Geschrieben am 1. Juli 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2023

Markus Pohlmeyer: Demokratie – Autokratie

22 Gründe, die Demokratie zu mögen

Demokratie: nur eine Staatsform unter vielen? Oder die Staatsform schlechthin? Das scheint mir begründungsdürftig. Denn Macht lässt sich unterschiedlich legitimieren. Jede Staatsform kann umschlagen,[1] selbst in ihr mörderisches Gegenteil. Wie kann also eine Demokratie sich nicht nur z.B. vor Diktaturen, sondern auch vor sich selbst schützen? Die fatalistische Antwort: Freiheit kann und wird immer missbraucht. Demokratie scheint mir darum ein ehrliches Gebilde, das immer wieder aufgebaut werden muss, aus Menschen und nicht mit Waffen. ‚Ehrlich‘ insofern, weil wir alle nicht-unfehlbar, fragmentarisch und scheiternd sind. (Was beispielsweise, wenn die sog. Mehrheit sich irren sollte?)

Paradoxerweise kann deshalb diese Staatsform mutig eine Zukunft gestalten, die sich nicht in eine glorifizierende Geschichtsfälschung zurückwünscht, sondern prozessual und in komplexen Aushandlungsprozessen Herausforderungen wie Pandemien, KIs, Klimawandel … meistert.

  1. Demokratie: das ist (m)eine bewusste Entscheidung für (m)eine politische Verfassung und (m)eine Lebensform, die im Besonderen die Freiheit des/der Einzelnen garantiert und herausfordert und darum hohe Verantwortung von mir verlangt. In gewisser Weise kann dies auch Auto-Kratie genannt werden, unter anderen Bedingungen: ein Selbst nämlich, das sich ermächtigt, aber nicht eskaliert, sondern sich intersubjektiv öffnet und im Gestus der Freiheit die Freiheit der anderen respektiert. Dieses demokratische Selbst gibt repräsentativ seine Macht ab, weil es alle tun. Und ich, der und die Einzelne, muss prinzipiell die Chance haben, politisch mitzuwirken. Das bedeutet auch eine deutliche Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten.
  2. Demokratie kann von ihrem Wesen her, abstrakt gedacht, nicht im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen, eine Diktatur schon. Anders gewendet: wäre Demokratie, trotz ihres antiken Ursprunges, nicht die den Menschenrechten angemessenere Staatsform?[2]
  3. Ist die, ist meine Entscheidung für eine Demokratie gefallen, wären mir Grenzen zu ziehen, weil jeder und jede Einzelne eine Demokratie darstellt, und das millionenfach. Normative Maß wären die Menschenrechte.
  4. Darum müsste es bei aller Meinungsfreiheit, die ja kein Argument für rechtsfreie Räume bilden kann, in den (sozialen) Medien Kontrollen geben: gegen Mobbing, Hate Speech, Fake News, Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Fundamentalismus, Diskriminierung …
  5. Demokratie darf nicht durch autokratische Systeme erpressbar sein. Sie bedarf deshalb politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Das könnte ein globaler Verbund von Demokratien leisten, wie z.B. modellhaft die EU.
  6. Die Gewaltenteilung muss so in der Verfassung verankert sein, dass sie intangibel ist. Es herrscht zudem Beschränkung der Amtszeit. Wie in der alten römischen Republik sollten die höchsten Ämter kollegial besetzt sein.
  7. Es gibt keinen gerechten Krieg. Aber Demokratie muss sich verteidigen dürfen, dabei aber keine Angriffskriege führen. 
  8. Demokratie garantiert in einer sich rasant wandelnden Welt Bildung für alle, und zwar ein Leben lang. Dazu müssten auch Universitäten anders gedacht werden. 
  9. Wichtig: eine funktionierende Infrastruktur für alle.
  10. Demokratie gibt sich immer gastfreundlich und irgendwie grenzenlos, auch wenn sie durch konkrete Staatsgrenzen eingefasst scheint. Demokratie ist utopisch (also überall), anachronistisch (geradezu zeitlos) und anarchisch (im Sinne von: allergisch gegen Alleinherrschaftsansprüche.) Das kann auch Überforderung provozieren, weil wir topische und chronologische Wesen sind – mit einem ganz leichten Hang zu herrschen oder beherrscht zu werden. Und mit weniger Ironie formuliert: Der Mensch als das aggressivste, grausamste und brutalste Lebewesen auf diesem Planeten. Und darunter vor allem Männer – doch diese Beobachtung sei bitte nicht als Generalverdacht zu verstehen. Wenn wir nach Aristoteles Polis-Wesen sind, staatenbildend, dann scheint mir Demokratie anthropologisch eine Spitzenleistung, aber auch mit hohem Absturzpotential. Demokratie braucht darum eine schonungslos ehrliche Anthropologie und den Abschied von Verdrängungen. Nach meiner Einschätzung können das konstant nur die Wissenschaften und eine wissenschaftliche Haltung leisten.
  11. Alle, die sich heute in Deutschland für Demokratie einsetzen und sich zu ihr bekennen, sind nicht die Täter und Täterinnen von damals, z.B. des Zweiten Weltkrieges. Aber in einer kritischen, aufarbeitenden, nicht vergessen wollenden Konfrontation mit der Vergangenheit vermögen wir, eine ähnliche Wiederkehr des Grauens zu verhindern. Weil wir Menschsein anders verstehen, schulden wir dies den Opfern, ohne dass wir Schuld hätten. Aber woran haben wir heute Schuld? Stichwort Klima.
  12. Keine Ideologien, weder von links oder rechts oder religiös! Anstelle von unversöhnlichen, antithetischen Positionen der Wille zu einem dialektischen, kritikfähigen Konsens, der nachgeben, aber auch vergeben kann – in einem gegenseitigen Verstehen-Wollen.
  13. Schulen (und auch Universitäten) könnten als ein neues Fach, nun ja, „Demokratie“ (oder „Europa“) anbieten, um performative wie auch kognitive Zugänge zu dieser Staatsform zu schaffen. Ein solches Fach darf aber nur freiwillig belegt werden – sonst würde es seinem eigenen Prinzip widersprechen. Mir würde es darum gehen, Menschen demokratiefähig zu machen, in einem ständigen, nie zu beendenden Zusammenspiel von Bewusstseinsprozessen und Strukturen, die zum einen ermöglichen und befähigen, zum anderen sich aber auch korrigieren und anpassen lassen und selbst authentisch demokratische Prozesse abbilden (soweit das möglich wäre). Eine Art ständig lernendes politisches Immunsystem gegen Autokratien.
  14. Jede Weltreligion, soweit sie es nicht schon tut, ist auf die Menschenrechte zu verpflichten (Wer sollte das aber global umsetzen? Sehr schwierig …) und darf keinerlei Einfluss auf den demokratischen Staat haben. Sie steht vielmehr unter seiner Kontrolle. Das wäre vor allem ein Weg, Frauen und Kinder vor religiösem Patriarchat und generell Demokratien vor demokratiefeindlichen religiös motivierten Parallelgesellschaften zu schützen. (Mit einem Blick in die Evangelien wäre es z.B. für die Katholische Kirche ein Leichtes, endlich auch strukturell Menschrechte und Gleichberechtigung umzusetzen, damit sexueller und klerikaler Missbrauch eingedämmt werden. Es gibt genug Ressourcen, Welt anders zu gestalten.) 
  15. Zudem müssen auch nicht nur religiös legitimierte Konzepte von Patriarchat überdacht werden; das sollte vor allem wissenschaftlich und diskursiv geschehen, z.B. evolutions- oder soziobiologisch, und möglichst ideologiefrei, damit nicht am Ende die gleichen Fehler passieren, nur unter anderen Gendervorzeichen. Und damit so dringend nötige Gerechtigkeit nicht in ihr Gegenteil umschlägt. 
  16. Wissenschaft muss an den Universitäten gefördert werden – in aller Freiheit, und nicht von ökonomischen oder ideologischen Interessen geleitet. Wissenschaft muss gastfreundlicher werden: noch mehr zu den Menschen hinausgehen, aber diese auch zu sich einladen. Mit meinen Erkenntnissen und Forschungen kann ich mich immer irren, aber nicht im aufrichtigen Gestus der Wahrhaftigkeit, nämlich kritisch und unvoreingenommen immer wieder Wahrheit zu suchen – und nie damit aufzuhören. 
  17. Wir müssen die jetzige Form des Kapitalismus überdenken, der ganze Gesellschaften ruiniert, den Planeten zerstört und somit Angst und Wut schürt, die sich für populistische Strömungen anfällig erweisen. Es sollte kapitalismusfreie Bereiche geben: Schulen, Krankenhäuser, Universitäten, Altenheime beispielsweise. Das wird kosten, das muss es uns aber wert sein. 
  18. Im ganzen Bürokratismus und Formalismus, die – eine gefährliche Illusion von Weltbeherrschung und Verantwortungsdelegation – das Moment der Freiheit überregulierend vernichten, müsste Epikie (= Einzelfallentscheidung nach Aristoteles) zur demokratische Handlung schlechthin erhoben werden. 
  19. Menschen sind keine ökonomisierten Quantitäten in Modulform, sondern Qualitäten. Das Folgende klingt jetzt zu generalisierend, aber …: Funktionelle Hierarchien und politisch Eliten sollten immer durch Kompetenz, Qualifikation und Sachkundigkeit bestimmt werden – und nicht so: jemand bekommt einen Titel oder die Hand aufgelegt und dann kann er oder sie alles. Dazu noch zufallsbedingte Anatomie, Nepotismus und Korruption. Dem gegenzusteuern helfen z.B. auch faires Bildungssystem, faire Löhne und fairer Zugang zu Ressourcen. 
  20. Und ferner das Problem der Messias-Komplexe: Warum fielen und fallen immer wieder Menschen, und zwar massenweise, auf die sog. ‚starken Männer‘ herein? Was sagt das über Wähler und Wählerinnen aus? Über ihre Ängste, Wünsche, Hoffnungen – und auch über ihre Verblendungen und das Versagen von Demokratien.
  21. Raus also aus der trügerischen Alternative „starker Mann hier“ – „schwache Demokratie dort“. Darum: die Stärken von Demokratie erzählen! Sie in ein Narrativ verwandeln, in das ich meine eigene Bio-Graphie mit einschreiben kann und darf! Eine Diktatur würde mir nicht zuhören, im Gegenteil.
  22. Demokratie, als die Staatsform der Differenz und Differenzierbarkeit, bleibt ein risikobehafteter Prozess – das bedeutet eben Freiheit; sie wird also immer ein Scheitern und Gelingen zugleich sein. Darum Drehung der Perspektive: Was für eine Chance, diese phantastische Pluralität, auch für die Zukunft unserer Erde. Und hieraus nun mein abschließender Gedanke. Demokratie muss vor allem schützen, was noch nicht da ist: Zukunft. Wie sie aussehen mag, kann niemand sagen, aber es wird sie geben. Und zwar jeden Augenblick später. Fairness (oder als platonisches Grundmotiv: Gerechtigkeit) kennt keine räumlichen oder zeitlichen oder gesellschaftlichen Einschränkungen. Und darum muss Demokratie vor allem jene schützen, die nicht mehr ‚können‘, und vor allem jene, die noch nicht ‚können‘, die aber unser aller Zukunft sein werden: Kinder und Jugendliche. Das wäre meine persönliche „Metaphysik“ für eine Demokratie. Sie ist ein Humanum, eine Freundschaft nicht nur nach Innen, sondern auch über Generationen und Nationalstaatsgrenzen hinweg. Sie ist gastfreundlich: indem sie einlädt, und nicht zwingt oder bevormundet; sie überzeugt und lässt die Freiheit der Wahl. Sie ist ein nie abschließbarer Weg, und zwar durch die Zeiten hindurch, in die Vergangenheit und Zukunft. Als Memoria und Utopia.

[1] S. dazu Cicero: De re publica

[2] Dies müsste mit Kant weitergedacht werden.

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Essays und Gedichte bei uns hier.

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