Geschrieben am 1. Juni 2019 von für Crimemag, CrimeMAg Juni 2019

Alf Mayer: Porträt Quentin Mouron

Dandy, noir

Großer Autor zu entdecken – Quentin Mouran. Kleiner Steckbrief von Alf Mayer.

Er wuchs an einem Ort auf, dessen Name die Bewohner zu verhöhnen schien: im versifften Winzkaff Notre-Dame-de-la-Merci in der kanadischen Provinz Québec. Gnadenlos hat er es in einem gleichnamigen Roman besungen. Der „Nouvel Observateur“ nannte ihn damals, 2012 bei diesem seinem zweiten Buch, „ein literarisches Phänomen von 23 Jahren“. Heute hat der 1989 in Lausanne geborene Quentin Mouron bereits fünf Romane veröffentlicht. Bei uns in Deutschland ist er noch weithin unbekannt, im französischen Sprachraum längst eine etablierte Größe. Sein neuestes Geniestück „Vesoul, le 7 janvier 2015“ geht im französischsprachigen Raum gerade durch die Decke. Drei seiner Bücher sind bislang übersetzt – bestens ausgestattet und auch haptisch eine Freude – im feinen Zürcher Bilger Verlag erschienenen, zuletzt jetzt „Heroïne“. Im Herbst 2020 folgt „Vesoul“. Es wird Zeit, diesen Autor kennenzulernen.

Anders als der ebenfalls gerade ins Blickfeld geratende Westschweiz-Kollege Joseph Incardona braucht Quentin Mouron für „Heroïne“ ganze 125 Seiten, knapp ein Drittel des Umfangs von „Asphaltdschungel“, genug jedoch, um uns Lesern den Boden wegzuziehen und in eine Welt fallen zu lassen, die Michail Michailowitsch Bachtins „Literatur und Karneval“ zu entstammen scheint. In jedem Buch versucht der längst von jedem Glauben abgefallene Apostat Mouron etwas Neues, konterkariert die Regeln des Genres, hebt die Gesetze ihrer Schwerkraft auf, schreibt dabei klar wie Quellwasser, ein Zen-Meister des Noir. Sein Humor trinkt ganz im Sinne Jean Pauls „den Nektar himmelaufwärts“, er ist ein Dandy der Kriminalliteratur, spielfreudig, cool, düster, ironisch und lasziv. Immer wieder, zuverlässig, jedes Mal aber völlig anders, erreichen seine Romane einen Moment, der mich an Rutger Hauers große Rede im strömenden Regen in „Blade Runner“ erinnert:

„Ich habe Dinge gesehen, die Ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. … Zeit zu sterben.“

Düstere Welt voll eingeschneiter Träume

Einer der wenigen, die Quentin Mouron schon länger im Blick haben, ist CrimeMag-Mitarbeiter Frank Rumpel. Über „Notre-Dame-de-la-Merci“ schrieb er bei uns:

„… alles brodelt vor sich hin. Und so treibt Mouron sein  bizarres Figurenensemble auf einen Punkt zu, an dem ein Verbrechen aus Verzweiflung immer wahrscheinlicher wird. Mouron arbeitet mit Andeutungen, skizziert, tupft in präziser Prosa und schafft damit eine reichlich frostige Atmosphäre, die gelegentlich allerdings etwas Sprödes, Kammerspielartiges hat. Mouron lässt manches holzschnitthaft stehen und vertieft anderes in einem Satz. Es ist eine kleine, düstere Welt voll eingeschneiter Träume, Verbitterung und Sprachlosigkeit, auf die er da blickt und zu einem Kondensat in Sachen Tristesse macht. Nur gelegentlich ist da ein mattes Leuchten.“

Zu „Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain“ notierte Frank Rumpel:

„… konzentriert und glänzend geschrieben, eine schillernde Geschichte über Zufall und Willkür und darum, wie das Überschreiten von Grenzen den Blick auf die Welt verändert. Für den gläubigen Sheriff gerät während der Ermittlungen einiges aus dem Lot. Was, wenn es für die Tat kein Motiv gab, wenn da einfach einer ziellos mordend durch die Gegend zieht? Dann hätten sie kaum eine Chance, ihn zu schnappen und es würde zudem die größere Ordnung, die er so sehr schätzt, ins Wanken bringen. Sein Gegenspieler Franck steht derweil für das Chaos. Er kann es sich dank einer gut gehenden Detektei leisten, sich treiben zu lassen, Verwirrung zu stiften und ganz nebenbei einen arroganten Kriminalschriftsteller namens James Ellsor in die Schranken zu weisen.“

Gibt es den freien Willen?

Jener Franck, ein Detektiv-Dandy sondergleichen – als wäre Adam Diments „Dolly, Dolly Spy“ (von 1967) wieder auferstanden – ist ein immer gut gekleideter dekadenter Kokainist, der Originalausgaben strenger Moralisten sammelt, stets eine Steyr TMP Maschinenpistole und eine Prise Koks im Koffer führt. Aufträge nimmt sein „Büro in New York“ für ihn entgegen. Er gewährleistet die Sicherheit zwielichtiger Politiker, stellt die Ehre reicher, betrogener Ehemänner wieder her, bringt picklige Ausreißer wieder heim, grübelt im Stakkato-Stil und bester Raskolnikow-Manier gern über die Frage, ob der Mensch frei sei oder ob es einen freien Willen gebe, spekuliert auch mal über sich selbst als literarischer Charakter.

Illustration aus „Tanzaï et Néadarné“

Die „Ouverture Baroque“ von „Heroïne“ sieht ihn in der „Libraire de Noveau Monde“, in einem nur für Fußgänger passierbaren Gässchen in Prenzlauer Berg, zwischen einer Bierbar und einem koreanischen Fast Food, in einem Paradies für Bibliophile. Auf dem Umschlag von Crébillon fils’ „Tanzaï et Néadarné“ (In der Ausgabe Pékin (i.e. Avignon), Lou-Chou-Chu-la, 1734, deutsch 1734 „Der Schaumlöffel“, dann auch Christoph Martin Wieland inspirierend) zieht Franck sich dort eine line, schnupft geräuschvoll und parliert weiter munter mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz, verführt sie mit Worten, bis er ihr einen Finger in den Anus schieben darf. Bald hüpfen sie „über die Originalausgaben, über die Autographen, über die Schönen Papiere, über das gesamte Hollandpapier, das gesamte Japanpapier, das gesamte rote Maroquinleder… der Boden knackst … sie stoßen gegen Regale. Rumms! Drei Marmontels fallen heraus. Sie stolpern gegen eine Lesepult: vier Ronsards. Weiter geht es rückwärts, sie trampeln unterschiedslos auf Cazotte, Chénier und Thiers herum. Diese Orgie! Kopflosigkeit. Raserei. Jetzt muss Verlaine dran glauben. Seine Dichtung. Seine Prosa … sie kommen auf einem Folianten ins Rutschen; Restif de la Bretonne. Fangen sich gerade noch. Das Hinterzimmer! Das Hinterzimmer!, kreischt Mademoiselle Schulz.“  Auf den Gesammelten Werken von Montesquieu sinken sie schließlich ermattet nieder.

Goethe mit Goldschnitt – „Ich bin bibliophil geworden!“

Franck wohnt im Hotel Paris. Im Fahrstuhl steigen drei Frauen zu. „Sie sprechen ein unverständliches Deutsch; es geht um Wohltätigkeit, Menschlickeit, Sozialdemokratie.“ (Das Buch ist aus dem Jahr 2016.) Die Suite entspricht Francks Erwartungen, bietet unter anderem eine Goethe-Gesamtausgabe mit Goldschnitt. Er greift zum Telefonhörer, bestellt einen Gin Tonic, setzt sich und seufzt während er darüber nachsinnt, dass er alt wird – dass er inzwischen hochwertigen Alkohol trinkt und alte Bücher sammelt. „Ich sehe den Tag kommen, an dem ich mich für Politik begeistern, meinen Geburtstag im Restaurant feiern und mir einen Weinkeller zulegen werde; dann werde ich auch Museen besuchen, meine persönliche Diät entwerfen und mir alle naselang sagen, dass ich mich in meiner Haut wohlfühle.“ An diesem Tag, schluchzt er unwillkürlich, „werde ich Sneakers tragen!“ 
Er hat versucht, sich mit Bibliophilie abzulenken, hat die Dosis stetig erhöht, deshalb „Tanzaï et Néadarné“, ein Buch, das nach Pfeffer und seltenen Gewürzen schmeckt. Das Schmerzlichste ist ihm nicht der körperliche Verfall. Moralisch, fühlt er, „werde ich immer schwächer, schwerfällig, angepasst. Schon jetzt sind meine Gelüste, meine Manien und sogar meine Obsessionen die eines von Arbeit, von den Gewohnheiten gezeichneten Durchschnittsvierzigers; ich bin ernst, ich kann nicht mehr lachen, ich sammle alte Bücher! Bibliophil! Ich bin bibliophil geworden!“ – Wir sind auf Seite 16.

de Crébillon

Die Ironie als Massengrab

Claude-Prosper Jolyot de Crébillon (1707 – 1777), der Autor von „Tanzaï et Néadarné“, hörte am Ende seines Lebens mit dem Schreiben auf. Er behauptete, seine Zeit nicht mehr zu verstehen; daraufhin wurde er zum königlichen Zensor ernannt. „Die Ironie der Welt ist ein Massengrab, das ständig wieder geöffnet wird – und das nie aufhört zu stinken“, sinniert Franck, der ein Wüstenleben führt, die Bürde des falschen Propheten trägt, sich auf einer Irrfahrt ohne Offenbarung befindet. Warum war er nicht brav am Tisch sitzen geblieben und auf den nächsten großen Wein, die nächste Kreuzigung, die nächste Variation über ein dekadentes Thema gewartet hatte? Jetzt führt er nur noch Monologe, die Vorstufe des Schweigens.
Dann fällt ihm auf, dass sein Siegelring fehlt. Er hatte ihn bei der siebzigjährigen Buchhändlerin abgestreift. Er nimmt ein Taxi. Wie auf einem Gemälde von Odile Redon angerichtet, liegt der blutige Kopf von Frau Schulz auf einem Silbertablett – inmitten all der alten Moralisten. Diesen Mörder will er fangen. Er vermutet ihn unter den Antiquariatskunden, bringt das komplette Lagerverzeichnis an sich. Zurück in New York, informiert ihn die Zeitung, dass ein blonder junger, zum Islam konvertierter Bayer namens Wilfried Wagner alias Abu Mohammed Daoud al-Bavari sich als Mörder gestellt hat und stolz auf seine Tat ist, nach der er Pommes essen ging.

Ein Highway als Magmazunge

Vorhang. Akt 2. Betitelt „Suite Classique“. Vorhang auf: Dem kriegsversehrten Keith fällt eine Flasche Milch aus der Hand, ergießt sich in die Wüste von Nevada. „Herrgott noch mal!“, entfährt ihm, aber Gottes Name bedeutet hier nicht viel. Anders als in Kahmard, Afghanistan, wo es auch Berge und Wüste gab und sich ein Mädchen direkt vor ihm in Luft jagte, als er zwanzig war. Von seiner Rente konnte er sich das Wohnmobil leisten, in dem er jetzt lebt. 
Über den Highway 95, der sich „wie eine Magmazunge“ durch die Hügel windet, nähert sich Franck auf der Suche nach einer verloren gegangenen Fuhre Kokain. Als Knappen hat er den sechzehnjährigen Ausreißer Cobby dabei, der gerne Candy Crush spielt. Sie erreichen das Geisterstädtchen Tonopah. Dort bleiben sie hängen. Zitat:

Franck nimmt seine Browning Buck Mark Kaliber 22 aus dem Handschuhfach.
Mit dem Ding könntest du keinem Kind etwas tun, spottet der Knappe.
Um einen Cheeseburger zu essen, dürfte es reichen, erwidert Franck und schiebt die Pistole ins Holster.

So geraten sie in „Jenny’s Diner“, wo die junge Leah ihr Kellnerinnen-Gehalt durch Blowjobs im Hinterzimmer aufbessert. Im Geflecht dunkler Charaktere, einem danse macabre in der Wüste, wird sie zur tragischen Heldin: „Siebzehn Jahre, tausend Blowjobs, eine Kugel im Herzen.“ 

Sie stirbt an der Akkumulation von Farcen – wie andere an der Akkumulation von Drogen oder alten Büchern, denkt Franck. Ihm selbst, urteilt er, bleibt nur „die Akkumulation geistreicher Worte, hohler Worte … Zu Bossuets Zeit hatte die Sprache ein Zentrum, auf das sie zulief, und sangen die Vögel. Heutzutage piepsen sie, tweeten sie. Einhundertvierzig Zeichen, kaum noch Worte. Worte, die in der Luft hängen, nichts entsprechen. Und eine Heldin, die eines Todes starb, den man nicht besingen, den man nicht erzählen kann, dann dafür müsste man ihn ernst nehmen, ihn tragisch finden, und ich sehe hier niemanden, der dazu fähig wäre.“

Die großen Moralisten hatten die Tragik, wir haben die Burleske, wir haben die Farce, wir haben Worte, die sich in Luft auflösen, sagt der große Skeptiker Quentin Mouron. Er ist gerade 30 Jahre alt, seine Weltklugheit oft schmerzhaft. Was wohl alles haben wir von diesem Autor noch zu erwarten? – Keep posted!

Jacques Bénigne Bossuet

PS. „Der Akt der Hingabe ist der vollkommenste und heiligste aller Akte; denn er besteht nicht in der geistigen Kraftentfaltung eines Menschen, der aus sich selbst handeln will; er ist vielmehr ein Sichgehenlassen, um vom Geiste Gottes getrieben zu werden (Röm 8,14 EU). Glaube indes ja nicht, du würdest durch diese Hingabe in Untätigkeit, in eine Art Trägheit verfallen; wir wirken im Gegenteil um so mehr, als wir vom Geiste Gottes bewegt, angetrieben und belebt werden. Der Akt der Hingabe setzt uns sozusagen ganz in Tätigkeit für Gott. Wir widmen uns, weil Gott es will.“ – Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), „Akt der Hingabe“.

Alf Mayer

  • Quentin Mouron: Heroïne (L’âge de l’héroïne, 2016). Aus dem Französischen von Andrea Stephani & Barbara Heber-Schärer. Bilger-Verlag, Roman, Zürich, 2019. 124 Seiten, 19,80 Euro.
  • Quentin Mouron: Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain (Trois gouttes de sang et un nuage de coke, 2012). Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani. Bilger-Verlag, Roman, Zürich, 2017. 240 Seiten, 24,80 Euro.
  • Quentin Mouron: Notre-Dame-de-la-Merci (Notre-Dame-de-la-Merci, 2012). Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Bilger-Verlag, Zürich 2016. 104 Seiten, 18 Euro.

Website von Quentin Mouron. He, himself im Video (französisch):

Tags : ,