Keine Heimat
– Der Regionalkrimi als „Reich Gottes“. Von Uta-Maria Heim.
Ach! für des Menschen wilde Brust ist keine Heimath möglich; und wie der Sonne Stral die Pflanzen der Erde, die er entfaltete, wieder versengt, so tödtet der Mensch die süssen Blumen, die an seiner Brust gedeihten, die Freuden der Verwandtschaft und der Liebe.
Friedrich Hölderlin: Hyperion, Erster Band, Tübingen 1797
Wenn meine Mutter dem Ochsen das Geschirr anlegte und ihn zum Pflügen mit aufs Feld nahm, dann wusste sie, was sie tat. Wenn ich heute, siebzig Jahre später, ins Internet eintrete, kapiere ich nichts mehr. Das weltweite Netz ist unendlich komplexer als ein Kartoffelacker, und dass ich mein eigenes Treiben nicht verstehe, stempelt mich zu einer Idiotin. Das geht anderen Leuten genauso. Nahezu nichts von dem, was uns widerfährt und was wir tun, können wir uns erschließen. Scheinbar sind wir gebildet, doch hinter jeder gescheiten Antwort lauert der unerforschliche Abgrund, und das Unbegreifliche schürt unsere Überforderung und Ohnmacht. Wir sind dauernd der Depp. Die Sehnsucht nach Überschaubarkeit, nach dem wiedererkennbaren Geschmack, der Jugend und Tugend, dem Triumph des eigenen Vorurteils, nach Heimat also im schlichtesten Sinne, führt dazu, dass wir gern zu Waren greifen, denen wir in jeder Hinsicht gewachsen sind und vorschnell vertrauen: Zur Fertigpizza. Zur Hitparade. Zum Regionalkrimi. Letzterer hat es, in einem Landstrich explodierender globaler Ansprüche, in der Südwestlage, zu einer irrationalen Blüte gebracht, die vielleicht nur noch vom DAX übertroffen wird. Doch im Gegensatz zu Letzterem haftet dem deutschsprachigen Regionalkrimi der Anspruch an, er sei authentisch. Verbürgt, zuverlässig. Fiktional zwar, doch wurzelnd in der Wirklichkeit, mit einem unumstößlichen Wahrheitscharakter versehen. Dieser Qualitätsanspruch gilt gerade für die Krimi-Erzeugnisse made in Baden-Württemberg, denen man, wie einst den Wecken und Weckern, solides Handwerk bescheinigt. Wie auch immer es damit im Einzelfall bestellt sein mag: Der Regionalkrimi widmet sich mit Feuereifer der Bekräftigung des Bestehenden; er tradiert die Normen, die in der kollektiven Volksseele verankert sein sollen. Überraschung wird vermieden. Alles Konservative obsiegt. Das schenkt der wachsenden Kundschaft Überlegenheit und Heimat.
Die ideale Ordnung der Verhältnisse
Das Phänomen Regionalliteratur ist überaus mehrheitsfähig und mancherorts sogar massenkompatibel. Während der Großteil der internationalen Krimi-Produktion immer literaturaffiner wird und mit Formen und Farben experimentiert, widmet sich der zunächst scheinbar randständige Regiokrimi der ureigenen Funktion, die Kriminalliteratur seit ihrer Entstehung rund zwei Jahrhunderte lang hatte: Er stellt die ideale Ordnung der Verhältnisse wieder her. Nur im Regionalkrimi kann man sich wirklich noch darauf verlassen, dass man seine Sicht der Dinge wiederfinden, sich mit den Helden identifizieren und am Schluss durchblicken und aufatmen darf. Das Happyend wird nur hier noch garantiert. Der restliche globale Krimi-Kosmos ist auf den letzten Waggon der Moderne aufgesprungen und rebelliert gegen den althergebrachten Anspruch, mit aufklärerischen, moralischen und letztlich unliterarischen Mitteln das Gute siegen zu lassen und die Verhältnisse zu stabilisieren. Da wird montiert, irritiert und verstört, Perspektiven, Zeitebenen und Subgenres purzeln wild durcheinander, die Handlung wird verhackstückt, und gen Ende schwelt die Bedrohung gar munter weiter. Ein Gutteil des angestammten Krimipublikums will dieses Leserisiko nicht mittragen und greift zu den gemütlich-touristisch aufgemachten Hochglanzstapeln. Somit kann man von einer feindlichen Übernahme sprechen: Das einstige Kuckucksei Regiokrimi besetzt das ureigene Feld der Kriminalliteratur inzwischen vollkommen, letztere ist in den Rang der Romankultur aufgerückt. Wo aber läuft nun die eigentliche Literatur hin? Ganz einfach – es läuft an der Spitze auf eine Nivellierung hinaus. Auch Hochliteraten schreiben immer mehr unverdauliche Krimis.
Kein Mensch unterwegs
Das Landleben mit all seinen Freuden und Schrecknissen, wie es für meine Mutter normal war, ist verloschen. Schwarzwald und Schwäbische Alb sind durchzogen von zersiedelten Ortschaften, deren Kerne tot sind. Verlassene Höfe, Abbruchbuden, Beton-Banken prägen das Gesicht der Hauptstraße, verrammelte Kirchen und aufgelassene Wirtshäuser sind die Gräber auf dem Friedhof einer Dorfkultur. Am Dorfrand winkt der Fußballverein. Der Rasen ist verstrubbelt, das Vereinsheim düster. In den Industriegassen Supermärkte und Wellblechklitschen, im Neubaugebiet Tiefgaragen mit Zugang zum Haus. Kein Mensch ist unterwegs. Doppelverdiener fahren vom Arbeitsplatz in der nahen Mittelstadt direkt auf zum versenkbaren Flachbildschirm im Wohnzimmer. Nachwuchs wird kilometerweit in pädagogisch vegane Unterbringungen verfrachtet, der Hund fremdversorgt. Keiner kennt den Nachbarn. Der Ort, an dem man lebt, bleibt verkehrsgünstig, finanzierbar und anonym. Die Eltern müssen irgendwann in ein ebensolches Pflegeheim. In einer derartigen Welt, da ist keine Heimat mehr möglich. Es gibt auch keine Ausflucht. Passstraßen führen ins immer gleiche trostlose Bild. Die verwahrlosten Hotelburgen und Pensionen aus dem Naherholungsparadies des abgebrannten Wirtschaftswunders salutieren hinter den Todeskurven. Der Regionalkrimi nun bietet uns zweifache Erlösung an: Wir können als Touristen an schöne neue Orte reisen. Und wir dürfen uns dabei sogar noch zu Hause fühlen. Wir dürfen glauben, dass alles wirklich so stimmt, wie es im Buche steht. Und beseelt sein vom Gedanken, dass wir das gleiche Werk auch hätten schreiben können – vielleicht sogar besser. Damit sind wir bei der maximalen Unterforderung und selbstzufriedenen Ausgeglichenheit angekommen. Daran ist nichts Arges. Im Gegenteil, diese Art des intellektuellen Müßiggangs hat etwas zutiefst Romantisches: Es ist eine Fluchtbewegung aus der entfremdeten, entwurzelnden, zerrissenen und leistungsgeilen Alltagsbefindlichkeit. Spannung wird als Entspannung erlebt, jede Form von geistiger Disharmonie vermieden. Man lässt sich mitnehmen in einen Urlaub für den Kopf, streift in entlegene Gefilde, in denen überkommene Sozialsysteme sinnhaft interagieren. Es gibt einen Fall, und der wird aufgeklärt. Das Böse besiegt. Wir sind bar jeder Verunsicherung. Das wirkt identitäts- und geborgenheitsstiftend. Einfacher ausgedrückt: Hier sind wir überall daheim. Eine Leserschaft, die im Niemandsland pendelt, erfindet sich im Regionalkrimi ein Zuhause. Dieser Heimatersatz stillt ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Erbarmen. Inwendig führt das zu jenem Seelenfrieden, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel „das Reich Gottes“ nannte.
Amateurhaft statt urtümlich
Erstaunlicherweise wurde das Eigentliche dabei bislang übersehen: dass es sich bei Regiokrimis um phantastische Geschichten handelt. Das meiste, was darin beschrieben wird, ist in der Realität völlig unmöglich. Dass nicht gescheit recherchiert wird und vieles nicht stimmt, gehört nachgerade zur Naivität des Genres. Dieses Amateurhafte, Handgearbeitete und sprachlich Schlichte wird mit dem Urtümlichen verwechselt. Wir, die wir die Mundart unserer Ahnen nicht mehr verstehen, unsere Heimat in sozialen Netzwerken ausleben und unsere Grammatik wisslos aus dem Englischen und Türkischen beziehen, erreichen bei der Lektüre einen Zustand völliger Befriedigung und Unschuld. Wir nähern uns somit „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. Dieser furiose Schluss von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ ist noch lange nicht zu Tode zitiert, wenn man den utopischen Kontext mit bedenkt. Denn die „Erschaffung der Welt, als einer rechten“, steht uns demnach noch lange bevor. Das lässt in der Tat hoffen, nicht zuletzt auf eine aristotelische Katharsis. Als zwar massenbewegte, aber auch zeitverhaftete Randerscheinung der Literatur sollten wir den Regionalkrimi deshalb nicht von der Bettkante stoßen. Obgleich sein verordneter Gebrauchswert mit dem, was Literatur vermag und leisten kann, nicht das Geringste zu tun hat. Literatur strengt an, verwirrt und tut weh, und im lustvollen Ertrag dieser mühsamen Lesearbeit aufgehoben und fremd daheim zu sein, bleibt das Privileg von wenigen. Uta-Maria Heim Dieser Text erschien am 18.11.2013 in der Stuttgarter Zeitung.