Geschrieben am 12. Oktober 2011 von für Bücher, Litmag

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

Sybille Lewitscharoff gewann 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse, nun stand sie mit ihrem neuen Roman, der sich mit dem Denker Hans Blumenberg beschäftigt, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Joe Paul Kroll setzt sich auseinander:

Die Höhle des Löwen

– Der Philosoph als literarische Gestalt wird dort zum Sonderfall, wo er den Namen eines wirklichen Philosophen trägt. In jüngerer Zeit ist diese Aneignung unter anderen Benjamin, Hegel und natürlich Nietzsche widerfahren. Das Ergebnis wirkt oft bemüht bis unfreiwillig komisch, und so mag es den einschlägig vorbelasteten Leser zunächst verwundern, wenn ein Roman über den Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996) es zum Feuilletonaufmacher der laufenden literarischen Saison bringt.

Nun ist Hans Blumenberg selbst ein Sonderfall. Um eine Gestalt wie jene Nietzsches ranken sich derart viele Mythen, sie ist Gegenstand einer solch umfassenden Biografik, dass ein weiterer Roman allenfalls noch als Kuriosum ins Gewicht fiele. Anders hingegen bei Blumenberg: Blumenbergs Öffentlichkeitsscheue wuchs wie parallel zu seiner Produktivität, doch scheute er zeitlebens die eindeutige Aussage, und noch seinen kürzesten Texten eignet etwas Rätselhaftes.

Gerade diese kürzeren Texte, die teils für die Schublade, teils für Zeitungen wie die FAZ und die NZZ geschrieben wurde, lassen sich eher als literarische Vexierbilder in der Tradition Kafkas denn als eindeutige philosophische Stellungnahmen lesen. Eine Reihe davon gilt dem Erscheinen des Löwen in der Literaturgeschichte, und als Deuter dieser Löwenszenen erscheint Hans Blumenberg denn auch in „Apostoloff“, dem vorletzten Roman von Sibylle Lewitscharoff:

„Warum ist Hans Blumenberg so ein aufregender Philosoph? Er war Löwenphilosoph. Nachts hatte er einen versöhnlichen Löwen neben seinem Schreibtisch liegen, der’s aber doch auf die eine oder andere Kraftprobe ankommen ließ. Blumenberg ist an seinem Löwen gewachsen.“

Diese Passage, die Blumenberg sofort als einen Hieronymus im Gehäus einführt, erscheint eher spät und unvermittelt in einem Roman, in den sich tatsächlich einige Blumenberg’sche Motive hineinlesen lassen: Insbesondere der noch im Tod dominante Vater als Gleichnis der Abwesenheit Gottes, als das gebannte Absolute, das sich wiederum im zahmen Löwen abbildet.

„Welch einzigartige Erkenntnisse vermag ein gezähmter Löwe zu verschaffen. Heilige und Philosophen vertrauen diesbezüglich auf den Löwen.“ – So wiederum Sybille Lewitscharoff. Doch welcher Art diese Erkenntnisse sind, erfahren wir in „Apostoloff“ nicht, und auch nach der Lektüre von Frau Lewitscharoffs neuem Roman, schlicht „Blumenberg“ benannt und mit einem Löwen als Umschlagbild, bleibt die Frage offen.

Der Einstieg in den Roman ist schnell erzählt: Anfang der achtziger Jahre ist Blumenberg (dessen Vorname niemals fällt) Philosophieprofessor in Münster, der, wie Zeitgenossen berichten, seine eigentliche Denk- und Schreibarbeit vor allem nachts zu leisten pflegte. Während einer dieser Nachtwachen findet Blumenberg plötzlich einen Löwen neben seinem Schreibtisch. Dieser Löwe, der Blumenberg zuerst verstört, schließlich beruhigt, erscheint noch einige Male. Zwischen diesen Löwenszenen ist von einigen Studenten Blumenbergs zu lesen, deren Schicksale sich von Blumenberg weitgehend unbemerkt abspielen.

Nun ist der Löwe ein zu promiskes und polyvalentes Symbol, als dass es sich festlegen ließe – Blumenberg selbst hat im Nachlasswerk „Löwen“ zahlreiche Deutungen durchexerziert. Zwar liegen manche Anlehnungen, manche Deutungen näher als andere, doch betreibt Frau Lewitscharoff hier ein Vexierspiel mit Deutungsangeboten, das seinerseits gut blumenbergisch ist. Keiner Explikation bedarf wohl ein nahe liegendes Bild: Der Löwe gilt als König der Tiere und damit als Symbol des Königtums. Er ist damit ein Symbol der Souveränität, des Absoluten also in seiner säkularen, fleischgewordenen Gestalt. So erfahren wir denn auch, was aus Blumenbergs Zweifeln an der Realität des Löwen wurde: „Der Löwe widerlegte ihn souverän.“

Doch nicht nur das: Der Löwe erscheint unvermittelt, wie es das Absolute so zu tun pflegt; er bricht ein in eine Welt, welche sich die Menschen eingerichtet haben, um sich das Absolute nach Möglichkeit vom Leibe zu halten: vorhersehbar und wohlgeordnet, eine Welt, deren Schöpfer von der Aufklärung allenfalls noch als Uhrmacher gedacht wurde, der von Eingriffen in den Mechanismus absieht. Mit anderen Worten: „[D]er Löwe verkörperte das Wunder.“

Für Blumenbergs intellektuellen Widersacher Carl Schmitt war das Wunder dasjenige Theologem, mit dem ein ernsthafter Gottesbegriff steht und fällt, der Begriff eines Gottes, dessen Souveränität sich nicht in allgemeinen Gesetzmäßigkeiten neutralisieren ließ, sondern der Welt seinen eschatologischen Vorbehalt gelegentlich auch durch konkrete Willensäußerungen ins Gedächtnis rief. Dieser Gott sei, so wiederum Blumenberg, seit der Renaissance zunehmend untragbar geworden, und so verwundert es nicht, wenn der Blumenberg des Romans nicht „bereit [ist], sich der Macht des Wunders zu ergeben“. Das Erscheinen des Löwen führt tief in die Philosophie Blumenbergs, bis hin zu dem, was oft als deren Grundgedanke ausgemacht wird, zur „Entlastung vom Absoluten“.

Um aber aus den Tiefen des Werks zum vorliegenden Roman zurückzukehren: Was ist das überhaupt für ein Einstieg? Die Selbstverständlichkeit, mit der Unerhörtes – in diesem Fall das Auftauchen des Löwen – berichtet wird, erinnert natürlich an Kafka, mit dem sich Blumenberg häufig befasst hat. Der Rahmen allerdings, in dem solch wundersame Dinge geschehen, könnte E.T.A. Hoffmann entlehnt sein: Eine Nachtwache, in der übrigens nicht wenig getrunken wird (auf diesem Wege erfahren wir von Blumenbergs Vorliebe für Grands Crus aus dem Bordeaux).

Doch damit ist schon ein Problem benannt, ein Verstörendes an der Zeichnung der Gestalt Blumenberg: Der Gelehrte erscheint im Roman als eine allzu biedermeierliche, skurril-versponnene Figur, als kleines Männlein mit dickem Mantel und Hut. Ausgeblendet wird das Promethische, es fehlt Blumenberg der stille Dekonstrukteur und Sinnzertrümmerer. Was bleibt, ist bloß ein deutscher Philosoph, wenn auch (so deuten es die Kathederszenen an) ein brillanter. Blumenbergs Radikalität war, zugegeben, eher zwischen den Zeilen zu finden, doch auch dort sucht man sie im Roman vergeblich.

Der ist natürlich nicht als autorisiertes Porträt zu verstehen, auch wenn Bettina Blumenberg, die Tochter des Philosophen, der Autorin als Gesprächspartnerin zur Verfügung gestanden hat. Es gehört zum stets Befremdlichen, Befremdung fordernden eines solchen Romans, eine wirkliche Person fiktiv – und das heißt: nach Gusto der Autorin – ausgestaltet zu sehen. Dennoch ist man hier neugierig auf Privates und hofft, von der Romanfigur also auf den Philosophen zu schließen.

Ein heikler Punkt ist in diesem Zusammenhang, was wir über Blumenbergs Lebensgeschichte erfahren, über sein Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, insbesondere zur Verfolgung als (katholisch getaufter) Sohn einer jüdischen Mutter, die Blumenbergs Jugend unter dem Nationalsozialismus prägte. Gelegentliche Reminiszenzen werden eingestreut: Blumenberg erinnert sich in einer Löwennacht an den „Direktor des Lübecker Katharineums, der ihm auf offener Bühne den Handschlag verweigert hatte, ihm, dem besten Schüler von ganz Schleswig-Holstein“. Nun wissen wir schon aus anderen Quellen – Ahlrich Meyers biografischer Essay sei hier genannt – dass Blumenberg hierüber ungern sprach, und angesichts dieses Schweigens sind seine wenigen Äußerungen in Werk und Nachlass sind dafür um so kostbarer.

Hier möchte man wieder zu Werk und Nachlaß greifen und an eine weitere Leitmetapher Blumenbergs, die der Höhle, erinnern. Die Metapher der Höhle deutet er als zwischen Geborgenheit und Gefängnis changierend. Besonders nahe liegt hier die Höhle des Löwen, von der im Löwenbuch als einem „ambivalente[n] Platz“ die Rede ist: Gefährlich für den Eintretenden, sicher für den, der einmal drin ist. Blumenberg gebraucht das Bild einmal selbst an exponierter Stelle, und zwar in einem 1987 unter dem Titel „der Parteibeitrag“ erschienen Essay. Der ist zum einen Abrechnung mit dem charakterlosen Heidegger – Frau Lewitscharoff kennt dessen im Nachlass auftauchenden Beinamen „der Seinsspinner aus dem Schwarzwald“ –, in der auch Heideggers Schüler und Blumenbergs Kontrahent im Ringen um die Definition des Säkularisierungsbegriffes, Karl Löwith (sic), auftaucht.

Zum anderen aber bricht Blumenberg hier öffentlich die Regel de nobis ipsis silemus und erinnert sich, wie er in den letzten Kriegstagen in der Wohnung des Blockwarts Unterschlupf fand. Diese bezeichnet er als „Höhle des Löwen“. Es ist diese Szene ein merkwürdiger Vorgeschmack auf eine Utopie, in der Lamm und Löwe beieinander liegen, wie ja bei in der Ikonografie der Hieronymus-Bilder viel eindeutiger der Blick auf eine befriedete Endzeit gemeint ist, der freilich nicht nach Blumenbergs Geschmack als Eschatologiekritiker gewesen wäre.

Was aber hat es mit dem restlichen Personal auf sich? Mit dem Musterstudenten Gerhard und seiner Freundin, der traurigen Studentin Isa (deren Figur wir nicht zuletzt dafür Dank schulden, eine Schnittmenge der Welten Hans Blumenbergs und Patti Smiths zu verkörpern) und vor allem mit Hansi. Hansi, dessen Nachnamen wir nie erfahren, steht Blumenberg gegenüber, dessen Vorname nie ausgesprochen wird, bietet sich dennoch nicht als Alter Ego Blumenbergs an. Und zuletzt Richard, der an seinem Löwenherzen zugrunde geht.

Was diese Figuren eint, ist ihr unzeitiger, vorzeitiger Tod. Mit solchem „Sein zum Tode“ wird über die Hintertür ein Motiv Heideggers eingeführt. Was hier aber noch stärker fasziniert, ist eine weniger nahe liegende Parallele, und zwar zu Evelyn Waugh, dessen Romanen Blumenberg schon 1953 einen Aufsatz gewidmet hatte, dessen Bedeutung für Blumenbergs Denkweg noch kaum hinreichend gewürdigt worden ist. Dort fungiert der Tod in seiner ganzen Banalität als Schwundstufe dessen, was einmal eine ernstzunehmende Eschatologie war. Richards Tod in den Tropen erinnert an das Schicksal Tony Lasts, dem Protagonisten von „A Handful of Dust“, der ebenfalls im brasilianischen Urwald verschwindet, auch wenn er nicht den gewaltsamen Tod Richards erleidet. Solche Katastrophen, die in eine vom Hedonismus geprägte Welt einbrechen, deutet Blumenberg noch unter der moralischen Perspektive, die einem Autor des katholischen „Hochland“ ziemt. Nur drei Jahre später sollte sich der Blick wandeln und T.S. Eliots Faszination mit dem Ende ihm nur noch als Pseudomorphose eines modischen Existenzialismus erscheinen.

Um so bemerkenswerter ist es, wie bei Frau Lewitscharoff die Theologie, von der Blumenberg sich in den fünfziger Jahren lossagte, über die Hintertür doch noch Zugang findet, und zwar im Schlusskapitel, das „Im Inneren der Höhle“ überschrieben ist. Diese nach Blumenbergs Tod platzierte Szene, in der nochmals die anderen Toten des Romans erscheinen (keine wesentliche Figur überlebt ihn), ist zweifelsohne als Reverenz-Referenz an den Schluss des „Faust II“ zu verstehen, auch wenn das einzige direkte Goethe-Zitat aus „Selige Sehnsucht“ entnommen ist: Der Löwe erscheint zuletzt als Engel, der unseren Faust-Blumenberg hinanzieht.

Dieser Apotheose fehlt das Augenzwinkern, das sie erträglich machen würde, und doch kann sie nicht ganz ernst gemeint sein. Als Komödiantin scheitert Frau Lewitscharoff hier. Und doch kommt man um eine religiöse Deutung des Löwen nicht ganz umhin: Eine Narbe in der Brust macht ihn als Christussymbol kenntlich, womit wieder einmal die Bedeutung des Löwen als Gestalt des Absoluten – in müder, heruntergekommener Form – belegt wäre.

Der Inszenierung zwischen Katheder und Studierstube zum Trotz werden die Üblichkeiten des Campusromans in „Blumenberg“ mit einer solchen Konsequenz gemieden, dass diesen Gebräuchen noch im Bruch eine Ehrung widerfährt: Blumenberg hat hier keinen Kontakt zu Kollegen, auch wenn wir von der im Nachlass dokumentierten Abneigung gegen Jacob Taubes erfahren. Auch fleischliche Lust, neben Ehrgeiz die schlechthinnige Triebfeder des Campusromans, spielt hier keine Rolle.

Bleibt die Frage, was ein Leser, der mit dem Werk Blumenbergs nicht vertraut ist, in dem Roman zu finden hoffen darf: skurrile Charaktere, traurige wie wundersame Ereignisse, scheinbar abstruse Gedankengänge und schrullige Formulierungen. „Blumenberg“ wirkt zuallererst durch seinen Anspielungsreichtum. Eine Prosa, die eine so dünne Geschichte wie „Apostoloff“ mit einer Komik erzählen konnte, welche die Tempoarmut des Plots oft zu kompensieren vermochte, wirkt hier dagegen leider allzu oft behäbig, der Sprachwitz bemüht. Zum biedermeierlichen Bild Blumenbergs, das hier gezeichnet wird, passt dies. Doch als philosophischer Roman gelingt „Blumenberg“ so nur zur Hälfte.

Joe Paul Kroll

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Roman. Suhrkamp Verlag 2011. 220 Seiten. 21,90 Euro.