Im Strudel der Vergangenheit
‒ „Die falsche Spur“ von Stefanie Viereck ist ein eher stiller Kriminalroman, unaufgeregt und gut gemacht – Anne Kuhlmeyer mag ihn.
Die Journalistin Lena Vogel recherchiert für einen Artikel zum hundertsten Geburtstag von Christian Andersen, zumindest hat sie das vor. Doch wegen einer Unstimmigkeit mit ihrem Freund, dem Fotografen Lars, fährt sie alleine los und landet gerade eine Autostunde von Hamburg entfernt in einem Landgasthof. Sehr einsam, sehr still, ein bedrückender Ort.
Stefanie Vierecks Roman beginnt in Nachtblau. Ein Grauschleier bedeckt auch die hellen Sonnenflecken eines Kindheitssommers, der aufblitzt, als Lena klar wird, um wen es sich bei dem Wirt handelt. Herr Schmidt ‒ sie hat ihn immer Herrn Schmidt genannt, und er war der Klempner, der seinerzeit die Wasserrohrbrüche in der Villa, in der Lena ihre Kindheit verbrachte, reparierte ‒ ist misstrauisch und abweisend. Doch damals war er der einzige Mensch, dem sie vertraute. Die Mutter meist abwesend, der Vater mit seiner maroden Firma beschäftigt, streifte Lena in Gesellschaft imaginärer Freunde durch den weitläufigen Park. Daran erinnert sie sich. Und daran, dass Oliver da war, der versteckt werden musste, sagte Herr Schmidt. Der Junge wurde ein Freund und plötzlich verschwand er …
Lena beginnt zu recherchieren, was aus ihm geworden sein könnte und begibt sich immer weiter hinaus aus ihrem eigenen Leben, bis sie ganz erfasst wird vom Strudel des Vergangenem. Da ist die seltsame Adele, die mit Herrn Schmidt lebt, seine Schwester, ein bisschen verrückt sei sie, heißt es. Oliver ist Adeles uneheliches Kind und sei erfolgreich in Amerika geworden, nachdem er fort war. Verschwunden hinter hohen Buchenstämmen, weil man ihn einfangen wollte, wegbringen womöglich, diesen lebendigen, pfeilschnellen, kleinen Jungen.
Gesetze zum „Kindswohl“
Immerhin findet Lena zwei Männer, die die Vormundschaft für Oliver inne hatten, einen in Hamburg, der nicht redet, einen in Süddeutschland, woher die Familie stammt, der eigene Gründe hatte, die Schmidts zu unterstützen, gar zu beschützen.
Bis in die späten 1990er Jahre hinein, gab es ein Gesetz, dass einer „ledigen Mutter“ einen Vormund für ihr Kind zwangsweise zuwies, mit beschämend großzügigen Befugnissen. Gewiss, alles zum „Kindswohl“. Der im persönlichen Interpretationsspielraum des Vormunds lag. Im Übrigen griff dieses Gesetz auch dann, wenn Frau in einer nicht staatlich sanktionierten Beziehung lebte, entwürdigend für Frau und Mann.
Adele selbst hatte einen solchen Vormund nicht, wenngleich sie unehelich geboren war. Ihre Eltern waren ordnungsgemäß verehelicht und ihr Stief-Alter durfte sie unter den Augen der Dorfbewohner verdreschen, bis ihre Seele krumm und schief wurde, wie die Finger, die er ihr brach.
Nicht ohne moralische Wertung
Stefanie Viereck zeichnet die Charaktere mit einem feinen Gespür für die Zwangsläufigkeit ihres Soseins, mit Verständnis und Wohlwollen, nicht ohne moralisch Wertung, doch die im allerbesten Sinne. Ihr Duktus hat etwas Melancholisches, Erdschweres mit dem Duft von Sommernächten, was vielleicht ein wenig an die Skandinavier erinnert. Sie entwickelt die Geschichte behutsam, dramaturgisch geschickt und außerordentlich plausibel. Der Spannung tut das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Natürlich ist weder der Ansatz: Eine Journalistin ermittelt, es gibt ein Geheimnis aus der Vergangenheit, neu, noch greift sie Autorin sprachlich zu unkonventionellen Mitteln. Ihr gelingen Atmosphäre und treffende Bilder. Sie erzählt einfach wunderbar und berührend eine wesentliche Geschichte über ein kleines Stückchen, ein Puzzelteilchen Deutschland.
Anne Kuhlmeyer
Stefanie Viereck: Die falsche Spur. Bielefeld: Pendragon 2013. 307 Seiten. 12,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.