Anleitung zur Erkenntnis
Von Hazel Rosenstrauch
Armand Marie Leroi schreibt über Aristoteles. Nein, er schreibt über die Erfindung der Naturwissenschaften, aber beim Lesen dachte ich oft, es geht nicht primär um den alten Philosophen und nicht nur um die Anfänge der Biologie, sondern darum, wie man denken, ordnen, schauen und fruchtbare Fragen stellen kann. Für mich als Laiin ging es bei der Lektüre darum, wie vergnüglich, witzig und immer anregend ein so fremder Stoff mit hoher Komplexität dargelegt werden kann. Schon der erste Satz ist mehr Einladung als Einleitung: „In der Altstadt von Athen gibt es einen Buchladen. Es ist der reizendste, den ich kenne.“ Und dann gesteht der in Neuseeland geborene, in London lehrende Dozent für evolutionäre Entwicklungsbiologie: „Für die alten Philosophen hatte ich mich nie interessiert, ich bin schließlich Wissenschaftler“, womit er sichtlich kokett überleitet zu seinem Interesse an den Gefahren der Tyrannei, an Demokratie und an der Frage, „wie die Tragödie durch Mitgefühl und Furcht eine reinigende Wirkung ausübt.“ In der Übersetzung schwingt das englische Understatement in der Behauptung mit, er, Leroi, beanspruche keine Originalität: „Ich stelle mir jedoch gern vor, dass ein Wissenschaftler, und sei es nur gelegentlich, in Aristoteles‘ Schriften etwas sehen kann, das die Philologen und Philosophen übersehen haben.“ Mit Wissenschaft sind hier die Naturwissenschaften im Unterschied zu dem gemeint, was hierzulande Geistes- oder Kulturwissenschaften, im Englischen aber humanities heißt. Die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Denkweisen spielt eine wichtige Rolle in dieser biologisch-wissenschaftsgeschichtlich-philosophischen Erzählung quer über die Jahrhunderte.
Die Angelsachsen sind ja bekannt dafür, dass sie – im Unterschied zu deutschen Akademikern – komplexe Zusammenhänge der „harten“ Wissenschaften mit Freude verständlich und interessant vermitteln können, Leroi ist ein Meister dieses Genres. Er erzählt von antiken Philosophen, aber auch vom Müll, der die Insel, auf der Aristoteles seine Forschungen betrieben hat, heute umgibt. Man begleitet den Autor in die Tavernen und auf die Abendfähre, wenn er sich auf auf die Spuren des ersten Naturwissenschaftlers begibt (einige Jahre bevor Lesbos zum Synonym für Flüchtlingselend geworden ist), und erfährt viel über die einstigen und die heutigen Ansichten vom Innenleben der Löwen, Elefanten, Katzen, Hühner, Schildkröten, Fischen, Vögeln und Embryos – deren Mägen und Verdauungsorgane, ihre Art zu kopulieren und die Lage der Hoden, über Samen und sonstige Flüssigkeiten. Er diskutiert mit uns und mit den frühen Philosophen über die Seele des Tintenfischs (wichtige Frage: wo sitzt die Seele und welche Vorstellungen über Unterseelen gab es), streift die Rezeption der antiken Philosophen in der Renaissance, im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Veränderung von Denken und Wahrnehmen in aktuellen Forschungen als wäre das, für ihn zumindest, ein selbstverständlich notwendiges Wissen. Nie arrogant, nie mit Zeigefinger, eher wie ein Kriminalist, geht er auf Spurensuche, um herauszufinden, wie sich einer, der keine Vorbilder hatte oder an seinen Vorgängern zweifelte, die Welt rational erschließt.
Leroi erzählt, was Aristoteles gesehen hat, wo er falsch liegt, wie und von wem er gelernt hat (von Jägern, Fischern, Reisenden, Ärzten oder auch Wahrsagern) und macht den Leser nebenbei mit moderner Anatomie und Vorgehensweisen bekannt. In den Formulierungen schwingen immer auch aktuelle Fragen mit, wenn etwa der Unterschied zu denen charakterisiert wird, die die Welt „wie vom Olymp herab“ betrachtet haben, im Unterschied zu ihnen ging Aristoteles zum Strand hinunter. „Er beobachtete, wandte seine Ursachen auf seine Beobachtungen an und verwob sie in den Büchern miteinander.“ Wenn er berichtet, wie Aristoteles, der nicht auf den Schultern von Riesen stehen konnte, die Natur ordnet, unterscheidet und den jeweiligen Kontext berücksichtigt, räumt er nebenher mit noch immer gängigen Mythen über Wissenschaft auf und betont: „Daten sind unvollständig, Ergebnisse vorläufig, Ursachen kompliziert und inferenzielle Lücken tun sich an jeder Ecke auf. Das gilt für uns und das galt auch für Aristoteles.“ Seitenhiebe nicht nur auf Platon, gegen den sich Aristoteles bekanntlich abgegrenzt hat, sondern auch auf berühmte Interpreten unserer Zeit (Hawking u.a.) verringern zwischendurch den Respektsabstand, den das profunde Wissen nahelegt.
Ein Lehrbuch über die Antike, über Biologie, Wissenschaftsgeschichte und eine Philosophie wissenschaftlichen Arbeitens … oder: Anleitung, wie man denken, schauen, erkennen und Wissen über noch Unbekanntes mithilfe von Vernunft und Neugier erwerben kann.
Armand Marie Leroi: Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand. Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow und Manfred Roth. Theiss-Verlag, Darmstadt 201. 528 Seiten, 38,00 Euro