagd durch New York geht los.
„Gangsterswing“ ist der dritte Band einer Reihe mit rasanten Krimis, die jeweils einer Musik-Epoche zugeordnet sind, und Celestin schafft es mühelos und mit der nötigen Detailbesessenheit, historische Entwicklungen der jeweiligen Zeit – hier das Nachkriegsjahr 1947 – mit einem Kriminalfall zu verknüpfen. Korruption bei der Polizei und die Drogengeschäfte der italienischen Mafia gehen kurz nach dem Krieg Hand in Hand, während drüben an der Westküste ein Ableger das Film- und Musikbusiness zu übernehmen versucht. Das FBI schaut weg, weil etwas anderes Priorität hat – die Kommunistenjagd. Leveson laviert sich durch, es fliegen die Fetzen, und der alternde Louis Armstrong sucht verzweifelt nach einem neuen Betätigungsfeld. Das ist allerbeste Unterhaltung, nicht nur für Jazzfans.
- Ray Celestin: Gangsterswing in New York (The Mobster’s Lament, 2019). Deutsch von Elvira Willems. Piper Verlag, München 2020. 640 Seiten, 18 Euro.

Funktioniert
(TW) Sehr geschickt fädelt Lee Child in seinem 22. Reacher-Roman, Der Bluthund, ein brisantes, aktuelles Thema ein: Die sogenannte Opioid-Krise in den USA, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen, ihre kriminellen Implikationen und ihre menschlichen Verheerungen. Wie immer fängt alles ganz zufällig an – schließlich ist Lee Child der Großmeister der kalkulierten Kontingenz. Während einer Pause bei einer von Jack Reachers unendlichen Busfahrten durch die weiten, leeren Räume der USA entdeckt er in einem Pfandhaus einen Westpoint-Ring, der einer Frau gehört haben muss. Reacher, ein Wizzard der Deduktion, schließt daraus, dass die Person, die diesen Ring versetzt hat, in großen Problemen stecken muss, denn einen Ring von der erfolgreich abgeschlossenen Militärakademie gibt man nicht so einfach her, schon gar nicht als Frau, deren Weg durch diese Eliteschmiede doppelt so hart gewesen sein muss. Und dann läuft das übliche Reacher-Programm ab. Er wühlt und wühlt und gibt keine Ruhe, bis er das Geheimnis gelöst hat.
Wie immer muss er hin und wieder Leute verprügeln oder umbringen, nicht, dass er sie nicht gewarnt hätte, und auch vor dem finalen Gebrauch einer Trockenschleuder macht er praktischerweise nicht Halt. Ein Raubüberfall aus benevolenten Gründen kann auch schon mal vorkommen, denn inzwischen hat er die Besitzerin des Ringes, einen weiblichen Major der Infanterie, gefunden und korrigiert aus emphatischen Gründen deren schlimmes Schicksal. Die Reacher-Formel hat sich seit 1997 nicht grundlegend geändert und man konnte ruhig ein paar Romane auslassen, dennoch funktioniert sie hier ziemlich gut. Spannend, mit knorrigem Witz und interessanten Figuren, nicht von Beginn an ganz ausrechenbar, dazu eine nicht unangenehme Portion human touch und, siehe „Opioid-Krise“, einen sehr neuralgischen Punkt der amerikanischen Gesellschaft treffend. Klare, kühle Luftigkeit im Kopf bei der Lektüre garantiert.
Lee Child: Der Bluthund (The Midnight Line, 2017). Übersetzt von Wulf Bergner. Blanvalet Verlag, München 2020. 447 Seiten, ###

Drei Bände im Schuber
(TG) Es gab mal eine Zeit, in der – ganz jenseits der Strauß, Seehofer, Stoiber und Söder – den Bayern auf die Finger nicht nur geschaut, sondern erzieherisch sanft und nachdrücklich gehauen wurde. Das waren die goldenen Jahre 1995 bis 2013, in denen Robert Hültner seine Romane über Inspektor Kajetan schrieb. Initiation für diese vielfach ausgezeichnete Reihe waren die Erzählungen, die Hültner abends nach Theater- und Kinoaufführungen in seiner Heimat am Chiemsee aufschnappte. Damals war beinahe vergessen, dass nicht nur rabiate Städter, demobilisierte Soldaten und linke Intellektuelle revolutionär waren, sondern auch weite Teile der Landbevölkerung. Ohne ihre Unterstützung wäre aus der Münchner Räterepublik erst gar nichts geworden.
Hültners Serie setzt mit den revolutionären Ereignissen von 1919 ein. Ihr erster Band „Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski“ beginnt mit der Ermordung des ersten Ministerpräsidenten des neuen Freistaats Bayern Kurt Eisner. Die Serie endet 1928, als die NSDAP auf dem Vormarsch war, aber noch nicht gewonnen hatte, mit „Am Ende des Tages“, dem sechsten Band. 20 Jahre Ermittlungen und vergeblicher Kampf um Gerechtigkeit, der zwangsläufig immer wieder in mörderische Auseinandersetzungen mit den Rechtsradikalen führen musste, haben Kajetan nicht zermürbt. Aber dem nachfolgenden Rest der Geschichte war die Figur des „sinnenfrohen Vernünftlers und warmherzigen Utilitaristen” Kajetan nicht gewachsen.
Ich habe an verschiedenen Stellen das Lob des dialektischen und dialektstarken Skeptizismus Robert Hültners gesungen. Seine Kajetan-Bände gehören zum Besten, was an historischer Akribie, erzählerischer Anschaulichkeit und literarischer Wahrhaftigkeit möglich ist, wenn man Geschichte als Kriminalgeschichte erzählen will. Jetzt am 4. Juni 2020 ist dieser große Schriftsteller deutscher Sprache siebzig Jahre alt geworden, seinen Leserinnen und Lesern hat sein Verlag btb dazu alle sechs Kajetan-Romane in der chronologischen Reihenfolge als Packerl im Schuber spendiert. Herzlichen Glückwunsch!
- Robert Hültner: Inspektor Kajetan: Die gesamte Reihe in drei Bänden im Schuber. Btb Verlag, München 2020. Paperback, 1760 Seiten, 36 Euro.

Ein englischer Hacker rettet Deutschland
(hpe) Oft beschleicht einen als Krimileser das Gefühl, das Genre sei ein bisschen stehengeblieben. Denn von der Digitalisierung, die sich seit Jahren beschleunigt und immer mehr Lebensbereiche teils drastisch verändert, spürt man in Krimis noch nicht viel. Da spähen die meisten Ermittler immer noch durch Türspalte. Für die Beschaffung digitaler Daten haben die Kommissare eine junge Kollegin, »die gut mit Computern kann«. Nicht beamteten Ermittler halten sich einen jungen Nerd warm, der ihnen die benötigen Informationen herzaubert. Manche Autoren, die schon mit der fortgeschrittenen Smartphone-Technologie Mühe haben und von den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz vollends überfordert sind, verlegen die Handlung schon mal ein paar Jahrzehnte zurück, um sich nicht damit herumschlagen zu müssen.
Wer die digitale Welt in einem Roman glaubwürdig darstellen will, muss sich damit nicht nur auskennen, sondern sie verständlich vermitteln können. Einer der das kann ist der englische Technologiephilosoph Tom Chatfield, Autor von Sachbüchern wie »Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblüht« (Kailash, 2012). Der Held seines ersten Romans Hier ist Gomorrha ist ein Hacker. Von einem Gartenschuppen in London aus bewegt sich Azi Bello mittels eines Haufens selbst zusammengebauter Technik in der virtuellen Welt wie ein Fisch im Wasser. Zu seinen Projekten gehört die Unterwanderung einer Neonazi-Organisation mit einer digitalen Fake-Identität.
Als eine Hacker-Kollegin ihn um Hilfe bittet, wird er aus seinem Einsiedlerleben herausgerissen. Nicht online, sondern Face to face. Azi, der sich als »nicht für die reale Menschenwelt geschaffen« sieht, vergisst den Hacker-Grundsatz, dass man keinem trauen kann. Und steckt subito mitten in einer wilden Geschichte um den Islamischen Staat und Neonazis, in der Geheimdienste herumwursteln. Dies führt ihn nach Berlin und Athen und ins kalifornischen Silicon Valley. Das Gomorrha im Romantitel erweist sich als eine Art »eBay des Bösen« im Darknet.
Der Hightech-Krimi ist spannend und actionreich. Und immer wieder witzig. Schade nur, dass Chatfield meint, den ermüdenden Thriller-Trend, dass mindestens die halbe Welt gerettet werden muss, bedienen zu müssen. Hier ist Deutschland von einer rechten Machtübernahme bedroht, und nur Azi kann das verhindern. Ein typisches Debütproblem ist, dass in den ersten Kapiteln viel zu viele Dinge viel zu ausführlich erklärt werden. Doch der Roman führt uns auch vor Augen, was mit der digitalen Technologie möglich ist. Wie man uns überwachen und unsere Spuren im Netz manipulieren und missbrauchen kann.
Und wie abhängig vom Internet wir längst sind. Wenn auch vielleicht noch nicht so extrem wie Azi, der von Agenten vorübergehend vom Netz getrennt wird: »Seit seinem vierzehnten Altersjahr war er noch nie so lange offline gewesen. Es fühlt sich an, als wäre sein Gehirn geschrumpft.«
- Tom Chatfield: Hier ist Gomorrha (This is Gomorrah, 2019). Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein. Rowohlt Polaris, Hamburg 2020. 396 Seiten, 16 Euro.

Die bekannten Fähigkeiten
(JF) Zwanzig Jahre Dienstzeit braucht ein nordirischer Polizist, um seine volle Pension kassieren zu können. Inspector Sean Duffy aus Carrickfergus nahe Belfast fehlen noch zwei Jahre, die er in Teilzeit als eine Art Reservepolizist ableisten darf. Und damit das nicht zu langweilig wird, hat sich Adrian McKinty einen neuen Fall für ihn ausgedacht, obwohl es bereits im Vorgängerroman „Cold Water“ (siehe Bloody Chops vom Juli/August 2019) so aussah, als ob der „katholische Bulle“ nun endgültig im Privatleben angekommen wäre. Alter Hund, neue Tricks hat man, in Anlehnung an eine englische Redensart, die deutsche Übersetzung des achten Bands der Reihe betitelt, während das Original mit „Hang On St Christopher“ wieder nach einem Tom Waits-Song benannt ist.
Tatsächlich muss Duffy nichts Neues lernen. Um einen mysteriösen Mord zu klären, den Täter zur Strecke zu bringen und dabei den gerade anlaufenden nordirischen Friedensprozess – der Roman spielt 1992 – zu gefährden, reichen seine bekannten Fähigkeiten: eine große Klappe, eine gehörige Portion Leichtsinn und ein brillantes Auffassungsvermögen. Der Plot ist von der simplen Sorte, gibt aber Anlass zu jeder Menge Standardsituationen, wie sie den Fans des ebenso sympathischen wie trinkfreudigen Ermittlers Spaß machen. Eine gewisse Schludrigkeit des Autors (bzw. des Lektorats) darf man dabei beherzt ignorieren. Was hiermit geschehen sei.
- Adrian McKinty: Alter Hund, neue Tricks (Hang On St Christopher, 2020). Aus dem Englischen von Peter Torberg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 368 Seiten, 15,95 Euro.

Abgehängt
(AM) Er gilt unbestritten als einer der besten Thrillerautoren der Welt. Einer, der die moralisch komplexen Welten von John Le Carré, Eric Ambler und Charles McCarry in die Nach-9/11-Zeit zu transponieren versteht. Olen Steinhauer war (und ist) der Fackelträger für den intelligenten „Politthriller von morgen“ (Tobias Gohlis, 2013 in einem Porträt).
Schon bei seinem vorletzten Buch hatte ich mich gewundert und hatte gezuckt, etwas darüber zu schreiben, dass er in deutschen Verlagen anscheinend nicht mehr Persona grata ist. Der am 7. August 2018 in den USA erschienene Antikapitalismus-Thriller „The Middleman“, in dem 400 Aktivisten von einem auf den anderen Tag „off the grid“ in den Untergrund gehen – und dann loslegen –, fand keine deutsche Veröffentlichung. Und jetzt, wo Steinhauers wichtige und all überall gerühmte Milo Weaver-Trilogie nach acht Jahren eine überraschende Fortsetzung findet, spielt sich das wieder ab. Weit und breit kein Verlag für The Last Tourist, der am 24. März 2020 bei Minotaur in New York erschienen ist.

Zwischen 2010 und 2013 auf Deutsch veröffentlicht, transportierten „Der Tourist“, „Last Exit“ und „Die Spinne“ das Genre zu neuen Höhen. Im Mittelpunkt: Milo Meaver, Angehöriger einer ultrageheimen CIA-Abteilung, deren Angehörige als „Touristen“ rund um die Erde ausrücken, wenn es hässliche Dinge und hässliche Gegner zu beseitigen gibt, die den USA in die Quere kommen. Am Ende von „Die Spinne“ („An American Spy“) war die Abteilung von der chinesischen Konkurrenz entscheidend dezimiert und wurde eingemottet, wohlgemerkt 2013, lange vor der heutigen Weltlage. Und Milo Weaver übernahm von seinem Vater, einem russischen Spion, einen anderen, bei den Vereinten Nationen angesiedelten Geheimdienst, „Die Bücherei“. Was natürlich an James Grady denken lässt, kein zeitgenössischer Thrillerautor kennt seine alten Meister besser als Steinhauer. Jetzt also acht Jahre später „The Last Tourist“ und ein Plot, der den Geheimdienst der Weltgemeinschaft gegen die Macht der Globalkonzerne, deren unbegrenzte Ressourcen, eine von der Leine gelassene Privatarmee und eine auf Destabilisierung setzende neue Weltordnung antreten lässt. Die Bösen treffen sich bei Steinhauer in Davos. Das Buch beginnt mit dem Verhör eines Islamisten in der Westlichen Sahara, und wie in den besten Romanen von Charles McCarry und John Le Carré verschränkt sich Familiengeschichte mit Intrige und Politik, ein „menschlicher Faktor“ (Marcus Müntefering) immer inklusive.
- Olen Steinhauer: The Last Tourist. Milo Weaver #4. Minotaur, New York 2020. 384 Seiten, USD 27,99.

Im Vakuum das Grauen
(TW) Niewetow von Karsten Stegemann ist im besten Wortsinn ein Mystery. Irgendein ein Kaff auf irgendeiner Insel in der Ostsee (eben Niewetow), ca. Mitte der 1990er Jahre, als es noch Münztelefone gab und Schreibmaschinen. Alles ist grau, neblig, es regnet, es ist kalt und unbehaust, die DDR wird gerade abgewickelt, die Schiffswerft zerlegt, die Häuser und Plattenbauten sind nur noch spärlich bewohnt und runtergekommen, der Hafen liegt voller Müll, Alkohol allenthalben, Verzweiflung, Rott und Depression. Dorthin hat sich der nicht sonderlich erfolgreiche Journalist Daniel Brandenburg zurückgezogen, auch er hat schwer den Blues, denn seine Freundin studiert in Kanada. Dann passieren mysteriöse Dinge: Ein alter Mann liegt ertrunken in einem im Hafen versenkten Bauwagen. Daniel entdeckt ihn und bringt diesen Tod mit einer unheimlichen Begegnung auf der Fähre in Zusammenhang, rein instinktiv zunächst. Der zuständige Polizist hält ihn anfänglich für einen Spinner. Aber dann kommen mehrere Leute zu Tode, Mord lässt sich nicht nachweisen, aber Daniel und ein blinder Kubaner wissen, dass eine nicht fassbare Entität umgeht, schwer atmet und nach „alter Socke“ riecht. Das Wesen steht in der Dunkelheit, hinterlässt Häufchen von Seetang, manchmal scheint es direkt aus dem Wasser zu kommen, aber man weiß es nicht genau. Ein Leviathan, nahe Verwandte aus Carpenters „Fog“ oder gar ein Nöck?
Auch eine Ex-Film-Diva der DDR, die sich auf die Insel zurückgezogen hat und ein sehr kauziges Einsiedlerleben fristet, scheint bedroht. Daniels bester Freund Fanny ist es definitiv, der extrem übergewichtige Blues- und Jazzfreak ist auch plötzlich tot, mit seinem Rollstuhl umgekippt und an seinem eigenen Gewicht erstickt. Gewalteinwirkung ist, wie bei allen anderen Todesfällen, nicht festzustellen. Was Stegemann da abzieht, ist eine subtil gemachte Horrorshow, bei der lange auf der Kippe steht, ob es nun einen Mörder gibt oder nicht oder was da überhaupt passiert. Der eine Staat ist weg, der andere Staat ist noch nicht richtig angekommen – in dem Vakuum tummelt sich das Grauen, das Unheimliche, in einem Suspense-Szenario vom Feinsten. Vermutlich kann man das Buch, je nach persönlicher Interpretationswütigkeit, als Parabel lesen, auf den aufkommenden Neoliberalismus, auf die Lebenslügen der DDR, wie auch immer. Aber man kann den Text auch auf sich wirken lassen, sich der morbiden Stimmung hingeben (bei strahlendem Sommerwetter eine höchst irritierende Lektüre, by the way) und darauf warten, in welcher Gestalt das tappende, schwer schnaufende Ungeheuer sich zeigt. Sehr starker Text.
- Karsten Stegemann: Niewetow. Edition Nautilus, Hamburg 2020. 176 Seiten, 16 Euro.

Seziermesserscharf
(TW) 95 Seiten hochkonzentrierte Prosa: Rose Royal von Nicolas Mathieu. Rose ist ein „ganz normale“ Frau – Ende vierzig, hat im Leben so ziemlich alles durchgemacht, vor allem mit allen möglichen Männern, die allesamt nicht wirklich gut für sie waren. Sie hat sich im Elend irgendwie eingerichtet, Resignatio ist zwar keine schöne Gegend, um Gottfried Keller zu zitieren, aber ihr Dasein ist immerhin erträglich, im „Royal“, einer Kneipe mit permanenter „Feierabendstimmung“ hat sie eine Art zweites Wohnzimmer gefunden, und Alkohol hilft immer. Von Kerlen will sie sich nichts mehr bieten lassen, deshalb hat sie einen Revolver in der Handtasche. Dann taucht Luc auf, ein Bild von einem Mann, auch er vom Leben gerackelt, aber so scheint es, genau wie Rose, bescheiden und zufrieden mit einer milden Altersliebe, die zwar nicht perfekt, glühend oder romantisch ist, aber immerhin gegen die Leere der Einsamkeit hilft. Rose will Sicherheit und Schutz, sie will Liebe und sie will es ein letztes Mal riskieren. Und wieder sitzt sie, wie immer, in der Falle. Luc ist kein bisschen anders, sie hat Angst vor ihm, er tut ihr weh, er hält sie in völliger Abhängigkeit (er hat Geld, sie weniger), sie ist sehenden Auges in die Falle gerannt, unverbesserlich in ihren Illusionen. Aber sie hat ihren Revolver. Mathieus (immerhin Prix Goncourt geadelt) knappe, kurze, seziermesserscharfe Sätze zergliedern gnadenlos und mit brillanter Erzählökonomie diese fatale Mann-Frau-Konstellation und damit die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Kein Trost nirgends, auch am Ende nicht, das an die Giftigkeit von Claude Chabrol erinnert. Ein schmaler roman noir, aber extrem gehaltvoll und vor allem sehr virtuos.
- Nicolas Mathieu: Rose Royal Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin). Hardcover, 96 Seiten, 18 Euro.

Nach der Haft
(SH) Ich an meiner Seite ist kein Kriminalroman, das sei gleich vorweg erwähnt. Vielmehr erzählt Birgit Birnbacher von dem 22-jährigen Arthur Galleij, der 26 Monate in der JVA Gerlitz gesessen hat und nun auf Bewährung entlassen wurde. Innerhalb eines Jahres soll er sich nun resozialisieren – also eine eigene Wohnung und wenigstens einen Praktikumsplatz finden. Mit einer Haftstrafe im Lebenslauf ist das alles andere als einfach. Hilfe bekommt Arthur durch ein betreutes Wohnprojekt und einer soziologischen Studie, an der er teilnimmt.
Geleitet wird diese Studie von dem Soziologen Konstantin Vogel, genannt Börd, der ihm das sogenannte Starring-Prinzip vermittelt. Es sieht vor, dass es bei der Wiedereingliederung hilft, für sich selbst eine Rolle zu erfinden, auf die man in schwierigen Situationen zurückgreifen kann. „Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können. (…) Niemanden interessiert, wer Sie sind. Entscheidend ist, wer Sie vorgeben können zu sein.“
Bei der Entwicklung dieser Rolle sollen aufgenommene Selbstgespräche helfen, in denen Arthur nach und nach von seiner Kindheit erzählt. Durch die Gespräche lernt man ihn kennen. Erst spät wird erwähnt, was genau Arthur getan hat – es sollte bei der Resozialisierung ohnehin keine Rolle spielen. Natürlich ist man neugierig, aber das ist kein Trick, um Spannung zu erzeugen, sondern es wird genau zum passenden Zeitpunkt erwähnt. Fraglos hat Arthur die Tat begangen, für die er verurteilt wurde, zugleich aber ist er auch ein Opfer.
Birgit Birnbacher geht es jedoch nicht um Schuldzuschreibungen oder einfache Kausalitäten. Wie schon in ihrer 2019 mit dem Bachmannpreis ausgezeichneten Erzählung „Der Schrank“ erforscht die Soziologin prekäre Lebensverhältnisse mit den Mitteln der Literatur. Illusionslos, klar und zutiefst empathisch blickt sie auf ihre Figuren. Dadurch ist Birnbachers Roman ist sozialrealistisch, ohne die Härten zu verklären oder zu überhöhen. Sie verwebt tragische, komische und skurrile Momente, dazu kommen lakonische und oftmals komische Bemerkungen sowie eigensinnige Figuren. Damit unterstreicht Birnbacher noch einmal ihre menschenfreundliche Neugier – und unterläuft die stilistischen Erwartungen an eine Geschichte über die Resozialisierung eines Häftlings.
- Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite. Zsolnay; Wien 2020. 272 Seiten, 23 Euro.

Manpocalypse
(AM) Dieses Buch war bereits einige Male verschoben, dann wurde es für Sommer nächsten Jahres angekündigt. Jetzt ist es doch da – und es ist eine Sensation, von Stephen King persönlich sogleich für die New York Times besprochen. Afterland von Lauren Beukes spielt im Jahr 2023. Ein Virus hat binnen eines halben Jahres 99 Prozent der Männer auf der Welt ausgelöscht. Die globale Reaktion auf die Pandemie ist ein Verbot von Schwangerschaften, bis ein Impfstoff gefunden ist, der kommende Generationen vor dem Virus schützt. Eine Löwenmutter namens Cole befreit ihren zwölfjährigen Sohn aus einem Lager in Kalifornien, wo Heranwachsende zu ihrer Sicherheit in Verwahrung sind. Sie verkleidet ihn als Mädchen, flieht mit ihm durch die USA und nach Südafrika. Ihnen auf den Fersen ist eine böse Tante, die das Sperma des Jungen auf dem Schwarzmarkt verkaufen will. Überhaupt sind auch die Frauen in diesem sehr gewalttätigen Buch keineswegs nur die Guten.
Fünf Jahre saß Lauren Beukes an diesem Roman, der über die Dystopie hinaus Klimawandel, Polizeigewalt, patriarchalische Muster, sexuelle Übergriffe und viel Popkultur thematisiert; als sie ihn abschloss, war Corona da. Die Südafrikanerin ist eine Autorin, die zwischen allen Genres schreibt und der man wegen ihres supersouveränen Sprachgefühls überall hin folgt. Siehe auch ihre Romane „Broken Monsters“, Moxyland“, „Zoo City“ und „The Shining Girls“. Wann gibt es dieses Buch auf Deutsch?
- Lauren Beukes: Afterland. Michael Joseph/ Penguin Books, London 2020. 448 Seiten, GBP 12,99.

Kerngeschäft des Noir
(TW) An den guten, alten roman noir der Woolrich, Goodis und Co. erinnert Jason Starrs Seitensprung. Ein frustrierter Ex-Musiker, der sich als Immobilienmakler eher erfolglos durchs Leben quält, mit angeknackster Ehe und zu kleiner Wohnung, will sich auf einer Dating-Seite ausleben, trifft dort auf eine reiche Lady, ferkelt ein wenig mit ihr im Chat rum und lässt sich auf ein reales Date ein. Als er dort ankommt, ist die Lady tot, anscheinend artig mit einer (seiner?) Krawatte erwürgt, und er landet unter Mordverdacht bei der Polizei, die ihn aber zunächst laufen lässt. Und jetzt: Wie sagt er’s seiner Frau, wie seinem Kind? Kann er sich selbst aus dem Schlamassel rauswursteln? Lüge türmt sich auf Lüge und auf Halbwahrheiten. Die Gattin wirft ihn raus, seine Suche nach dem wirklichen Mörder produziert weitere Leichen. Jack Harper, so heißt der Loser, war zudem noch Alkoholiker mit einem „Gewaltproblem“, das er anscheinend im Griff hat. Ein selbstmitleidiger Jammerlappen ist er auch noch, aber natürlich will er doch ein ganzer Kerl sein. Soweit ein dutzendfach durchgenudelter Plot – aber dann plötzlich kippt die Situation: Alles scheint gut zu werden, die Gattin kehrt reumütig zurück. Ab da geht die Story dann in Richtung „Gaslight“, rsp. Gaslighting, das allerdings mit einem schön gemeinen Twist am Ende. Letztendlich auch kein besonders originelles Muster, aber hier geschickt eingedreht. Umso plausibler, weil Starr ja ein Genre-Aficionado ist, der hier mit seinem großen Thema „toxische Männerbilder und ihre Folgen“ die aktuelle Tragweite traditioneller Erzählmuster austestet. Neuer Wein in alten Schläuchen, könnte man fast sagen. Oder die Revitalisierung überkommener Muster, wenn man gutwillig ist. Aber toxische Vorstellungen von Geschlechterkonstellationen waren schon immer das Kerngeschäft des roman noir, siehe gerade Woolrich und Goodis, meinethalben auch Chandler, insofern steht Starr in einer langen, ehrbaren Tradition. Das ist völlig okay so, hat eine grundsolide Basis und bedient sicher verlässlich ein Publikum, das keine Experimente schätzt.
- Jason Starr: Seitensprung (Fugitive Red, 2018). Übersetzt von Thomas Stegers. Diogenes Verlag, Zürich, 400 Seiten, 13,99 Euro.

Erzählerisch souverän
(TW) Trojanische Pferde von Philip Kerr ist der dreizehnte Roman um Bernie Gunther, den Mordermittler, der höchst effektiv für die schlimmsten Nazi-Verbrecher wie Reinhard Heydrich oder Arthur Nebe in der SS und im SD gearbeitet hatte, ohne je selbst Nazi gewesen zu sein. Aber seine Vergangenheit drückt ihn. Jetzt, 1957, in dem vorletzten Bernie-Gunther-Roman, den Philip Kerr noch vor seinem Tod 2018 fertigstellen konnte, verschlägt ihn sein komplizierter Lebensweg nach Griechenland. Gunther hat unter falscher Identität bei der „Münchner Rück“ (Versicherung) als Schadensregulierer angeheuert, um endlich zu einer Art bürgerlicher Existenz zu finden. Der Job führt ihn nach Griechenland, wo er eigentlich nur ein Schiffsunglück begutachten soll. Zumindest denkt er das, aber peu à peu muss er zur Kenntnis nehmen, dass er mitten in einem extrem schmutzigen Spiel alter Nazis, dem BND und der Adenauer-Regierung gelandet ist, bei dem es um das Vermögen ermordeter Juden in Griechenland geht, und um die Ranküne der jungen BRD, keine Reparationen an Griechenland zahlen zu müssen. Wie immer bei Kerr treten Personen der Zeitgeschichte auf, nicht als Cameos, sondern als konstitutive Protagonisten des Romans: Hier Max Mertens, ehemals Verwaltungsoffizier der Wehrmacht in Saloniki, und SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, verantwortlich für die Deportation und Vernichtung hunderttausender Juden nicht nur aus Griechenland. Der ansonsten mit anscheinend indolentem Zynismus gepanzerte Gunther fühlt an dieser Stelle das Bedürfnis endlich „Gutes“ zu tun, als eine Art persönlicher „Wiedergutmachung“ an den griechischen Opfern des Holocaust und an dem geschundenen griechischen Volk. Aber das ist angesichts der neuen politischen Realien – dem geplanten Beitritt Griechenlands in die schon wieder von den Westdeutschen dominierte EWG (später EU) – ein eher naives Ansinnen.
Der Roman ist sehr fein geplottet und die erzählerisch souveräne Pranke Kerrs lässt über ein paar kontextuelle Ungenauigkeiten hinwegsehen. Dass Bernie Gunther ein eher steinzeitliches Frauenbild hat und mit galligen Bemerkungen über Griechenland und die Griechen nicht gerade zurückhaltend ist (tatsächlich hören wir sehr genau die Echos, die wir aus der Griechenland-Bashing während der „Euro“-Krise nur allzu gut kennen) kann man mit viel gutem Willen als „Figurenrede“ zur Charakterisierung des alten Querkopfs Gunther verstehen. Der wird dadurch nicht unbedingt sympathischer, aber immerhin plausibler, zumal sich sein neuer moralischer Furor an zwei beeindruckenden Frauenfiguren entzündet, eine davon eine Mossad-Agentin, denn auch die Israelis haben ihre eigene Agenda in diesem Spiel.
Die Bearbeitung deutsche Schuld aus britischer Feder – das hat schon was, zumal bis auf D.B. Blettenberg und Orkun Ertener sich kaum deutsche Autor*innen mit Griechenland während der deutschen Besatzung beschäftigt haben, zumindest nicht im Genre des „Polit-Thrillers“. Aber wer weiß, schließlich hatte auch Philip Kerr schon 1989 die dann mit erheblicher Verspätung aufgekommene Welle der deutschen Produktion historischer Kriminalromane aus dem Berlin der 1920ff Jahre losgetreten.
- Philip Kerr: Trojanische Pferde (Greeks Bearing Gifts, 2018). Aus dem Englischen von Axel Merz. Wunderlich Verlag, Hamburg 2020. 496 Seiten, 24 Euro.

Mythos, hell wie eh und je
(TW) Man sollte eigentlich auch José Buenaventura Durruti (1896 – 1936) kennen, die mythische Gestalt des Anarchosyndikalismus. Nach einer beachtlichen Karriere als militanter Gewerkschafter, Revolutionär, Bankräuber, Attentäter und Praktiker des Anarchosyndikalismus kommandierte er im Spanischen Bürgerkrieg die „Kolonne Durruti“, als er im November 1936 während der Belagerung von Madrid durch die Faschisten erschossen wurde. Von wem, das ist bis heute ungeklärt. Von den Faschisten, von den Kommunisten innerhalb der republikanischen Truppen (nichts war den Stalinisten so verhasst wie die Anarchisten), von den eigenen Leuten? Auch der biographische Roman Durruti. Die neue Welt in unserem Herzen von Francisco Álvarez bietet keine neue Lösung an oder legt sich gar fest.
Der Roman stützt sich im Wesentlichen auf Abel Paz‘ große Durruti-Biographie („Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten“), zerlegt aber Durrutis Leben in einzelne Episoden, die von einer Rahmenhandlung zusammengehalten werden: Eine französische Journalistin, die einen biographischen Bezug zu Durruti hat, versucht, seine Todesumstände genauer zu rekonstruieren und trifft auf Zeitzeugen, die ihrerseits ihre eigene Agenda haben. Vor allem gelingt es Álvarez, komische und absurde Szenen einzubauen, die nicht etwa den Mythos Durruti beschädigen – der leuchtet auch hier hell wie eh und je – , sondern machen sich über den Umgang der spanischen Regierungen noch weit vor dem Bürgerkrieg lustig, mit der immer stärker werdenden Arbeiterbewegung fertig zu werden. Das gibt dem Roman eine schon fast heitere Wendung, bei aller Wut und Trauer über die Vergeblichkeit eines gesellschaftspolitischen Gegenentwurfs zu den Mainstream-Ideologien der Zeit. Und natürlich ist in den Roman auch der ewige Diskurs über legitime und illegitime Gewalt eingeschrieben – Durruti war kein Pazifist und tanzte zu oft auf der Trennlinie zwischen Sozialbanditentum (nach Eric Hobsbawm) und Revolution. Anyway, den Namen Buenaventura Durruti in gesichtsvergessenen Zeiten im Gespräch zu halten, ist nicht die schlechteste Idee. Sein Leben als politischen Abenteuerroman zu erzählen, mitsamt allen prekären Dialektiken, auch nicht. Weniger schön sind die Unmengen von Druckfehlern und die, milde gesagt, oft arg ungelenke Übersetzung.
- Francisco Álvarez: Durruti. Die neue Welt in unserem Herzen. Übersetzt von Manfred Gmeiner, bahoe books, Wien 2020. Klappenbroschur ca. 300 Seiten, 19 Euro.

Die verflixte Nummer Drei
(TW) Sophie Hénaffs ersten beiden Romane um das „Kommando Abstellgleis“, eine Loser-Truppe aus inkompetenten, irren oder unbequemen Pariser Polizisten, hatten einen frischen Ton, bizarre Figuren und eine erfreuliche Leichtigkeit des Erzählens. Doch ach, nicht so der dritte Teil, Mission Blindgänger. Capitaine Eva Rosière, Mitglied der Chaos-Truppe, hat als Romanautorin Karriere gemacht, ein Werk von ihr wird verfilmt, sie schreibt das Buch und will, als der Regisseur ermordet wird, den Film zu Ende bringen, indem sie ihren Kollegen Filmrollen verschafft und aus den Abenteuern des Kommandos einen Blockbuster macht. Deswegen ist sie auch die Mordverdächtige Nummer eins.
Das ist schon sehr bemüht, wird aber durch alle Untugenden eines Whodunnits noch schlimmer: Elend zähe Befragungen (Wo waren Sie wann warum?), absurde chemische Mixturen, die üblichen Haupt- und Nebenverdächtigen und vor allem ein nerviges Kleinkind, das die Chefin der Truppe, Anne Capestan, mit flatternden Nerven durch die Handlung schleppt. Das Ganze ist sehr unlustig, gewollt und vor allem bleischwer. Schade.
- Sophie Hénaff: Mission Blindgänger (Art et Décès, 2019). Aus dem Französischen von Katrin Segerer. Originaltitel: C. Bertelsmann, München 2020. Klappenbroschur, 320 Seiten, 15 Euro.

Schleierhaft
(TW) Schrecklich belanglos das aktuelle Ballyhoo zum Thema „Regionalkrimis“. Vor allem, wenn so etwas arg Unkomisches wie SOKO Heidefieber von Gerhard Henschel mal so richtig zeigen will, wie peinlich die doch sind. Ein Serialkiller begeht grauenhafte Morde („angewandte Literaturkritik“, wie eine Figur sagt, der einzig gute Gag des Buches) an erfolgreichen Autor*innen von Regio-Krimis, jeweils im Stil der Romane der Opfer. Von Wölfen zerfleischt, von giftigen Viechern getötet, in Baumstämme gestopft, zerlegt etc. etc. – wobei die Vorlage „Who killed the great Chefs of Europe?“ von Nan & Ivan Lyons allzu deutlich durchschimmert. Außerdem irrt der Autor Frank Schulz durch den Roman und wird unaussprechlichen Qualen und Abenteuern ausgesetzt, eines alberner als das Nächste, Gerd Haffmans und Stephen King bekommen Cameos. Die meisten Polizisten sind doof, die Griechen stinken nach Knoblauch, Albanien ist eine Verbrechenshöhle und die Vereinigung der Regio-Krimi-Autoren eine Ansammlung von Vollpfosten. Jeder Satz ein Gag, der brüllt, boah was bin ich witzig. Das ist sehr, sehr anstrengend.
Völlig schleierhaft bleibt: Was soll das? Eine Parodie von Regionalkrimis? Eine Satire auf Regionalkrimis? Was würden die außer Evidenzen angreifen? Eine intellektuelle Demontage dieses Subgenres? Das wäre so ähnlich riskant und anspruchsvoll, wie Babys Bonbons wegzunehmen. Das tut niemand weh, das schlachtet keine heiligen Kühe. Henschel bläst belanglose Regio-Krimis auf, um ihnen dann die Luft rauszulassen. Als Rache-Akt eines Insiders kann man das nicht lesen, Henschel ist keiner, die „Krimiszene“, die er zerlegt, gibt es so nicht. Und neue Erkenntnisse über die Auswüchse des Subgenres kann man auch nicht aus dem Buch saugen, die sind auch so absurd genug. Vielleicht hat sich niemand je so contre cœur um die Nobilitierung des Regio-Krimis verdient gemacht, das wäre eine schöne List der (Un-)Vernunft. Aber vielleicht beugt sich da auch nur mal wieder ein Hochliterat zu den Niederungen des Genres hinab und schändet etwas, was sich schon längst selbst ad absurdum geführt hat. Ach ja …
- Gerhard Henschel: SOKO Heidefieber. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 288 Seiten, 18 Euro.