Geschrieben am 9. April 2014 von für Bücher, Litmag

Szczepan Twardoch: Morphin

roBerlin_Broschur_Twardoch_LEX_Mattf_LT_3.inddSchicksal, Schuld und Sühne

– Mit einem monumentalen Roman betritt der als herausragende Stimme seiner Generation geltende polnische Autor Szczepan Twardoch nun auch die internationale literarische Bühne: In „Morphin“ fängt er im besetzten Warschau die widersprüchliche Atmosphäre vor dem Zweiten Weltkrieg ein und stellt auf inhaltlich wie formal radikale Weise die Frage nach Identität, Nationalität, Treue und Verrat. Von Karsten Herrmann.

Nach Mobilmachung, Belagerung und Kapitulation, findet sich der polnische Reserveoffizier Konstanty Willemann im September 1939 in seiner „vergewaltigten“ Heimatstadt Warschau wieder, in der die „Ordnung der Dinge zerläuft wie schmelzendes Kristallglas“. Er ist ein Bonvivant und Weltmann, ein Trinker und Morphinist, der seine Frau Hela mit der Hure Salomé, der „kondensierten Weiblichkeit“ und einer Vielzahl anderer Frauen, betrügt – und doch seinen Sohn Juracek abgöttisch liebt. Als talentloser Künstler hat er sich jahrelang mit der finanziellen Unterstützung seiner Mutter, der „Adlerin“, in Cafés und Kneipen, auf Banketten und Tanzabenden herumgetrieben und das Leben in vollen Zügen genossen. Doch tief im Inneren ist er, der Nihilist, der das Sein für „jämmerlich“ und den Krieg, den Patriotismus und den Widerstand nur für Theater hält , auf der Suche nach Sinnstiftung und Identität: „Du bist in der Mitte zerrissen, bist nichts als Schmerz und verzweifelte Sehnsucht und Leere.“

Mehr aus Zufall wirft dieser Konstanty Willemann, durch dessen Adern adliges deutsches Blut fließt, sein Leben schließlich in die Waagschale: Er geht in den polnischen Widerstand und macht sich als vermeintlicher Überläufer in der deutschen Offiziersuniform seines Vaters gemeinsam mit der femme fatale Dzidzia auf eine waghalsige konspirative Reise nach Budapest.

Ein rauschhafter, komplexer, widersprüchlicher Roman

Aus der „Ich“-Perspektive Konstantys dringt der 1979 im schlesischen Zernitz geborene Szczepan Twardoch tief in die schillernden Abgründe seines Helden ein. In einem expressiven, sinnlich-deftigen Bewusstseinsstrom spult er dessen von Leidenschaft und Sucht befeuerten Eskapaden, seine Erinnerungen, Hoffnungen, Zweifel und aktuellen Wahrnehmungen ab. So entsteht am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ein Porträt der Stadt Warschau mit ihren Zerstörungen und mit ihren Menschen, die zwischen Anpassung, innerer Migration und Widerstand versuchen das Leben aufrecht zu halten.

Im Fokus stehen dabei auch die vor Deportation und Vernichtung stehenden Juden, die Konstanty mit zeittypischem Ressentiment betrachtet. Als Teil des Bewusstseinsstroms tritt zusätzlich eine geheimnisvolle „Schattengeliebte“ auf, die mit Konstanty im ständigen Zwiegespräch steht und als allwissende Erzählinstanz auch im Zeitraffer die Schicksale von allerlei Nebenfiguren dieses Romans vorwegnimmt.

„Morphin“ ist ein ebenso rauschhafter wie komplexer und widersprüchlicher Roman, der auf der Folie der leid- wie wechselvollen Geschichte Polens die Frage nach Schicksal und Identität des einzelnen Menschen wie auch einer ganzen Nation stellt. Zum Schluss droht er sich dabei allerdings ohne Antwort im redundanten Bewusstseinsstrudel seines von der Schwerkraft der Ereignisse und Situationen getriebenen Protagonisten zu verlieren.

Karsten Herrmann

Szczepan Twardoch: Morphin. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 2014. 592 Seiten. 22,95 Euro.

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