Geschrieben am 15. Juni 2018 von für Allgemein, Crimemag, CrimeMag Juni 2018

Laudatio für Carsten Jensen

jensen_fotoDie Urfunktion der Sprache

Eine Würdigung des Schriftstellers Carsten Jensen von Birgit Däwes. Laudatio für den Europapreisträger des Hochschulrats (verliehen am 17. Mai 2018) [1]

Der Europapreis des Hochschulrats der Europa-Universität Flensburg wird in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben, um eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zu würdigen, die sich in besonderem Maße um Europa in der Wissenschaft oder in Gesellschaft und Kultur verdient gemacht hat. Es ist der Verfasserin dieser Zeilen daher eine außergewöhnliche Ehre, das Werk des diesjährigen Preisträgers Carsten Jensen genauer beleuchten zu dürfen. Zwar gebietet die Gattungskonvention der Laudatio, dass zur angemessenen Würdigung des Laureaten sein Lebensweg chronologisch nachgezeichnet werde, von seinem Studium der Literaturwissenschaften in Kopenhagen über seine langjähriges Engagement als Journalist und Redakteur, seine einflussreiche Tätigkeit als Literaturkritiker der Zeitung Politiken bis zu seiner Position als Professor für Kulturanalyse an der Syddansk Universitet in Odense. Ebenso sollten seine Essays und Reiseberichte in gleichem Maße Erwähnung finden wie seine zahlreichen Preise, darunter der Georg-Brandes-Preis 1993, die Holberg-Medaljen 1999, der DR Romanpreis für Wir Ertrunkenen 2007, der Olof-Palme-Preis 2009 und schließlich der Europapreis 2018. Ich möchte jedoch aus zwei Gründen von dieser Regel abweichen und stattdessen lieber exemplarisch einige seiner Romane vorstellen, die in 20 Sprachen übersetzt wurden, und in denen er das kulturelle Erbe und die zentralen Werte Europas mit einer Überzeugungskraft verteidigt, wie es in dieser kritischen Reflektiertheit und Nuancierung bei gleichzeitig hoher emotionaler Bindungskraft der Sprache nur wenigen gelingt.

Zum einen ist es vor allem sein literarisches Werk, das in eleganter Weise die deutsch-dänische Grenzregion mit globaler Politik verbindet. Seine Hauptfiguren sind zwar Dänen, aber sie sind Kosmopoliten in transnationalen Zusammenhängen und beständig auf der Reise, nach Grönland, durch die Südsee oder durch Afghanistan. Nicht zufällig ist die erste Seite der englischsprachigen Ausgabe von Wir Ertrunkenen (We, the Drowned) eine Weltkarte, in deren Mitte nicht – wie sonst üblich – Europa liegt, sondern der Atlantik zwischen Westafrika und der Karibik.

Zum anderen – und dies mag in unserem Zeitalter der digitalen Schmähungen und Filterblasen, in dem Streitkultur und der Austausch von Argumenten sowie Skepsis und Widerspruch zunehmend durch reflexhafte Einordnungen in vermeintliche politische Lager oder gar durch Schweigen ersetzt werden, besonders wichtig erscheinen – zum anderen verweisen Jensens Romane auf die Wirk- und Spannungskraft der Sprache, und insbesondere der literarischen Sprache, wenn es darum geht, Differenzierungen zuzulassen und Komplexität auszuhalten. Und diese Sprache gilt es zu kennen: ein historisches Bewusstsein ist unerlässlich für den Umgang mit den Herausforderungen, vor denen Europa heute steht. Mit anderen Worten, so wie die Schriftstellerin Thea Dorn dies vor kurzem in einem Interview formulierte: „Ich glaube an den Zusammenhang zwischen geistiger Bildung und politischer Mündigkeit.“[2] Genau um diesen Zusammenhang geht es in Carsten Jensens Werk.

Die drei Texte, die ich dabei besonders ins Blickfeld nehmen möchte und die durch Figuren, Orte und Querverweise ohnehin miteinander verbunden sind, sind der 2007 erschienene Künstlerroman Rasmussens letzte Reise, in dem der Lebensweg des Marinemalers Jens Erik Carl Rasmussen aus seiner letzten Grönlandfahrt 1893 heraus aufgefächert und reflektiert wird; die von Jochen Jung als „gewaltiges […] Menschendrama“[3] bezeichnete historische Seefahrtsgenealogie Wir Ertrunkenen aus dem Jahr 2009, die über vier Generationen hinweg das Städtchen Marstal als Mikrokosmos nordeuropäischer Geschichte beschreibt, sowie sein jüngstes Werk, der 2015 in seinem Heimatland erschienene Antikriegsroman Der erste Stein, der die Grenzen interkultureller Kompetenz auslotet, und in dem der dänische Militäreinsatz in Afghanistan fast vollständig – die maritime Metapher sei hier gestattet – in einer Weise aus dem Ruder läuft, dass Christoph Bartmann den Roman in der Süddeutschen Zeitung als „Räuberpistole mit hohem Moralgehalt“[4] bezeichnete.  Doch dieser Wertung muss man sich nicht anschließen.

jensen we_the_drownedVier Mal Europa

Ich möchte mit dem Werk beginnen, das unsere deutsch-dänische Grenzregion am deutlichsten mit der Geschichte Europas verschränkt: mit dem vielfach preisgekrönten Seefahrerepos Wir Ertrunkenen. In einer Schlüsselszene dieses Romans beschreibt Jensen, wie die Hauptfigur der dritten Generation, der Kapitän Knud Erik Friis, mitten im Zweiten Weltkrieg in der eisigen Barentssee ins Wasser springt, um nach einem Torpedoangriff den – wie er denkt – letzten Überlebenden eines anderen, versenkten Schiffes zu retten. Nun folgt eine Unfassbarkeit auf die nächste: Als er sich ohne Schwimmweste nähert, stellt er nicht nur fest, dass es sich überraschenderweise um eine Frau handelt, die er mit Hilfe seiner Mannschaft in letzter Minute vor dem Ertrinken zu bewahren vermag, sondern es stellt sich zudem heraus, dass die Schreie und das Blut dieser Frau nicht den Verletzungen durch die Bomben geschuldet sind, sondern den Schmerzen, die mit einer Geburt einhergehen, denn die Überlebende war offensichtlich gerade dabei, ein Kind zur Welt zu bringen. So rettet Kapitän Friis nicht einen, sondern zwei Menschen, denn auch das unterkühlte Baby überlebt – und wird von der Mannschaft Harald Blauzahn genannt, Bluetooth, nach dem Wikingerkönig des 10. Jahrhunderts, dem es erstmals gelang, Dänemark zu vereinen, dessen größte Sammlung an Silbermünzen vor fast genau vier Wochen – am 16. 4. 2018 – auf Rügen gefunden wurde und dessen Initialen wir alle in Runenschrift als Logo für eine Funktechnologie auf unseren Mobiltelefonen mit uns tragen. Anhand dieser Szene lässt sich das Werk Carsten Jensens besonders gut vorstellen, denn sie vereint vier charakteristische Merkmale, die sein Engagement für den Kulturraum und die Werte Europas besonders deutlich werden lassen.

Zum ersten ist Bluetooth eine typische Figur für Jensens kontinuierliche Auseinandersetzung mit europäischer Identität, denn der Junge ist inmitten von Kriegsbomben auf See geboren – genau genommen in der See – und hat daher keine nationale Zugehörigkeit. Diese Art der transnationalen Grenzüberschreitung betrifft auch viele der anderen Seeleute, die, wie der Roman uns versichert, das Meer suchten, weil es dort „keine Herren, keine Flurgrenzen, keine kleinen, unergiebigen Parzellen“ gab, sondern „Grenzenlosigkeit und Freiheit. Hier konnte der Schiffsjunge Kapitän werden, wenn er wollte, und wenn er ein Marstaller war, dann wollte er.“[5] Trotz dieser Grenzenlosigkeit sind die Werke Jensens keinesfalls unverbindlich, sie feiern im Gegenteil ihre tiefe Verwurzelung im kulturellen Erbe Europas. Auf den ersten Blick sind sie spezifische Monumente für die Figuren oder Orte ihrer Thematik: Rasmussens letzte Reise ist ein Denkmal für einen dänischen Maler des 19. Jahrhunderts, und Wir Ertrunkenen wurde als „Gedenkstein“ konzipiert, wie Jensen selbst sagt,[6] und zwar für seinen eigenen Vater im Besonderen und ganz allgemein für die Seeleute Marstals als dem einst zweitwichtigsten Hafen Dänemarks. Zugleich sind alle Texte untrennbar verwoben mit europäischer und transatlantischer Literaturgeschichte. Von Homers Odysseus und Telemachos, Schillers Wilhelm Tell und den Wikingern um Harald Blauzahn in Wir Ertrunkenen bis zu Euripides‘ Medea, dem Neuen Testament und Arthur Rimbaud in Der erste Stein spannt Jensens Werk weite kulturhistorische Bögen und ehrt damit ein gemeinsames literarisches Erbe als von zeitlosem Wert. Als Kronzeugen bemüht er neben der griechischen Mythologie vor allem Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Joseph Conrad und Thomas Mann, und die umfassende literarhistorische Allgemeinbildung, die den Leserinnen und Lesern abverlangt wird, ist kein Distinktionsmerkmal, sondern Einladung und Chance zugleich.

Rasmussens letzte Reise von Carsten Jensen

Als zweiter charakteristischer Zug wäre die stilsichere Hinführung zu einer Pointe zu nennen, bei der eine kunstvoll aufgebaute Erwartung des Publikums gründlich und nicht ganz ohne Genuss durchkreuzt wird. Nicht nur überlebt die soeben zur Mutter gewordene Fremde; sondern es handelt sich auf den dritten Blick sogar um die aus einer Inuit-Familie stammende Sophie Smith, in die Knud Erik sich 16 Jahre zuvor in Neufundland verliebt hatte. Wen jetzt nicht ganz ohne Berechtigung der Verdacht auf Groschenliteratur beschleicht, der sei an den magischen Realismus eines Salman Rushdie oder eines Gabriel García Marquez erinnert, der angeblich mal sagte: „Fiction was invented the day Jonah arrived home and told his wife he was 3 days late because he’d been swallowed by a whale.“[7] Tatsächlich funktioniert jede dieser Szenen, und nicht selten geht Jensen noch weiter über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus. Eine Unterwassergeburt im nur wenige Grad kalten Nordpolarmeer hat dabei einen ähnlichen Rang wie die berühmte Auftaktszene des Romans, in der der Seemann Laurids Madsen im Gefecht von Eckernförde 1849 von der Wucht einer Kanonenkugel bis fast auf die Höhe des Masttopps geschleudert wird und unbeschadet wieder auf das Deck zurückfällt, oder Frede, der Storch auf dem Dach des jüdischen Schuhmachers, auf den einer der Jungen im Jahr 1921 versucht zu schießen und der im Mai 1945 dieselben Jungen als Kriegsheimkehrer von der deutschen Nordseeküste aus bis nach Hause begleitet. Was hat das mit der europäischen Idee zu tun? So wie der Frieden direkt hinter dem Krieg als erreichbar zu gelten hat, das rettende Ufer direkt hinter dem Schiffbruch, und so wie für Voltaire ein Europa als Gemeinschaft der Humanität direkt hinter nationalem Eifer angesiedelt war, so liegt in diesen Romanen direkt hinter dem Bereich des Plausiblen ein Angebot des noch Möglichen, und Jensen lässt keinen Zweifel daran, dass jede dieser Szenen auch politisch gemeint ist.

Neben solch großflächigen Handlungsbögen und der Anerkennung von Kontingenz verweisen auch Zeitstruktur und Erzähltechnik – als drittes Merkmal von Jensens Werk – immer auf größere Zusammenhänge und damit über sich selbst hinaus. Diese beruhen, wie es sich für die westliche Moderne gehört, grundsätzlich auf Prinzipien von Relativität, Vielstimmigkeit und Pluralismus, und so subtil und unverdächtig, wie das „Wir“ in Wir Ertrunkenen als kollektive Erinnerung die Jahrhunderte durchwandert, so wechselt auch die Erzählerfigur in Der erste Stein fortwährend die Sichtweise. Eine stabile, objektive Version der Welt, eine ‚Wahrheit,‘ und schon gar eine einfache, ist nicht zu haben. Dies wird am deutlichsten in der Zeitstruktur, die in ihrer Wechseldynamik zwischen historischer Präzision und widersprüchlicher Dehnbarkeit dem vagen Zeitempfinden auf See entspricht. Der erste Stein verzichtet in Gänze auf Daten und ist stattdessen durch farblich markierte Gefahrenzonen strukturiert. Wir Ertrunkenen ist voller Widersprüche, die sich – ganz wie bei jeder menschlichen Erinnerung – am Ungefähren orientieren und dabei an den geschichtlichen Hintergründen reiben. „Ich bin sicher“, schreibt Carsten Jensen im Nachwort zu Wir Ertrunkenen, „dass zukünftige Historiker mich verfluchen werden, denn ich habe wirklich alles getan, was ich konnte, um die Grundlagen ihrer Arbeit zu zerstören.“[8]Ein Roman, in dem James Cook als Schrumpfkopf über alle Weltmeere befördert wird, bevor man ihn in der Ostsee vor Ærø bestattet, kann trotzdem ein historischer sein, denn in der Literatur geht es nicht um messbare Daten, sondern um das Imaginäre, um das Eröffnen neuer Räume, um jenes „Grenzland,“ wie es in Rasmussens letzte Reise heißt, „in dem das Leben standhielt.“[9]

517SVTIS2zL._SX327_BO1,204,203,200_All dies mag weder neu noch einzigartig sein, die Meisterschaft des literarischen Werks von Carsten Jensen jedoch liegt in der unerschütterlichen Differenziertheit seines ethischen Anspruchs. Die Figuren seiner Romane werden unentwegt vor moralische Entscheidungen gestellt, und diese fallen bei weitem nicht immer so aus wie bei Knud Erik Friis, dem Kapitän des Schiffs, das Jensen mit seiner charakteristischen Ironie „Nimbus“ nennt – lateinisch für Heiligenschein. Denn Friis hat so gar nichts Heiliges: erst kurz vor seinem Sprung ins Wasser hat er einen deutschen Bomberpiloten, der sich mit erhobenen Händen ergeben wollte, aus nächster Nähe erschossen und ist Befehlen gefolgt, die ihm die Bergung Überlebender untersagte. Hier jedoch folgt er dem Kant‘schen Imperativ, der Logik der Seefahrt, die einer höheren Gefahr Zusammenhalt und Gemeinschaftsgeist entgegensetzt. Wie alle anderen Hauptfiguren in Jensens Werk ist auch er ambivalent. Es geht um nichts weniger als darum, das Richtige zu tun, aber die Frage danach, was richtig ist, lässt sich nie eindeutig beantworten. Am deutlichsten wird dies am Ende des Afghanistan-Romans Der erste Stein, in dem der dänische Oberleutnant Rasmus Schrøder seine gesamte Einheit verrät, Untergebene ermordet, aus Lust an Spiel und Profit mit den Taliban paktiert und zum Schluss doch das Nachsehen hat. Er wird im pakistanischen Grenzland von den Taliban zum Tode durch Steinigung verurteilt, und als die drei letzten dänischen Überlebenden seiner Einheit – darunter der Oberkommandierende, eine Frau und ein Seelsorger – das Urteil vollstrecken sollen, beginnen sie nach kaum merklichem Zögern damit, aus nächster Nähe zu werfen. „Kein einziger Stein trifft mehr daneben“ ist der letzte Satz des Romans.[10] Während wir Lesende noch nach zivilisatorischer Luft schnappen, ertappen wir uns doch gleichzeitig bei Gedanken an poetische Gerechtigkeit. Jensen macht uns durch seine Erzähltechnik zu Komplizen; er führt uns gemeinsam mit seinen Figuren in moralische Gefahrenzonen und entlarvt dabei jeden gesättigten Rückzug auf politische Korrektheit und jede pauschale Zuweisung von Schuld.

Einlassen und Zuhören lohnen sich

In dieser Frage ist er hochaktuell angesichts einer schwindenden politischen Streitkultur, in der – wie Ulrich Greiner vor kurzem in seiner Verteidigung von Uwe Tellkamp schrieb – „die Zahl der Platzanweiser zugenommen hat“ und echter Dialog kaum noch stattfindet.[11] Die große Herausforderung Europas ist es, die Vielstimmigkeit zuzulassen und zugleich das gemeinsame Erbe von Werten, Rechten und Pflichten nicht aufzuweichen. Ohne diese Grundverfassung von Menschenwürde und vor allem von Rechtsstaatlichkeit ist es bis zu den Steinwürfen nicht weit. Eine zusätzliche Anmerkung sei mir mit einem kurzen Blick auf unsere nationale Verantwortung gestattet: wenn ein Schriftsteller wie Martin Walser schon vor 20 Jahren in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche fast ungestraft das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin eine „Monumentalisierung der Schande“ nennen durfte, ist es im Frühjahr 2018 keinesfalls weniger wichtig geworden, antisemitische Übergriffe und eine wachsende Feindlichkeit gegenüber Menschen jüdischen Glaubens im Herzen Europas mit klaren Worten zu verurteilen, egal von wem sie ausgehen. Dies gilt insbesondere in einem Land, das einen Holocaust verantwortet hat, und es gilt für alle, die in diesem Land ihren Wohnsitz haben. Wenn der Weg des Dialogs schwierig wird, so die zentrale Botschaft in Carsten Jensens Werk, dann muss er erst recht gegangen werden. Diese Botschaft erinnert an den berühmten Satz von F. Scott Fitzgerald von 1936: „The test of a first-rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas in the mind at the same time, and still retain the ability to function.”  Die meisten kennen dieses Zitat; die wenigsten wissen jedoch, wie es weitergeht: “One should, for example, be able to see that things are hopeless and yet be determined to make them otherwise.”[12]

Wir Ertrunkenen von Carsten Jensen

Für diesen Dialog rüsten uns Carsten Jensens Romane. Sie ergeben sich nie der Hoffnungslosigkeit, obwohl sie ihre Position gegen Gewalt und Fanatismus mit aller grafischen Deutlichkeit untermalen. Sie lehren uns die hohe Kunst des Perspektivwechsels, der Genauigkeit und der Differenzierung. Vor allem fordern sie uns die Art von Geduld und Aufmerksamkeit ab, die wir in Zeiten von auf 140 Zeichen beschränkte Kommunikation gerade verlernen. Es braucht Zeit, die knapp 2000 Seiten allein der drei oben genannten Romane zu lesen, aber wir lernen dabei, dass sich das Einlassen und Zuhören lohnt. Man muss vielleicht nicht wissen, was eine Brigg von einem Schoner unterscheidet und wie hoch die Großrahe eines Vollschiffs ist. Aber es lohnt sich, zu wissen, was Degaussing ist, und auch das bringt uns Jensen in Wir Ertrunkenen bei: es handelt sich dabei um ein Verfahren, benannt nach dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß, mit dem Schiffe durch ein elektrisches Kabel entmagnetisiert werden, um vor Minen geschützt zu sein. Auch nach der Lektüre kann ich nicht behaupten, die Feinheiten elektromagnetischer Wechselwirkungen vollständig verstanden zu haben, aber diese Szene zeigt wunderbar, wie wir uns Welt über Literatur aneignen; wie gute Romane uns auf Entschleunigung verpflichten, um uns auf andere Sprachen und andere Register einzulassen. Weil es sich immer lohnt.

Carsten Jensens Werk funktioniert wie Degaussing: durch die Gegenläufigkeit seiner narrativen Strömungen und die Widerständigkeit seiner Figuren verhindert es eine einheitliche Ausrichtung und schützt uns vor der magnetischen Anziehungskraft populärer und populistischer Positionen, auch und gerade dann, wenn sie Mehrheitspositionen sind. Der Autor verweist uns stattdessen auf eine andere Orientierungsmöglichkeit: den Kompass der Zivilcourage. Auf diesen jedoch muss man sich regelmäßig bewusst einnorden, um ihn verlässlich nutzen zu können, wenn Furcht um sich greift. Denn Furcht ist, wie wir wissen, grundsätzlich ein schlechter Berater. „Wenn ich schreibe,“ so sagt Carsten Jensen in einem Aufsatz über seine Recherchen in Afghanistan, „gewinne ich die Kontrolle zurück. Ich entdecke die Urfunktion der Sprache, die nicht nur aus Kommunikation zwischen Menschen besteht. Die Worte sind auch eine Beschwörung, die den Tod fernhält, nicht nur den Gedanken daran, sondern den Tod selbst in seiner plötzlichen Gewalt.“[13]

 

Es erscheint daher angemessen, mit einem längeren Zitat zu einem dieser Tode zu schließen. Am Ende des Romans Rasmussens letzte Reise folgt die Narration abwechselnd dem ertrunkenen Maler einerseits, dessen Körper unter Wasser mit den ihn fressenden Makrelen und Sägerochen vereint wird, und seiner Witwe andererseits, die sich im sonnenhellen Leben an Land mit dem Verlust ihres Ehemanns arrangiert. Der Schluss des Romans folgt beiden über eine Zeitspanne von vierzig Jahren. „Carl hätte,“ so schreibt Jensen auf den letzten Seiten, „die Tiefseezone des Meeres entdeckt, wenn er noch in der Lage gewesen wäre zu sehen. Aber seine Augen gab es nicht mehr. […] Alles ist vorläufig, die Höhe eines Berges, die Kurve einer Küste, die Tiefe des Meeres. […] Die Kontinente fließen. Ein Menschenleben ist zu kurz. Dann ändert es sich wie eine Wolkenformation, von Stratus zu Stratokumulus, von Stratokumulus zu Zirrus, doch manchmal entstehen diese Augenblicke namenloser Ewigkeit.“[14]

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Prof. Dr. Birgit Däwes bei der Laudatio

Für diese Augenblicke ist die Literatur zuständig, und Schriftstellern gelingt es selten, sie so prägnant mit politischer Relevanz zu füllen. Nicht zuletzt aus diesem Grund heißt der Europa-Preisträger des Jahres 2018 Carsten Jensen.

Prof. Dr. Birgit Däwes ist Geschäftsführende Direktorin am Seminar für Anglistik und Amerikanistik an der Europa-Universität Flensburg

 Anmerkungen:

[1]Die Autorin der Laudatio dankt neben dem Hochschulrat für die Stiftung des Preises besonders der internationalen Gruppe Studierender aus dem Seminar im BA-Studiengang „European Cultures and Society“ zu „Transnational Perspectives on Europe“, in dessen Rahmen wir den Roman Wir Ertrunkenen von allen Seiten beleuchtet haben: Colton Denton, Lasse Funck, Courtney Kees, Thilo Koch, Päivi Mure und Nortje Rübsamen. Außerdem danke ich meinem Kollegen Prof. Dr. Peter Heering für seine freundliche Bereitschaft, mir die physikalischen Details des Degaussing zu erklären.

[2]Radisch, Iris, und Adam Soboczynski. „‚Lieber Faust als Flüchtlingsperformance‘: Ein Gespräch mit der Autorin Thea Dorn über die Notwendigkeit eines neuen deutschen Kulturpatriotismus und die Bereitschaft, für seine Werte zu sterben.“ Die ZEIT 18 (26. April 2018).

[3]Jung, Jochen. „Aufs Meer! Ins Leben!“ Die ZEIT 49 (27. November 2008).

[4]Bartmann, Christoph. “Die böse Truppe.“ Süddeutsche Zeitung (5. Juni 2017).

[5]Jensen, Carsten. Wir Ertrunkenen. München: btb, 2010. 786.

[6]Jensen, Wir Ertrunkenen, 802.

[7]Qtd. In Katzenbach, John. Just Cause. New York: Grove, 2014. 3.

[8]Jensen, Wir Ertrunkenen, 798.

[9]Jensen, Carsten. Rasmussens letzte Reise. München: btb, 2007. 29.

[10]Jensen, Carsten. Der erste Stein. München: Knaus, 2015. 631.

[11]Greiner, Ulrich. „Zweierlei Maß: Was Uwe Tellkamp in Dresden gesagt hat, war diskussionswürdig; es gibt keinen Grund, ihn in die rechte Ecke zu stellen.“ Die ZEIT 13 (22. März 2018). 46.

[12]Fitzgerald, F. Scott. „The Crack-Up.“ In: My Lost City: Personal Essays, 1920-1940. By F. Scott Fitzgerald. Ed. James L. W. West III. Cambridge: Cambridge University Press, 2005. 139. 

[13]Jensen, Carsten. „Der Tod ist unbarmherzig demokratisch – ebenso wie die Furcht vor ihm.“ Wespennest (Mai 2017). 33.

[14]Jensen, Rasmussens letzte Reise, 347.

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