Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Alf Mayer zur Monographie „Gio Ponti“

Ein Mann mit vielen Eigenschaften 

Schönheit erleben, wie sie einen beschwingt und besonders in diesen Corona-Zeiten das Herz erleichtert, das kann man unbedingt mit diesem großformatigen, schwergewichtigen und doch erstaunlich luftigen XL-Buch aus dem Verlag Benedikt Taschen. Der Band ist ein sinnliches Fest, elegant und zurückgenommen, prall und dicht, selbstbewusst und voller leiser, schöner Töne. Es ist ein Buch über die Herstellung der Schönheit. Im Kleinen wie im Großen.

Es ist ein perfekt austariertes Buch über das Lebenswerk des fast sechs Jahrzehnte produktiven Giovanni Ponti, genannt Gio, aus Mailand (1891 – 1979), und selbst ein Kunstwerk. (Ein Bravo an die Gestalter!) Gio Ponti war Architekt, Designer, Professor für Architektur, Künstler und Publizist. Ein Mann mit vielen Eigenschaften. Einer der großen Universalisten. Die italienische Moderne prägte er wie kein Zweiter.

Gio Ponti gilt als als Vater der italienischen Nachkriegsmoderne. Sein Name gehört neben Peter Behrens, Raymond Loewy, Le Corbusier (der eigentlich Charles-Édouard Jeanneret-Gris hieß), Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius, Alvar Aalto, Marcel Breuer, Wilhelm Wagenfeld, neben das Bauhaus, neben Eileen Gray, Florence Knoll, Charles und Ray Eames oder Eero Saarinen (der als Juryvorsitzender beim Wettbewerb für das Opernhaus von Sydney den schon abgelehnten Entwurf des späteren Siegers Jørn Utzon förderte). Gio Ponti ist die Moderne.

Vom Löffel bis zur Stadt

Und zwar „dal cucchiaio alla città“, vom Löffel bis zur Stadt, wie es Ernesto Rogers in einem „Domus“-Artikel über Mailands Architekten benannte und damit das erstmals vom Schweizer Designer Max Bill verwendete Schlagwort zu einem geflügelten Wort in ganz Italien machte, eine ganze Architekten- und Designergeneration damit prägte. „Vom Löffel bis zur Stadt“ war und ist für die italienische Designsprache so grundlegend wie das „Weniger ist mehr“ von Mies van der Rohe für die deutsche. Michelangelo nannte es einst „per forza di levare“ – „vermittels Wegnehmen“ ein Maximum an Qualität und Schönheit zu erreichen. 

Gio Ponti – das zeigt dieses Buch wieder und wieder – war ein Gestalter, der vom Kleinen ins Große ging und gerne auch wieder zurück. Er konnte sich für industrielle Produktionsmethoden wie altes Handwerk gleichermaßen begeistern, operierte zwischen Klassizismus und Moderne, zwischen handwerklicher und industrieller Produktion. Seine Entwürfe und Arbeiten verstrahlen Optimismus. Er förderte Talente. Immer galt ihm: „Ich urteile nicht über Künstler. Ich liebe sie einfach.“ 

An theoretischen Debatten lag ihm nicht. Lieber war er unermüdlich produktiv. Ein Vollblut-Macher. Und ein großer Briefeschreiber. Das Gio Ponti-Archiv verwahrt fast 100.000 Briefe, listet 6.400 Empfänger, darunter Alberto Marinetti, Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright. Über sein eigenes Schaffen publizierte er nur ein einziges Buch, selbst Konzeption und Umbruch sind von ihm und natürlich der Titel: „Espressione di Gio Ponti“ (Aria d’Italia, Mailand 1954).  

Als enthusiastischer Vermittler von Architektur und Design waren ihm Zeitschriften stets lieber als Bücher, weil eben schneller und international vertrieben. Bereits 1928 gründete er 1928 die Zeitschrift „Domus“, blieb abgesehen von kleinen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1979 ihr Chefredakteur. „Amate l’architettura. L’architettura è un cristallo“ (Liebt die Architektur. Architektur ist ein Kristall) mag als ein Motto gelten. Seine Forderung: „Architektur muss als bewohnter Raum konzipiert und als menschenleerer Raum beurteilt werden.“  

In den Fünfzigern wurde sein riesiger „capannone“ berühmt, ein „Schuppen“ von 15 x 45 Metern in der Mailänder Via Dezza, ursprünglich eine riesige Garage. Architekten, Ingenieure und junge Gäste aus Italien, Indien, Japan oder den USA arbeiteten hier zusammen an Projekten und hatten Spaß. Eine moderne Form von Meisterwerkstatt, ein „open space“.

Das Casino von San Remo – u.v.a.

Gio Pontis Kreationen aus sechzig Jahren schöpferischer Tätigkeit, die diese Monographie auf schön spielerische Weise versammelt (noch einmal ein Bravo an die Gestalter), sind von atemberaubender, ja stupender Vielfalt. Er entwarf Stoffe und Möbel, Besteck, Weinetiketten, Geschirr, Theaterkostüme, Kirchen, Wolkenkratzer, Elektrizitätswerke, Büros, Konzernzentralen, Schwimmbäder und Hotels, Türgriffe und Vasen, Keramiken und Fliesen, Sanitäranlagen und Kronleuchter, Rahmen und Lampen aller Art, Ministerien und Villen, Museen, Warenhausfassaden, Bettzeug, Autos, eine Nähmaschine, Hotelzimmer, Becher, Teller, Swimming Pools. Er entwickelte die erste Espressomaschine der Marke La Pavoni (wegen der Schneckenform „La Cornuta“ genannt), entwarf Interieurs, Besteckserien und Toiletten, Hotels und Villen, das Casino von San Remo, sogar Kreuzfahrtschiffe wie die „Andrea Doria“. Mailand in der Nachkriegszeit war „die Hauptstadt der Möglichkeiten“. Ihr Meister: Gio Ponti.

Unter seiner Leitung wurde die Biennale von Monza zur Triennale di Milano und zum Laboratorium für neue Trends in der modernen Kunst und Architektur. Auf beinahe 40 Seiten versammelt der Band seine Entwürfe für Ocean Liner, für Kabinen und Decks, Restaurants und Lounges – eine heute untergegangene, elegante Form des Reisens. Weitere 30 Seiten gelten drei Villen, die er gestaltete: der Villa Planchart und der Villa Arreaza in Caracas (1953-1957) sowie der Villa Nemazee (1957-1964) in Teheran, die er als sein „Gesamtkunstwerk“ bezeichnete. Gerne schwelgte ich aber auch in den blauen Kacheln des Hotels Parco die Principi „Villa Siracusa“ in Sorrento, im spröden Trotz des Denver Art Museums oder der eleganten, ja transzendentalen Schlichtheit der Kathedrale Gran Madre di Dio in Taranto.

Müsste man aber ein Gebäude wählen, das diesen Mann auf den Punkt bringt, dann wäre es das Pirelli-Hochhaus in Mailand. Einmal steht er neben einem mannshohen Modell, eine der vielen unaufgeregten Fotografien im Buch. Besonders mochte ich die scheinbar willkürlichen Wimmel-Doppelseiten mit Schwarzweißfots.

127 Meter hoch und abgeschrägt, trotz seiner 30.000 Kubikmeter Beton eine leichte und luftige Erscheinung, eine moderne Interpretation des Flat Iron-Gebäudes in New York, ist das Pirelli-Hochhaus Gio Pontis Meisterwerk. Dino Buzzati, Schriftsteller und Maler, stellte sich 1971 in einem Artikel für den Corriere della Sera den achtzigährigen Gio Ponti als einen „älteren Herrn mit stolzem, leicht melancholischem Antlitz“ vor, wie er eines Tages sein großes Bauwerk besucht, ohne gesehen zu werden. Er steigt in den Fahrstuhl, unbeachtet von den vielen Menschen, die in diesem vor Vitalität vibrierenden Hochhaus ihrer Arbeit nachgehen und fröhlich, fast glücklich darüber sind, dass sie hier arbeiten können, in einem so ansprechenden und bedeutungsvollen Gebäude, das mehr noch als der Mailänder Dom zum Symbol der Stadt und zu einem wahren Publikumsmagneten geworden ist: 

„… Trotz seiner unbestreitbaren Schönheit oder vielleicht gerade deshalb hat er unglaublich viel Charakter. Ich wohne ja nur ein paar Schritte von der nahen Piazza della Repubblica entfernt und habe mich langsam an seinen Anblick gewöhnt. Doch manchmal geschieht es, dass ich die Straßen entlangschlendere und zufällig den Kopf hebe und nach oben schaue, was man in der Stadt leider nur selten tut, und da ist plötzlich diese Zinne, diese Spitze, dieser hoch aufragende Turm, hoch oben über all diesem Beton und Glas der pompösen Wohnblocks mit seiner großen, feierlichen Aura voller Reinheit. Gehen Sie doch mal in die Via Fabio Filzi und biegen Sie auf ein paar Schritte in die Via Marangoni nach rechts ab und schauen Sie nach oben: Dann sehen Sie ihn in seiner poetischen Kraft wie die Schneide eines Schwerts. Oder noch besser: Gehen Sie in die Via General Fara, und an einem bestimmten Punkt öffnet sich der Blick, das ist ohne Frage einer der schönsten Flecken in Mailand – und die Stadt ist weiß Gott sparsam mit ihren Schönheiten. Hier sollten die Touristen hergebracht werden, ganze Busladungen von Touristen auf ihren rituellen Stadtrundfahrten.“

Karl Kolbitz (Hg.): Gio Ponti. Mit Texten von Salvatore Licitra, Stefano Casciani, Lisa Licitra Ponti, Brian Kish, Fabio Marino. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2021. Hardcover, Format 36 x 36 cm, 5.67 kg, 572 Seiten. Als Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren, 200 Euro. Verlagsinformationen hier.
Ebenfalls erhältlich als Art Edition (Nr. 1–1.000) mit einer exklusiven Reproduktion des Arlecchino-Couchtisches im quadratischen Format sowie einem Set von vier nummerierten Ocean-Liner-Interior-Prints. – Informationen hier und weiter unten.

Der Arlecchino-Gitter-Couchtisch gilt als eines der ikonischsten Designs Pontis. In Anlehnung an den malerischen Ansatz der De-Stijl-Künstler Piet Mondrian und Theo van Doesburg beruht die Oberfläche auf einer dynamischen Gitterstruktur, deren Farbkombinationen je nach Blickwinkel des Betrachters variieren. Üblicherweise existiert der Tisch im runden Design. TASCHEN legt ihn in dem ursprünglichen quadratischen Format neu auf, das 1954 als einzigartiges Beispiel für Pontis Villa Planchart produziert worden war.

Die vier Prints beruhen auf Zeichnungen von Ponti aus den Jahren 1948-49. Die Originale werden heute im CSAC aufbewahrt, einer Einrichtung an der Universität Parma, der die Familie Ponti ein umfangreiches Archiv von Originalzeichnungen anvertraut hat. Diese wertvollen und fragilen Arbeiten entstanden im Rahmen einer Ausschreibung für die Innenausstattung der Ozeandampfer Conte Grande und Conte Biancamano, die beide 1949 vom Stapel liefen. Sie zeugen von Pontis Idee, für diese Schiffe unterschiedliche Räume mit jeweils völlig eigenständigem Design zu kreiieren, um die elegante und kontemplative Atmosphäre während einer Luxuskreuzfahrt perfekt zu begleiten. Dafür bediente er sich der besten Materialien und anspruchsvollsten Handwerker Italiens. „Das beständigste Element ist nicht Holz, nicht Stein, Stahl oder Glas. Das beständigste Element in einem Bauwerk ist die Kunst. Lasst uns etwas sehr Schönes damit machen.“ — Gio Ponti

Gio Ponti. Art Edition. Das Buch. Exklusiv mit Tisch nach dem Design von Gio Ponti, 56,5 x 56,5 x 38 cm, sowie vier Art-Prints, jew. 40 x 40 cm auf Hahnemühle-Fine-Art-Papier (Photo Rag Ultra Smooth 305/m²), 3.000 Euro.

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