Geschrieben am 13. Dezember 2014 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Alf Mayers Reportage über die Fleischmafia

Essen-OldenburgFleisch, ein Stück Sklavenkraft

– Eine Vor-Ort-Recherche im Land der Fleischmafia – von Alf Mayer.

(Landkreis Cloppenburg, Ende Oktober 2014) Es muss schnell gehen. Miha hat sich per SMS gemeldet, er ist jetzt gleich für 15 Minuten alleine im Haus und wir können kurz zu ihm aufs Zimmer. Um so etwas einmal zu sehen. Wir parken um die Ecke, die Alte Molkerei liegt mitten im Ort, ein großes Gebäude an der Hauptstraße. Manche Fenster sind vernagelt, einige Scheiben eingeschmissen, überall blättern Putz und Farbe. Es ist ein Abrisshaus. Eine Goldgrube. Rund 140 Rumänen, Bulgaren und Polen wohnen hier. Mitten in Badbergen, Kreis Cloppenburg, Autokennzeichen CLP. Jeder im Ort weiß es, keiner schreitet ein.

„Ausbeutung ist hoffähig geworden“

Im August 2013 war sogar der niedersächsische Ministerpräsident da, zeigte sich erschüttert, der Tiefpunkt seiner Besichtigungsreise in Sachen Fleisch sei das. Danach gab es ein paar Auflagen, wurde der Schimmel beseitigt, ein wenig Müll aufgeräumt. 14 Monate später ist fast alles wieder beim Alten. So hartleibig sind die Verhältnisse, so wenig veränderbar.

Schulterzucken. So ist das hier, sagt die Bäckerin. Die wohnen doch überall. Jeder, der ein altes Haus, eine Scheune, einen leeren Stall oder einen Schuppen habe, vermiete in dieser Gegend an Ausländer. Immerhin würden sie nicht in Erdhöhlen und unter Plastikplanen hausen müssen wie die, die man hier Waldmenschen nennt: Fleischarbeiter und Jobber aus Osteuropa, die sich überhaupt keine Unterkunft leisten können. 450 Euro kalt verlangte ein Vermieter in Lohne von einer vierköpfigen Familie für ihr 25-Quadratmeter-Zimmer, im ganzen Haus gab nur ein einziges Bad für 19 Menschen. All dies einer der reichsten Gegenden der Bundesrepublik. Prälat Peter Kossen aus Vechta, ein beeindruckend mutiger Priester, spricht von Mafia. Er sieht ein Krebsgeschwür, bis in die Mitte der Gesellschaft, sagt: „Ausbeutung ist hoffähig geworden.“ Eines Morgens lag ein abgestochenes Kaninchen vor seiner Tür (siehe hier). Der klassische Unterweltgruß.

Die Eimer-Menschen

200 bis 300 Euro Monatsmiete kostet eines der durchgelegenen Betten in der Alten Molkerei, drei bis fünf Mann auf einem Zimmer. Eimer- oder Korb-Menschen werden sie genannt, weil sie beim Gang auf die Arbeit ihre Habseligkeiten und Werkzeuge in solchen Behältnissen herumtragen (müssen). Der Anblick erwachsener Männer und Frauen, die gruppenweise uniform solch unifarbene Plastikbehälter durch die Straßen tragen, ist gewöhnungsbedürftig. Der erste Reflex: Das müsste verboten sein. Es ist entwürdigend. Aber, so lasse ich mir sagen, so kann man nichts aus dem Betrieb schmuggeln, selbst wenn es ein Stück Fleischabfall für Hungrige wäre. In und um Cloppenburg gelten andere Gesetze, da hätte sich der Ministerpräsident noch in zig Unterkünften erschüttern lassen können. Etwa in einer von Kontrolleuren festgestellten „Unterkunft“ mit 15 Betten in einem Zimmer oder von 200-Euro-Schlafstätten, vor denen man nicht stehen kann (siehe hier).

Im Treppenhaus und auf den langen, kahlen Fluren der Alten Molkerei könnte man Horrorfilme drehen. Männergeruch und Moder allgegenwärtig. Alte Spinde, klappernder Kühlschrank, zwei Mini-Kochplatten, Verlängerungskabel überall in Mihas „Zimmer“, das er mit vier anderen teilt. Die Sessel und Stühle sind vom Sperrmüll. Unterhemden und Trainingshosen hängen zum Trocknen an einem  eigentlich längst ausgedienten Bundeswehrstockbett und am Fenster. Auf dem lächerlichen Nierentisch liegt Fleischwurst von Penny, die Verpackung ist offen. Miha war 14 harte Arbeitsstunden auf den Beinen, er nimmt große Bissen, während Søren die „Lohnabrechnung“ fotografiert. Es ist ein handschriftlicher Zettel. 960 Euro stehen als Summe unterm Strich, darunter 200 und ein Minus. Strafe, weil Miha im letzten Monat ein Messer abgebrochen ist. Ja, liebe Leser, Sie dürfen schlucken. Das ist die Realität, die Ihnen der lachhafte Tatort mit Maria Furtwängler als dusslige Kommissarin und Heino Ferch als Fleischbaron vorenthielt (siehe Moving Targets: Der Tatort „Der sanfte Tod“).

flag_tulip-ashxBaumelnde Schweineteile, als würde der Sommerwind sie bewegen

Ich bin mit zwei Journalistenfreunden aus Dänemark in Süd-Oldenburg unterwegs, mit Peter Rasmussen und Søren Zeuth, sie recherchieren seit Jahren dem in 113 Ländern aktiven Fleischkonzern Danish Crown und seinem Tochterunternehmen Tulip hinterher. Dessen „Frühstücksfleisch“, Blechdosen mit abdrehbarem Deckel und gepresstem Inhalt, steht als Billigangebot und Marktführer in unseren Supermarktregalen. In Essen/Oldenburg betreibt Danish Crown einen großen Schlachthof, die Beschäftigungszahl wird im Nebel gehalten. Sagen wir 1500 bis 2000. Offiziell im Geschäftsbericht steht, dass dort 64.000 Schweine pro Woche geschlachtet werden. Sind 9143 am Tag, 380 in der Stunde, 6,4 pro Minute.

Die Internetseite von Danish Crown zeigt – allen Ernstes – geldzählende Hände. In den aktuellen Werksvideos, state of the art, Ultra-HD-Qualität mit beständig gleitender Kamera, baumeln Schweineteile von Hakengalerien als würde der sanfte Sommerwind sie bewegen, umschmeichelt Sphärenmusik lächelnde Arbeiter am Band, andere wirken zwischen all den Weichzeichner-Schweinehälften wie Waldarbeiter im Zauberwald, die zärtlich rätselhafte Gegenstände berühren oder zersägen, alles in Zeitlupe und edlem Schwarzweiß, keine Hetze, nirgends. Roboterarme, Transportbänder und Menschenwerk bilden eine große Symbiose, die bei glücklichen Konsumenten im Supermarkt endet. Ein Softporno. Ein Meisterstück der Propagandakunst – und meilenweit entfernt vom krachledernen Pseudo-Werbespot, den uns der Fleischbetriebs-„Tatort“ gleich zweimal servierte.

Etwas „härter“ ist das Kuh-Video von Danish Crown mit dekorativen Schwarzbunten, vergleichsweise große Kuhteile gleiten auf edel glänzenden SM-Stahlrutschen nach unten, fast jugendfrei wird eine ganze Kuhhaut ritschratsch abgezogen, liegt wie ein fallengelassener Domina-Mantel auf dem Förderband, das ins Nirwana und nicht zu Deichmann oder Lidl oder Aldi führt. Bevor die Reihe der glücklich messerschwingenden Zerlegemänner zu lang wird, blendet die Kamera ab, das Fleischkarussell in Hallengröße ist aber too much of a Hollywood-Set als dass der Schnittmeister nicht doch noch weitere Kamerafahrten einmontieren würde, auch die stummen Terminator-Kreissägen, die so clean und cool durch Rippengewölbe schneiden als wäre Arnold Schwarzenegger im Predator-Dschungel am Werke, wer möchte auf sie verzichten?

Überflüssig zu sagen, dass auch verbal in all den Fairness-Bekenntnissen der Fleischkonzerne ungeniert dick aufs Brot geschmiert wird und die Welt – besonders bei Danish Crown, Tönnies, PHW, Wiesenhof, Geestland, Vion und Co – ganz außerordentlich perfekt in allerschönstbester Ordnung ist. Glückliche Rinder und Schweine, glückliche Hühner, glückliche Münder. Glückliches Fleisch. Konsumentenherz, was willst du an Schmalz und Lüge mehr?

Schockierende 80 Prozent Fremdkräfte

Umso mehr musste sich dann aber – was sind sie doch erstaunensfähig, unsere Politiker – diesmal der sozialdemokratische Wirtschafts- und Arbeitsminister von Niedersachsen, Olaf Lies, gegenüber meinem Kollegen Peter Rasmussen nach einem Termin bei Danish Crown wundern, wie es auch im dänischen Magazin „Substans“ nachzulesen ist: „Es schockierte mich zu hören, dass bis zu 80 Prozent der Arbeiter in Schlachtbetrieben Werkverträge haben. Ein gesundes Niveau sind 80 Prozent Festangestellte.“ Tja, Herr Minister, einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung zufolge arbeiten in deutschen Schlachthäusern nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis. Dagegen kommen 75 Prozent der Beschäftigten von Werkvertragsunternehmen, etwa fünf Prozent sind Leiharbeiter. Und das ist schon eine ganze Weile so (und – so die Aktualisierung – auch im Jahr 2020, wie sich jetzt bei Corona zeigt, noch keinen Deut anders geworden).

Nachdem Leiharbeit über Tarifverträge, Gesetzesänderungen und die Rechtsprechung schärfer reguliert wurden, missbrauchen manche Unternehmen nun die Werkverträge. Mitarbeiter externer Firmen arbeiten dann dort, wo vorher die Stammbeschäftigten des Auftraggebers in Lohn und Brot waren, sie nutzten die gleichen Maschinen. „Zielsetzung dieser Konstruktion scheint es zu sein, tarifvertragliche, arbeits- und mitbestimmungsrechtliche Ansprüche der (Stamm-)Beschäftigten zu umgehen“, heißt es in der Studie. Scheint? Ist so. Die gewerkschaftsnahe Stiftung müsste nur Betriebsräte oder Vor-Ort-Kämpfer wie Matthias Brümmer fragen, Geschäftsführer der Region Oldenburg-Ostfriesland der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

Arbeitskräfte, just in time

Die Stammbelegschaften in den hiesigen „Fleischwerken“ wurden in den letzten 20 Jahren kontinuierlich reduziert. Der Hauptanteil der Malocher – kein Zivilist und Billigfleischkäufer kann und mag sich vorstellen, was Fließband-Akkordarbeit im einem Fleischwerk bedeutet – kommt „just in time“ von Sub-Sub-Subunternehmern. Es sind Leih- und Werkvertragsarbeitnehmer, vornehmlich aus den MOE-Staaten. Mittel- und osteuropäische Entsendeländer mit Werkvertragskontingenten, nach der Europäischen Entsenderichtlinie geregelt und 1996 zuerst in der Bauwirtschaft begonnen.

„Von einer Entsendung spricht man“, erklärt uns die EU-Kommission auf ihrer Website, „wenn ein Arbeitnehmer in einem EU-Mitgliedstaat angestellt ist, der Arbeitgeber jedoch entscheidet, ihn vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten zu lassen. Beispielsweise könnte ein Dienstleister, der eine Auftragsarbeit in einem anderen Land zu erledigen hat, seine Mitarbeiter dorthin schicken, um den Auftrag auszuführen. Diese grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen wird auch als Entsendung bezeichnet.“ Nun, liebe Kommission, diese Arbeitgeber hatten und haben gar nie eine andere Absicht, als ihre in der Transnationalität sehr schutzlosen Lohnsklaven in anderen Ländern einzusetzen. Daran verdienen sie sich dumm und dusslig – und die deutschen Unternehmen auch, die sich solcher Kontingente bedienen, mit denen man prima Sozialabgaben und Lohnkosten im unkontrollierbaren Nirwana verdampfen lassen lassen.

All dies auf Druck „der Wirtschaft“, zu der in diesem Fall auch die Landwirtschaft mit ihren jährlich über 300.000 ausländischen Saisonarbeitern gehört, die uns zu Dumpinglöhnen Erdbeeren, Spargel und Gurken ernten. Die IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), die auch für die Landwirtschaft zuständig ist, kämpft hier seit 20 Jahren ziemlich vergeblich dagegen an. Auch „Sei schlau, geh auf den Bau“, das Motto der Wirtschaftswunderjahre, gilt schon lange nicht mehr. Die Zahl der hiesigen Beschäftigten in der Bauwirtschaft ist von 1990 bis heute von 1,5 Mio auf 700.000 geschrumpft. Es gibt ja die billigeren Arbeitskräfte aus dem Osten, wozu sonst wurde die EU nach Osten erweitert.

Das gilt erst recht beim Fleisch. Danish Crown und Tulip machen selbstverständlich von „Vertragsanstellungen“ Gebrauch. Auf Anfrage von Peter Rasmussen zur Gewichtung zwischen Festangestellten, Leiharbeitern und Mitarbeitern mit Werkvertrag, erzählt ihm Jens Hansen, Pressechef von Danish Crown: „In Deutschland ist es nicht möglich, festangestellte Mitarbeiter mit einer so kurzen Kündigungsfrist zu kündigen wie dies in Dänemark möglich ist. Gleichzeitig gibt es in Deutschland viel höhere Schwankungen in der Zufuhr von Rohwaren für unsere Fabriken als in Dänemark. Deshalb ist eine flexible Belegschaft für Danish Crown von ganz zentraler Bedeutung, und dies führt aufgrund der Vorschriften auf dem deutschen Arbeitsmarkt dazu, dass zirka 25 Prozent Festangestellte sind, während die übrigen Mitarbeiter Werkverträge haben.“Danis Crown_org-de

Was Werkverträge bedeuten

Werkverträge bedeutet an Folgen für die Wanderarbeiter: Vermittlung über Schlepper und „Agenturen“, Anreise schon mit Schulden beim Sub-Unternehmern und Kredithaien. Dann hier Dumpinglöhne mit Arbeitszeiten zwischen zehn bis 20 Stunden täglich, an bis zu sieben Tagen in der Woche. Mietwucher mit meist 200 Euro pro Bett. Werkzeug und Arbeitskleidung inklusive Reinigung müssen selbst bezahlt werden. In den Schlachthöfen und Zerlegebetrieben gibt es – für wen immer Sie hier einsetzen wollen – ein Zubrot mit dem „Verkauf/ Mieten“ der Arbeitsausrüstung. Das wusste selbst Karl Marx noch nicht, dass die Kälber ihre Stricke selbst bezahlen müssen. Heuern und Feuern sind an der Tagesordnung, dazu kommen Isolation in der Fremde, Spitzel auf jeder Stube, Drohungen gegen sich und Familienangehörige. Gleichzeitig heißt das für die Stammbelegschaften: Sinkende Einkommen, immer weniger Tarifverträge und immer weniger Arbeitsplätze, Erpressbarkeit, kaum Betriebsräte, kaum Mitbestimmung, kaum noch Ausbildungsplätze. Da kannibalisiert sich ein System.

Menschenhandel mit Billigarbeitern, gedeckt durch EU-Recht

„Der Missbrauch von Werkverträgen ist nicht nur ein Problem an den großen Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, sondern bundesweit. Der hohe Anteil von Werkverträgen, vor allem die damit einhergehende Ausbeutung und teilweise menschenunwürdige Behandlung von Beschäftigten aus Südosteuropa, ist nicht länger hinnehmbar. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, aber besser noch eine tarifliche Lösung für die Fleischbranche, die dann auch für die Werkverträge gelten müsste“, forderte Claus-Harald Güster, stellvertretender Vorsitzender der NGG, im letzten Jahr.

Die „über A1 entsendeten Kräfte“ (wie – abgekürzt – der bürokratische Begriff für die offiziellen Kontingentkräfte lautet) werden praktischerweise statistisch nicht erfasst, der Föderalismus lässt grüßen, ebenso alle, die solche unappetitlichen Details sowieso nicht so genau wissen wollen. Nach Schätzung der NGG betrifft das in der Fleischindustrie über 40.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Großen der Branche – Westfleisch, Tönnies, VION und Danish Crown – haben nach Gewerkschaftsschätzung zusammen gerade 5.100 Stammbeschäftigte, dazu im Werkvertrag 10.500 und, besonders unkontrollierbar, 11.500 Leiharbeiternehmer im Werkvertrag. Dies bei Milliardenumsätzen und jährlich rund 3,5 Millionen Tonnen geschlachteten Schweinen, 900.00 Tonnen Geflügel und 400.000 Tonnen Rindfleisch

Ganze Produktionsstränge sind an Sub- und Sub-Sub-Subunternehmer ausgegliedert, die Geflechte undurchschaubar. „Gegen welchen Sub ermitteln wir denn heute?“, lautet ein geflügelt bitterer Scherz der Zollfahnder. „Das ist Menschenhandel mit Billigarbeitern, gedeckt durch EU-Recht“, sagt Matthias Brümmer. „Hier ist ein Milliardenmarkt mit mafiösen Strukturen entstanden, mit Lohndumping und moderner Sklaverei.“ Kaum ein Arbeiter bekomme mehr als 1000 Euro im Monat ausbezahlt, für die meisten seien es 800 bis 900, dies bei zwölf Stunden Arbeit.

Einige Fälle und Strukturen

Matthias Brümmer nennt einen aktuellen Fall aus Süd-Oldenburg mit rund 1000 Betroffenen: Polnischer Subunternehmer in einem Schlachthof für Schweine, die Arbeiter bekommen einen offiziellen Stundenlohn von 8,00 Euro bei 790 Stück geschlachteten Schweinen in der Stunde. Die Bandgeschwindigkeit ermöglicht aber nur 740 Stück, das senkt den Stundenlohn auf 7,50 Euro (liegt unter Mindestlohntarifvertrag). Die Schlachter arbeiten zehn bis sogar 20 Stunden täglich, bekommen aber nur fünf bis acht Stunden bezahlt. Auf den in Deutsch erstellten Abrechnungen, die keiner lesen kann, wird mehr Netto ausgewiesen als tatsächlich ausgezahlt wird. Abzüge gibt es für Bettmiete (3 Mann auf 20 qm, je 150 € pro Monat) und Transfer zwischen „Wohnstätte“ und Arbeitsplatz (je 100 €).

Für gut 500 Betroffene in einem anderen Betrieb stellte NGG-Mann Matthias Brümmer folgende Verhältnisse fest: 8,50 €Euro brutto auf der Abrechnung für 173 Stunden, gearbeitet wurden jedoch 230 Stunden. Keine Bezüge gab es für Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit oder Mehrarbeit. Stattdessen Abzüge vom Netto für: Miete 200 €, Arbeitskleidung 30 €, Messer-Pfandgeld 80-100 € (monatlich), Ausfüllen von Formularen (Kindergeldanträge) 80 €, dubiose Strafgelder: bis zu 200 Euro.

Ein anderer Fall, der jede Frau treffen kann: Eine bulgarische Kollegin ist schwanger. Wird sofort von der Arbeit freigestellt. Erhält in drei Monaten nur 600 Euro Ersatzleistung. Der Rest muss über langwierige Prozesse eingeklagt werden.
Das deutsche Recht verlangt die persönliche Geltendmachung einer offenen Lohnforderung. Nicht die Gewerkschaft oder eine soziale Institution kann klagen, das Individuum selbst muss den Mut aufbringen – und riskiert damit meist sofort den Arbeitsplatz.

Frühkapitalistische Zustände

NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) vertritt die Ansicht, „in der Fleischindustrie herrschen frühkapitalistische Zustände“. Matthias Brümmer beklagt eine „völlig verlotterte Moral im Umgang mit dem Wert von Arbeit“. Er kann sich tierisch empören über die Hinhaltetaktik von CDU und CSU, die Einführung von Mindestlöhnen möglichst zu verzögern. „Wer für einen Dumpinglohn schuftet, der fühlt sich von der Gesellschaft mit Füßen getreten. Und das völlig zu Recht“, sagt er. „Arbeit ist keine Dumpingware. Sie darf nicht länger nach dem Geiz-ist-geil-Prinzip auf den Wühltischen der Arbeitsvermittler angeboten werden.“ Mechanismen, „die wir so nur aus der Zwangsprostitution kennen“, sieht NRW-Minister Schneider: „Es gibt keine andere Branche in Deutschland, die sich so dicht an der Grenze des Legalen befindet wie die Subunternehmer der Schlachtindustrie. Die Art und Weise, wie osteuropäische Arbeiter angeworben oder nach Deutschland gelockt werden, kennen wir so nur aus der Zwangsprostitution.“
Tatsächlich sind Verbindungen von Subunternehmen der Fleischmafia ins Rocker- und Rotlichtmilieu aktenkundig. Attraktivere Frauen müssen als Huren arbeiten, die Mauerblümchen kommen ans Band.

Wenn der Mindestlohn kommt

Laut Gesetz müssen die „Entsendekräfte“ nach deutschem Tariflohn bezahlt werden, dem untersten einer Branche, vulgo: dem Mindestlohn. Den gibt es auf dem Bau seit 1997, in der Fleischindustrie (und nicht nur in ihr) wurde er lange verhindert, jetzt soll er ab 1. Januar 2015 greifen. (1997 bis 2015, das sind Milliarden an Lohnkosten, die sich die Fleischbranche durch zähen Widerstand erspart hat.) Ob der Mindestlohn etwas ändert? Matthias Brümmer lacht trocken: „Wenn er angewendet wird, ja!“

Er und ich und Peter und Søren aus Dänemark und jeder, der es wissen will, weiß, das ist pures Wunschdenken. Window dressing, mit dem Frau von der Leyen, Frau Nahles und andere ihr Werk getan glauben. Die Wirklichkeit sieht ganz anders, sie hat eine Papierlage, nach der alles bestens und gesetzmäßig läuft, alle genau acht Stunden arbeiten, die richtigen Pausen machen und korrekt abgerechnet wird. Ganze Rechtsanwaltskanzleien in Deutschland sind auf solche Fassadenkunst spezialisiert. „Da stimmt immer alles, wenn wir kommen“, sagen mir Zollfahnder in Oldenburg. Das sagten sie mir schon vor zehn Jahren, auch vor der Kamera, als ich für den Film „Arbeitsmigranten auf dem Bau: Ausbeutung einkalkuliert“ recherchierte. Ken Loach sagt darin: „Wanderarbeiter bekommen Arbeit, weil sie billig und verletzlich sind.“ (Der ganze Film hier.) In Wahrheit geht es um Arbeitszeiten von zehn, zwölf oder mehr Stunden und rund 800 bis 1000 Euro. Na ja, das Geld kann auch mal ausbleiben, oder partiell in der Heimat an die Frau ausgezahlt werden, vor Ort gibt es oft nur BAT (bar auf Tatze). Es gab schon Fälle, dass Wanderarbeiter vor Hunger die Tapeten von den Wänden aßen, ehe ein Verzweifelter dann doch das Umfeld auf die Not aufmerksam machte.

Schöne freie Welt …

Auch Miha aus der Alten Molkerei hat irgendwo irgendwann etwas unterschrieben, unterschreiben müssen, was in der Fassadenwelt als Bescheinigung gilt. Die von den Neo-Liberalen und den nicht als Wirtschaftsverrätern gelten wollenden Sozialdemokraten, den Christdemokraten sowieso, durchgedrückten Deregulierungen in der EU der Niederlassungs- und Dienstleistungs-„Freiheit“ erlauben noch viele weitere Tricks und Ausbeutereien. Viele rumänische Fliesenleger zum Beispiel wissen gar nicht, dass sie in Deutschland als Selbstständige angemeldet wurden. Im Frankfurter Bahnhofsviertel gibt es einen Briefkasten, in dem 150 Scheinselbstständige ihr angebliches Büro haben. Wird einer der 150 Fälle geknackt und der Gewerbeschein gesperrt, meldet ein Mittelsmann den Handwerker, pardon „Unternehmer“, zwei Kilometer weiter in Offenbach wieder an. Die Ämter tauschen sich nicht aus. Schöne freie Welt für fiese Schweine.

Sklaven, mitten in Europa

148 Namen stehen auf einem einzigen Briefkasten in Quakenbrück, ich habe sie gezählt. Ja, es ist ein großes Gebäude. Ein zweieinhalbstöckiger, langgestreckter Kasernenbau mit ehemals 16 Offizierswohnungen. Heruntergekommen, abgewohnt, seit 1933 (!) nicht saniert, aber heute lukrativer denn je. Mindestens 300 Rumänen, Bulgaren, Ungarn und Mazedonier hausen jetzt darin. Der Vermieter ist ein alteingesessener Raumausstatter, eine Stütze der Gesellschaft. Das ehemalige Bundeswehrgelände liegt direkt neben dem Christlichen Hospital, demente Patienten irren manchmal zwischen den Wohnblocks herum, in denen Teile der „Geisterarmee aus Osteuropa“ hausen, wie „Die Zeit“ sie in einer Artikelserie nennt. Zwei Wohnblocks sind schon abgerissen, am Ende der Straße liegt „das Ghetto“, sagt ein alter Nachbar, der nicht mehr wegziehen will. „Da geht niemand von uns hin.“ Ihm gegenüber wohnt Bata Jukic in einem großen Klinkerbau, die Frucht von 40 Jahren Maloche in Deutschland, ein schönes Haus.

Er kann nicht fassen, was auf der anderen Straßenseite abgeht, wie man so etwas in seinem Deutschland zulassen kann. „Diese Leute sind Sklaven, mitten in Europa“, sagt er. „Sie werden beschissen und betrogen und für ein paar Jahre bei einer Arbeit eingesetzt, die dich kaputt macht. Sie werden ausgelutscht und weggeschmissen.“

Bata hat selbst ein paar Jahre in einer Großschlachterei gearbeitet. Bis der Druck immer größer wurde. „Du kannst die Hand am Abend nicht mehr öffnen, wenn du das Entbeinungsmesser fünf Stunden so hältst“, macht er vor. Feierabend, das gibt es eh nicht mehr. Die Trupps von 50 bis 150 Mann gegenüber werden nach Bedarf eingesetzt, die abgewetzten Busse haben rumänische Kennzeichen, was schlicht deutsche Kfz-Steuer spart.

Wenn die Fleischtransporter bei den „Fleischwerken“ vorfahren, werden sie abgearbeitet, das kann neun oder vierzehn oder zwanzig Stunden dauern, je nachdem wie viele Sauen sich in die Lastzüge pferchen ließen. Vorschriften? Tierschutz? Klar, aber der Preisdruck auf alle Glieder der Liefer- und Produktionskette in der Fleischindustrie ist mindestens so groß wie in der Automobilfertigung. Über VW-Sanierer Ignacio Lopez kursierte bei den IG Metallern einst folgender Witz. Betriebsrat zu Lopez: Ignacio, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören? – Natürlich die schlechte. – Ok. Wir haben alle gesammelt und einen Auftragskiller angeheuert, der dich Blutsauger umlegen wird. – Ignacio: Und die gute? – Betriebsrat: Wir haben den billigsten genommen.

Fleisch billiger als Klopapier

Billig, billig – das ist Motor und Gesetz der Fleischbranche. „Danish Crown muss Wertzuwachs generieren für seine Eigner. Weil sie es am Ende des Tages sind, die den Mut und die Vision haben, das Überleben eines Unternehmens zu sichern, das in seiner Branche zu den globalen Marktführern gehört und das bleiben will“, trompetet Kjeld Johannesen, Group CEO, martialisch. „Jeden Tag schlagen die Verbraucher ihre Zähne in unsere Produkte“, jeder Tag sei einer, in der es um das „survival of our company“ gehe, spornt er seine Mitarbeiter im Geschäftsbericht und in Internetvideos an.

Auf der Unternehmerseite Profitmaximierung, schlankeste Personalkosten und ausgepresste Produzenten (vulgo: Landwirte), sogar noch die Energiewende dient da zum Abbau der Stammbelegschaft (erklärt wird das hier), und auf der anderen Seite, die Geiz-ist-geil-Mentalität. Die deutschen Konsumenten sparen zwar nicht bei ihrem Auto, seiner Pflege oder bei Ersatzteilen, an sich selber aber lassen sie das allerbilligste Fleisch. (Das Thema multiresistente Keime lassen wir aus Platzgründen beiseite.) Peter und Søren können die deutschen Lebensmittelpreise nicht fassen. Wie geht das, dass ein Kilo Fleisch billiger ist als ein Kilo Klopapier? Bei Danish Crown verdient ein Arbeiter heute 30 Cent weniger für ein ausgelöstes Kilo Schweinekotelett als vor zwei Jahren.

Für den Konzern lohnt es sich, Schweinehälften aus Dänemark nach Oldenburg zu karren, um sie dort zerlegen und die Teile dann wieder zurückzuschicken. Knorpel und Füße gehen nach China und Korea, da hatte der „Tatort“ Recht. Schlachtereien zahlen ihren Arbeitskräften in Deutschland 17 Prozent weniger als in Frankreich und 42 Prozent weniger als in Dänemark. Das knallhart kapitalistische Unternehmen Danish Crown hat in Dänemark eine „Gläserne Fabrik“ eingerichtet, auf die auch der „Spiegel“ in einem wie bezahlt wirkenden Artikel hereinfiel, gleichzeitig aber wird mit Werksverlagerungen ins deregulierte Großbritannien gedroht, werden Gewerkschaften zu verschlechterten Arbeitsbedingungen und der Staat zu deutlich mehr Subvention erpresst.

9143 Schweine am Tag, 380 in der Stunde

Essen/Oldenburg ist einer der wichtigsten Standorte von Danish Crown (Motto: It’s all about food). Der Betrieb liegt versteckt im Industriegebiet, Waldstr. 7, macht überhaupt nichts her. Da ist kein Glamour, keine „gläserne Fabrik“, wie der Spiegel fabelt. Hinein kommt hier keine Öffentlichkeit, natürlich hatte ich angefragt. Sogar die Staatsgewalt hätte es schwer: „Razzia in einer Fleischfabrik, wie soll das gehen. 1500 Arbeiter und jeder hat ein Messer, da brauchen Sie 3000 Polizisten“, sagt Gewerkschafter Matthias Brümmer. An die Messer muss ich irgendwann auch denken, als ich mit Peter und Søren auf der Waldstraße stehe und wir versuchen, mit einigen der „Eimermenschen“ ins Gespräch zu kommen, die grade Schichtende haben. Gesenkte Köpfe, abgewandte Blicke, Körpersprache totale Abwehr und von einigen Aufpassern böse, kalte, abschätzende Augen. Kleinbusse mit rumänischen oder polnischen Nummern sammeln Gruppen auf, zwei dicke dunkle Mercedes-Schlitten mit Muskeltypen patrouillieren. Mir wird es nicht schnell mulmig, es ist heller Tag, aber das hier ist ungemütlich. Kontakt bekommen wir keinen.

Die Werksanlage hat etwas von angegammeltem Gefängnis. Kein Gramm Blech zu viel an Rohren oder Dächern, funktionale Hässlichkeit, hoher Stacheldraht und Kameras. Auf dem eingezäunten Werksgelände Hallen von Töchterunternehmen, andere Fleischmarken. Der Lkw-Parkplatz gegenüber der Pforte ist mickrig, die Tiertransporte landen hier wie Flugzeuge an und werden schnell an die Rampen bugsiert. Mit Gutshof-Idylle haben Danish Crown, Tönnies, Vion & Co. nichts zu tun, alle Werbung hier ist Volksverdummung. (Nicht annähernd gab der „Tatort“ einen Eindruck von – meinetwegen mit weitestem Zoom gefilmter – Industrieanlage, was da gezeigt wurde, war eine kleine Landschlachterei.)

Ein Mann erhebt die Stimme

Neben Matthias Brümmer, der als Gewerkschafter schon viele Jahre wie ein Don Quichotte gegen sich wegduckende Gegner und wegschauende Politiker kämpft, ist es im oldenburgischen Umland ein einzelner Mann, der die Stimme erhebt. Prälat Peter Kossen aus Vechta spricht deutlichste Worte, er ist ein Kirchenmann ganz nah am Volk, der die Proletarier und das Matthäus-Evangelium liebende Pasolini (siehe hier) hätte seine Freude gehabt, Roberto Rossellini auch, der das Leben von Franziskus von Assisi verfilmte (zum Trailer). „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten“ (Exodus 22,20), lautet die Überschrift seiner oft gehaltenen Predigt, die er auch als Referat vorträgt. (siehe hier)

Hier ein Auszug: „Ich will es bewusst ganz drastisch sagen: Der Missbrauch der Werkverträge frisst sich wie ein Krebsgeschwür quer durch unsere Volkswirtschaft! Bis in Kleinstbetriebe hinein hat dieses Beschäftigungsmodell mitten in unserer Gesellschaft Schule gemacht. Ausbeutung ist hoffähig geworden!

Um Lohnkosten zu drücken, hat man Geister gerufen, die man nun nicht mehr loswird. Rechtsfreie Räume sind entstanden, Parallelwelten, richtige Subkulturen mitten unter uns. Kinder sind betroffen, schwangere Frauen, Kranke ohne Versicherung…! Unser Sozialgefüge gerät immer mehr in eine bedrohliche Schieflage. Die Verursacher-Haftung müsste hier greifen, Haftung der Firmen, die solche Strukturen seit Jahren benutzen und damit Arbeitskräfte ausbeuten!

Wir sprechen im Oldenburger Land und Emsland von etwa 10.000 Menschen. Der ehemalige Bürgermeister von Bakum, Hans Lehmann, hat mir erzählt: Als er 1989 als Gemeindedirektor nach Bakum kam, haben die Schlachthofarbeiter am Ort im Akkord und mit Zuschlägen mehr verdient als er als Gemeindedirektor. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Aber so lange ist das noch nicht her.“

„Dann verrotten unsere Werte von Innen!“

Prälat Kossen weiter: „Wenn es uns nicht gelingt, menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen auch für Migranten zu garantieren, dann verrotten unsere Werte von Innen! All das, worauf wir in unserer Region stolz sind: Fleiß, Innovation, Mut und auch unser Gemeinschaftsgefüge verrottet von Innen, wenn es uns nicht gelingt, Rechte und Gerechtigkeit allen zugänglich zu machen, auch den Migranten!

In den vergangenen zwei Jahren ist mir durch verschiedene Erfahrungen und Beobachtungen klar geworden: Beim Missbrauch der Werkverträge müssen die Kirchen eingreifen und bremsen! … Gott steht auf der Seite der Kleinen und Schwachen – da ist die Bibel ziemlich eindeutig. Dann muss die Kirche genau dort stehen. Denn „eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“ Dieses Wort des französischen Bischofs Jacque Gaillot gilt. Dieser Dienst bedeutet, denen zu helfen, die unter die Räder geraten sind, und, wenn nötig, dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.

Ein himmelschreiendes Unrecht mitten unter uns sind menschenunwürdige Unterkünfte, besonders für osteuropäische Arbeitsmigranten. Unter unsäglichen hygienischen Bedingungen und zu völlig überhöhten Mietpreisen werden abbruchreife Häuser mit Rumänen, Bulgaren, Polen und anderen Menschen vollgestopft.

Durch den Missbrauch der Werkverträge werden in Deutschland längst nicht nur in der Fleischindustrie jeden Tag hunderttausende vor allem osteuropäische Arbeitsmigranten mitten unter uns systematisch ausgebeutet, gedemütigt und betrogen: Im Hotelgewerbe, in der Getränkeindustrie, bei den Regaleinräumern mancher Discounter, auf den Großbaustellen, im Versandhandel, überall finden wir ganz ähnliche Strukturen … Der Hinweis, dass auf diese Weise Arbeitsplätze geschaffen und erhalten werden und dass es den Arbeitsmigranten zu Hause noch schlechter geht und sie dort noch viel weniger verdienen würden, ist zynisch! Dass bedeutet doch, ihre Not und Perspektivlosigkeit auszunutzen!“

Prälat Kossen macht von sich selbst nicht viel Aufhebens, die Sache mit dem Kaninchen ist für ihn lange gegessen, er hat eine öffentliche Antwort erteilt. (Hier zu finden.) Der Besuch bei ihm hat uns drei Journalisten für manches entschädigt. Mit Schalk in den Augen erzählte er, wie er sich oft mit einem alten Schulkameraden streitet, dem Geflügelbaron Paul-Heinz Wesjohann, der den Fleischkonzern PHW und das Wiesenhof-Imperium mit den angeblich so glücklichen Hähnchen regiert. Jedes dritte in Deutschland verspeiste Huhn stammt aus seinen Unternehmen. Dem gläubigen Katholiken Wesjohann hat Kossen schon oft den Propheten Amos vorgehalten, der im 8. Jhdt. v. Chr. soziale Missstände anprangerte und als Viehzüchter und Obstbauer in den Tempelgottesdienst hineinrief:

„Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feste nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe keinen Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht mehr hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“

Haben Sie Arbeit? Haben Sie Arbeit?

Kossens Onkel ernährte mit seiner Hände Arbeit im Schlachthof einst die ganze Familie, baute zudem ein Haus. Der ehemalige Bürgermeister von Bakum, Hans Lehmann, erzählte ihm, als er 1989 als Gemeindedirektor nach Bakum gekommen sei, verdienten die Schlachthofarbeiter am Ort im Akkord und mit Zuschlägen mehr als er als Gemeindedirektor.

Heute wäre so etwas nicht mehr denkbar – selbst wenn tatsächlich in der Fleischbranche nach Mindestlohn bezahlt würde, reicht das weder für Familiengründung noch Wohneigentum. Die Wirtschaft, die sonst gegen alle staatliche Einmischung kämpft, hat es erreicht, dass in Deutschland niedrige Löhne von Staats wegen aufs offizielle Grundeinkommen „aufgebessert“ werden. Und dann wird von „Sozialschmarotzern“ geredet, während alle Schlupflöcher der Steuervermeidung genutzt werden.

Haben Sie Arbeit? Haben Sie Arbeit?, fragt der Mann auf Krücken, der ums Haus gehumpelt kommt, als er uns am Briefkasten mit den 148 Namen sieht. Es ist fast der einzige Satz, den er kann. „Mazedonia“ noch und „Onkel“, Zeigefinger auf die eigene Brust gerichtet, als die zwei jüngeren Männer heran sind. „Arbeit, Arbeit?“, fragen sie, „zehn Ehh-Uhro“? Falsches Lächeln, sie wissen, das bekämen sie nie. Als sie es endlich glauben, dass wir nur Journalisten und keine Arbeitsvermittler sind, werden die Gesichter flach. Peter, Søren und ich haben das schon oft erlebt, wo immer wir es mit eingeschüchterten, vor Gewerkschaft, Ämtern und Presse gewarnten Wanderarbeitern zu tun hatten. Jeder, der mit Journalisten redet, wird streng zurechtgewiesen oder gar zusammengeschlagen, bestraft. Ich habe es erlebt, dass ein ganzer Trupp, der zu zwölft am nächsten Tag zur Polizei wollte, am Morgen nicht mehr da war. Abtransportiert, weil in der Gruppe ein Informant war, 50 Euro extra für heikle Informationen machen viele zu Sängern. Es ist heikel, was wir hier als Journalisten tun – und zweischneidig. Es ist eine Welt, in der, ob am Bau oder prekär in der Fleischindustrie oder Landwirtschaft beschäftigt, ein Arbeitsunfall selten im Krankenhaus endet (niemand ist krankenversichert), es kann auch ein Waldstück zum Verbluten sein, ein Ende als „unbekannte“ Wasserleiche oder im Beton. All das sind keine Erfindungen von Kriminalautoren, sondern die Realität.

Keine Chance auf mehr als 1000 Euro

Wir sind am Abend im Kiosk, hatte einer der jungen Roma-Mazedonier gesagt. Wir gehen hin. Der Kiosk ist ein alter Betonwürfel an der Hauptstraße von Quackenbrück, eigentlich eine Ruine. Der Raum ist ratzekahl und rappelvoll, drei Tische, eine kleine Behelfstheke. Die Männer spielen eine Art Scrable mit Zahlen, andere Karten oder Backgammon. Dazu drei alte Glücksspielautomaten, zwei Wettmaschinen, zwei Monitore. Angemeldet sind die sicher nicht. Wir stören, bestellen uns Bier an der Bar, stehen herum, bis bei einigen die Neugier siegt und wir ins Gespräch kommen. Sie sind aus Ex-Jugoslawien, Mazedonien, Bulgarien, der Türkei. Angehörige des lokalen Prekariats, Migrantenkinder, eher keine Fleischarbeiter. Drei der Jüngeren kommen ins Reden. Hier geboren, kaum Ausbildung, keine Chancen. Einer hat bei Danish Crown gearbeitet, in der Reinigung. Werkvertrag bei einem Sub, 1400 Euro im Monat.

Dann wurde der Bereich vor drei Jahren automatisiert, seitdem ist er arbeitslos, wie die meisten andern im Raum. Hier zahlt dir niemand mehr als 1000 Euro im Monat, sagen sie. Die Jobs sind alle Scheiße… Hier ist alles kaputt … In Deutschland geht alles vor die Hunde. Als er sich bereit erklärt, fotografiert zu werden und Søren der Kamera ein Blitzlicht aufsetzt, ist plötzlich Aufruhr. Drei ältere Männer, harte Knochen, sind plötzlich da, bauen sich vor uns auf. Der junge Mann wird aus dem Raum eskortiert, wir hören ihn draußen kurz aufschreien. Nix Foto, knurrt uns ein Kleiderschrank an. Die Stimmung wird eisig. Sorry, sagen wir. We are from Denmark. Trinken, dann gehen!, sagt einer drei Alten, winkt dem Barkeeper. Diese Limo müssen wir jetzt zischen, sage ich zu Peter und Søren, der auch baumlang ist. Wir stehen noch herum, von den drei Alten abgeschirmt, ein richtiges Gespräch will nicht aufkommen. Sie sind Migranten der ersten Generation, aus Serbien und Montenegro, Gespräche mit Deutschen finden sie für die Katz, das ist klar. Aber wir bekommen drei Mal einen Händedruck zum Abschied. Von den Jüngeren, die mit uns geschwatzt haben, schaut kein einziger hoch, als wir den Rückzug antreten.

„They are really fucking up this country.“

Die Billig- und Dumpingmentalität hat sich rings um Oldenburg wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet, sagt Prälat Kossen. Fast jede kleine Werkstatt, jeder kleine Betrieb hat mittlerweile „seine“ Polen, Rumänen, Bulgaren, seine Billigkräfte. Der Landkreis Cloppenburg ist einer der reichsten Regionen der Republik, man muss sich das immer wieder vergewissern. Steht da wirklich ein Hühnerstall neben dem anderen am Chicken Highway?, fragte mich ein Freund. Tatsächlich rasen hier haushohe Traktoren mit kleinwagendicken Reifen und Riesengüllefässern über die Straßen, die traditionellen hufeisenförmigen Höfe haben dahinter tiefgestaffelte Parallelreihen von langen Stallbauten. Oft jedoch sind die Massentierpferche hinter Erdwällen versteckt, man muss ein Auge für sie haben. Offenkundiger sind in so gut wie jedem Ort die Kleiderstellen, Diakonie-Läden, Ausgabestellen der Lebensmitteltafel. Hier haben nicht alle gleich viel essen oder zu leben, hier gibt es manifestes Prekariat. In einem 8000-Seelenort gibt es hier 1000 Migranten, das sollen sie mal den Pegida-Demonstranten in Dresden erzählen, die einen Ausländeranteil von 2,2 Prozent in Sachsen für den Untergang des Abendlandes halten.

Bangladesch_Foto von Søren Zeuth

Foto: Søren Zeuth, aus seiner Serie Rana-Plaza-Fashion, Bangladesch 2013

Tatsächlich sind die Zustände im Cloppenburger Land so, dass es meinem dänischen Kollegen Peter – und er war mit Søren Zeuth in Bangladesch, an jener eingestürzten Textilfabrik mit über 1400 Toten – am zweiten Tag unserer Recherche entfährt: „Die Arbeitslager für die Fremdarbeiter sind jetzt privatisiert, aber ihr habt sie immer noch, ihr Deutschen. Für die Fremdarbeiter.“ Nur dass sich die Lager für die Arbeitssklaven aus Osteuropa jetzt mitten im Ort befinden, wie in Essen/Oldenburg oder in Quackenbrück – etwas, von dem ich denke, dass solch Menschenverachtendes noch nicht derart offen in jeder Region Deutschlands möglich wäre. Auch mir platzt der Kragen, als wir wieder aus einer dieser grausigen Unterkünfte kommen. Ich sagte zu Peter und Søren: „Yes, you’re right. They really are fucking up this country.“

PS: Der so lange verhinderte Mindestlohn in der Fleischwirtschaft bedeutet: Wer acht Stunden am Tag arbeitet, fünf Tage die Woche, wird künftig monatlich 1363 Euro erhalten. Brutto. Für viele Beschäftigte wäre es eine saftige Lohnerhöhung.

PPS: Die „Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse bei der Unterbringung von Arbeitnehmern in Wohngemeinschaften des Landkreises Cloppenburg“ legen fest – scheinbar muss man es: a) maximal 4 Betten pro Raum, b) 8 Quadratmeter Wohnraum pro Person, so viel wie in Deutschland auch ein Schäferhund Anrecht hat, c) Zugang in jedes Schlafzimmer über einen Flur, d) je 4 Personen ein Waschbecken, eine Dusche, eine Toilette, e) gesonderter Raum zum Trocknen der Kleidung, f) je 8 Personen ein Herd mit 4 Kochplatten. Bei Kontrollen von 122 Objekten mit 1324 betroffenen Personen im Landkreis Vechta fand man Wohnungen mit 15 Betten in einem Raum. Bei 23 Objekten mit 486 dort festgestellten Personen wurde ein Nutzungsuntersagungs-Verfahren eingeleitet (Diskussion um Werkvertragsschlachter).

PPPS: Kjeld Johannesen, Group CEO, Danish Crown, im aktuellen Geschäftsbericht: „DANISH CROWN must generate value for its owners. Because at the end of the day it is they who have the courage and the vision to ensure the survival of a company which is among the global leaders within its line of business. In spite of challenges, this year DANISH CROWN’S owners can take pride in having enabled the opening of the most modern cattle slaughterhouse in the world.“

PPPPS. Jetzt im Dezember 2014 hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) bei einer bundesweiten Kontrollaktion 930 Betriebe der Fleischwirtschaft überprüft. 1800 Ermittler waren bei der Razzia im Einsatz, 15.700 Beschäftigte wurden von den Zollbeamten auf ihre Arbeitspapiere hin kontrolliert (wobei Werksvertragsverhältnisse mit ausländischen Firmen einer Überprüfung „wenig zugänglich“ sind, einer Ahndung erst recht nicht). In 625 Fällen wurden Geschäftsunterlagen genauer unter die Lupe genommen, es ergaben sich 27 Verdachtsfälle von unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung. Rund 300 Mal ergaben sich Hinweise, dass der derzeitige Mindestlohn in der Fleischwirtschaft von 7,75 Euro unterschritten sei. Gute Arbeit insgesamt der Papierfront-Fabrikateure also. Scheint ja alles beinahe bestens zu sein.

Währenddessen arbeiten die unterbesetzten Zöllner der FKS am Anschlag, haben Aufgaben wie Kontrolle und Eintreiben der Kfz-Steuer hinzubekommen, gleichzeitig rückt eine Personalaufstockung, die zur Kontrolle des am Januar 2015 flächendeckend geltenden allgemeinen Mindestlohns versprochen war, in weite Ferne. Die avisierten 1600 neuen Stellen bei der FKS werden erst bis 2019 eingerichtet sein – fünf Jahre nach der Einführung. 600 der der vorhandenen 6500 Stellen sind derzeit unbesetzt. Dieter Dewes, Chef der Zollgewerkschaft und einer der Kenner der wirklichen Lage, hält 2500 neue Kontrolleure ab Januar 2015 für erforderlich. Es klafft also in Wirklichkeit eine Lücke von 3100 Stellen. Der Staat will gar nicht effektiv für Mindeststandards sorgen.

Alf Mayer, 29. Oktober 2014

FAIR STATT PREKÄR. Niedriglöhne in Niedersachsen und Bremen – ein dringender Gestaltungsauftrag. Niedriglohnbeispiele aus dem Bereich der Gewerkschaft NGG Netzwerktagung 2014
Aufstand gegen die Fleischmafia
Zu Prälat Kossen, zu Gast bei Günther Jauch.

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