Geschrieben am 1. Juli 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2023

Alf Mayer: Kate Beaton „Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden“ 

Alltägliche Gewalt, gegen Mensch und Natur

Kaum eine Graphic Novel der letzten Jahre wurde so oft ausgezeichnet wie „Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden“ von der Kanadierin Kate Beaton, gerade als Zusammenarbeit von Zwerchfell Verlag und Reprodukt in einer sorgfältigen deutschen Ausgabe erschienen. Geholfen haben mag dabei, dass Ex-Präsident Barak Obama das 444-Seiten-Buch als ersten Comic überhaupt auf seiner öffentlich immer sehr beachteten Leseliste hatte. Das bärenstarke, ziegelsteinschwere Werk aber spricht für sich selbst. Solch eine Geschichte aus der Arbeitswelt ist selten – sie verdient Beachtung. 

Sie ist autobiographisch und exemplarisch, das Authentische springt auf vielen Seiten ins Auge. „Die Geschichte beginnt 2005. Ich bin 21 Jahre alt. Heute bin ich viel älter und dreidimensional“, sagen die ersten beiden Textfelder des Buches. Kate kommt aus Cape Breton, einer wunderschönen Insel vor der Ostküste von Kanada in der Provinz Nova Scotia. (Stimmt, ich war da auch schon, habe dort meiner Frau an einem idealtypischen See einen Heiratsantrag gemacht, AM.) Kate hat einen Uniabschluss als Geisteswissenschaftlerin, ermöglicht wurde es durch ein Studiendarlehen. Das muss jetzt abbezahlt werden. Mit 21 begreift Kate, dass jeder Job ein guter Job ist, sogar ein schlechter Job ist ein guter Job. Man hat Glück, einen zu haben. Das gilt auch im menschenleeren, wunderschönen Nova Scotia. Im Jahr 2005 sind die Ölsande in Nord-Alberta der Ort, an dem man den guten Job findet, gutes Geld und das bessere Leben. „The smell of money“ steht als Überschrift auf einem Zeitungsausschnitt, wo eine gewaltige Förderanlage die Ladefläche eines überdimensionierten Lastwagens füllt.

Kate fliegt hin. Nach Fort McMurray. „We have the energy“, steht auf dem Ortsschild. Das Kapitel „Syncrude, Mildred Lake“, beginnt mit einem Werksausweis für Kate. Sie ist drin. Sie hat einen Job. Sie kommt in die Werkzeugausgabe. Zuerst aber braucht sie eine P.S.A. – PSA? Na, eine persönliche Schutzausrüstung. Und, nebenbei: Auf 50 Mann kommt hier eine Frau. Entsprechend wird Kate angestarrt. Und angemacht. In der Kantine. In der Bar. Es gibt nur Stripclubs zum Ausgehen. Die Männer zielen dort mit Zwei-Dollar-Münzen auf die gespreizte Vagina einer Stripperin. Das ist normal.

Ein dreibeiniger Fuchs treibt sich vor Kates Container herum, Gefahrenschilder zeigen Bären und Büffel. Immer wieder gibt es eine ganze Buchseite voller Sternennacht. Ansonsten sind die meisten Bilderkacheln gleichförmig. Oft drei auf drei. Neun pro Seite. Routine. Alltag. Lagerleben. Alltäglicher Chauvinismus. Männliche Gewalt. Leben im Raster. „He became an asshole.“ 

Nur selten gibt es größere Bildformate. Container-Siedlungen, Stripclubs, Billardtische, Containersiedlungen, Tagebau, Fracking. Immense Maschinen. Leergeräumte Landschaft. Der Highway 63. Unfallträchtig, obwohl bis zum Horizont geradeaus. Auf Seite 354 protestiert Greenpeace. Auf 410/411 ein Regenbogen. Ein Foto, das Kate zum Abschied bekommt. Und dann gibt es noch ein Gruppenfoto. Zwei- oder dreihundert Mann (und ein paar Frauen) in einer öden Industrielandschaft.

Dann ist Kate zurück. Auf Cape Breton. Spaziert mit Freundinnen durch Halifax. Komisch, an einem normalen Ort zu sein. Kenn ich dich nicht?, spricht ein Mann sie an. Du warst doch oben in Fort Mac. Hast im Büro gearbeitet. Kate streitet es nicht ab. Die Jungs waren alle heiß auf dich, sagt der Mann. Wir hatten sogar eine Wette laufen, wer zuerst mit dir in der Kiste landet. Also, war schön, dich zu sehen. Vielleicht trifft man sich ja heute noch in der Bar. Ja, hoff ich total, sagt Kate.

Zwei Bilder Schweigen. Dann sagt die eine Freundin, was zum Teufel war das denn? Und die andere, warum hast du ihn so mit dir reden lassen? – So endet das Buch. 

Fünfzehn Jahre später hat Kate für diese Fragen und für manch andere eine Form gefunden. Nämlich diese Graphic Novel.

„Die Ölsande agieren auf gestohlenem Land“

Kate Beaton ist während ihrer Zeit in den Ölsanden vergewaltigt worden. Sie hat männliche Gewalt erlebt und die Hypermaskulinität der abgekapselten Camps. Kates Welt in dieser Zeit war „sehr klein und sehr weiß“, schreibt sie in ihrem Nachwort. Dass indigene Frauen und Mädchen in der Nähe solcher Orte noch viel öfter Opfer sexueller Gewalt werden, war ihr damals nicht ausreichend klar. Und zur Wahrheit gehört auch, ebenfalls im Nachwort glasklar benannt: „Die Ölsande agieren auf gestohlenem Land. Ihre Verschmutzung, Arbeitscamps und ständig anwachsende Siedlerbevölkerung haben weiterhin ernsthafte soziale, ökonomische, kulturelle. Ökologische und gesundheitliche Konsequenzen für die indigenen Gemeinschaften in der Region. Ich fordere alle auf, die Geschichte und die aktuellen Probleme der Athabasca Chipewyan First Nation, der Chipewyan Pairie First Nation, der Fort McKay No. 468 First Nation, der Mikisew Cree First Nation sowie der Métis-Gemeinschaften in Nord-Alberta besser zu verstehen.“

Nach Saudi-Arabien ist Kanada das Land mit den größten bekannten Ölreserven der Welt. Auf einer Fläche doppelt so groß wie Bayern soll es hier mehr als 170 Milliarden Barrel abbaubares Erdöl geben. Das Öl ist im Sand gebunden, ein klebriges, schwarzes Gemisch aus 83 Prozent Sand, vier Prozent Wasser, drei Prozent Ton und zehn Prozent flüssigem Bitumen. Als Schicht meist etwa 30 Meter tief in der Erde. Daraus brauchbares Erdöl zu gewinnen, ist ein aufwendiger und kostspieliger Prozess, dem Braunkohlebergbau ähnlich, nur viel energieaufwendiger. Erst wird der Wald gerodet, dann der Waldboden von Baggern abgetragen, die Ölsandschicht ausgehoben und mit gigantische Lastwagen zur Weiterverarbeitung transportiert. Mithilfe von Wasser und Lösungsmitteln wird das Bitumen vom Sand getrennt und später zu Rohöl veredelt, das dann wiederum zum Beispiel zu Benzin weiterverarbeitet werden kann.

Um ein Barrel Öl zu gewinnen braucht es zwei Tonnen Ölsand. Um einen Liter Bitumen aus dem Sand zu waschen, braucht es fünf Liter Wasser – Wasser, das danach nur noch mit Schwermetallen und krebserregenden Kohlenwasserstoffen verseuchter Schlick ist und in „Klärteichen“ gelagert wird. Die ausgeweidete Landschaft wird zur Schlammwüste, zur trostlosen Mondlandschaft mit giftigen Teichen und Schwefelhügeln. Die Lebensräume von Tieren und Pflanzen werden zerstört, Flüsse und Grundwasser vergiftet. Da sich flußabwärts vor allem die Gebiete der First Nations befinden, müssen ganze Dörfer aufgegeben und dem Erdboden gleich gemacht werden. Das verseuchte Flusswasser, das früher trinkbar war, und die Fische, früher wichtiger Nahrungslieferant, sind nun gesundheitsschädlich. Seit Beginn der Sandölforderung ist die Krebsrate bei den First Nations explosionsartig gestiegen. Und tragischer Weise bleibt vielen als einzige Jobmöglichkeit nur eine Anstellung bei eben dieser Industrie. 

Greenpeace nennt den Ölsand-Abbau in Kanada das „größte Industrieprojekt des Planeten“, es steht an Platz vier der wichtigsten Marktsegmente Kanadas. Die Ölsand-Fördermenge soll bis 2030 weiter steigen: von 2,4 Millionen Fässern am Tag in 2016 auf 3,67 Millionen. Um die zusätzlichen Emissionen muss sich die Ölindustrie keine Sorgen machen. Sie ist vom CO2-Preis ausgenommen, obwohl sie klar  der größte Klimakiller ist. Kanada opfert die weniger wichtige Kohleindustrie, um die finanziell starke Ölindustrie ausbauen zu können. „The Guardian“ bezeichnete schon 2009 das Land als „the dirty old man of the climate world“, das ganz bewusst das Kyoto-Protokoll nie unterzeichnet hat. Umweltschützer nennen den Ölsandbergbau das „größte Umweltverbrechen in der Geschichte“.

PS. Das Ausmaß solcher Landschaftszerstörung abzubilden gelingt am besten den fotografischen Arbeiten des Kanadiers Edward Burtynsky. Kate Beaton Arbeits- und Männerwelt-Reportage hat einen (ebenso empfehlenswerten) filmischen und ebenfalls weiblichen Vorgänger, nämlich Niki Caros Film „Kaltes Land“ (North Country, 2005). Hier ist es eine Minengesellschaft in North Minnesota. Auch Australien kennt das Ausweiden der Natur in abgelegenen Gegenden, „FIFO“ (fly in – fly out) heißen die entsprechenden Jobs. Sie bringen viel Geld, schulen aber auch in Rücksichtslosigkeit pur. Frauen gegenüber, der Natur und aller Moral. Eine australische Freundin hat drei FIFO-Söhne, aber keinerlei Kontakt mehr zu ihnen. „They became complete assholes“, sagt sie.

Kate Beaton: Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden (Ducks: Two Years in the Oil Sands, 2022). Aus dem Englischen von Jan Dinter. Lettering: Stefan Dinter & Lara-Sophie Ludwig / Font: Kate Beaton. Zwerchfell Comics, Stuttgart 2023, in Zusammenarbeit mit Reprodukt, Berlin. Hardcover,  444 Seiten, 39 Euro.

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