Geschrieben am 28. April 2012 von für Bücher, Crimemag

Rubem Fonseca: O Seminarista. Rio de Janeiro / Ferréz: Capão Pecado

Brasilien, blutig …

Nächstes Jahr ist Brasilien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Natürlich sind lateinamerikabegeisterte Forscher und Verlagsmenschen daher wieder am Suchen nach neuen Titeln. Zwei brasilianische Romane (Rubem Fonseca: O Seminarista (2009) und Ferréz: Capão Pecado (2000)) stellt Ihnen Doris Wieser vor. Ob sie übersetzungswürdig sind? Schwer zu sagen …

O Seminarista

Rubem Fonseca (*1925) gilt mittlerweile als Altmeister der brasilianischen Kriminalliteratur. In den 1970er Jahren gab er dem Genre mit seinen brutalen Erzählungen („Feliz Ano Novo“ 1975, „O Cobrador“ 1979, deutsch „Der Abkassierer“) entscheidende Impulse, die auch im spanischsprachigen Amerika eifrig aufgenommen wurden. Die Spezialität dieser Erzählungen bestand in der Darstellung von gewissenlosen Gewaltverbrechern aus der Ich-Perspektive. Die interne Fokalisierung solcher Figuren bei gleichzeitiger Abwesenheit von Gefühlen wie Mitleid, Reue oder Furcht ließ deren Kälte besonders augenfällig werden. Dabei stand das Fehlen eines minimalen Moralkodex der sozial Marginalisierten symptomatisch für eine Gesellschaft, in der die Schere zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen immer größer geworden ist.

In Fonsecas Literatur lässt sich aber schon von Anfang an auch eine Tendenz zu ironisch-satirischen Überspitzungen beobachten (z.B. in seinen Romanen „Bufo & Spallanzani“ oder „Grenzenlose Gefühle, unvollendete Gedanken“). Verbrechen wird bei ihm häufig nicht mit anklagendem Ernst thematisiert, sondern vielmehr zynisch trivialisiert – eine andere, wahrscheinlich subtilere Form der Sozialkritik. Diese subversive und gleichzeitig ludische Tendenz hat sich im Laufe der Zeit intensiviert. Fonsecas neuester Roman, „O Seminarista“ (2009, deutsch Der Seminarist), treibt sie auf eine neue Spitze.

Der Roman handelt von einem höchst professionellen Auftragskiller, der das Priesterseminar besucht, aber nicht beendet hat und bei jeder Gelegenheit auf sein großes Repertoire an lateinischen Zitaten zurückgreift, die er – natürlich – sinnentstellt. Nachdem er sich in die deutsche Literaturübersetzerin Kirsten verliebt hat, beschließt er, sich aus dem Geschäft mit dem Tod zurückzuziehen. Doch zu viele Rechnungen sind offen geblieben, so dass er sich bald gezwungen sieht, wieder zu morden, um sein eigenes Leben zu verteidigen. Die aktions- und figurenreiche Handlung führt den Killer in die High Society Rio de Janeiros, in der eine wohlhabende Witwe Swingerpartys organisiert und gewisse andere Personen mit Geldwäsche beschäftigt sind. Doch die gesellschaftliche Dimension dieser Lebensstile interessiert den Seminaristen nicht weiter. Der Roman lebt von grotesken Übertreibungen, vom Thrill aus Flucht und Verfolgung, wilder Leidenschaft und Kaltblütigkeit. Es wird nichts erklärt, nichts gerechtfertigt; die Figuren bleiben eindimensional und klischeehaft, karikaturesk.

Als über 80-Jähriger scheint Rubem Fonseca kein Interesse mehr an einer realitätsnahen Darstellung der brasilianischen Gewalt aufbringen zu können. Zu voll sind die Zeitungen davon, zu viele Romane wurden geschrieben, zu viele Filme gedreht. Was wäre dem noch hinzuzufügen?, scheint sich Fonseca zu fragen. Was, außer ein postmodernes, karnevaleskes und schon etwas müdes Lachen? Da ist kaum was geblieben von der früheren Dringlichkeit und Beharrlichkeit, mit der Fonseca die dunkelsten Seiten unseres Daseins durchdrang. Auf mich will der Funke daher dieses Mal nicht überspringen, zu beliebig scheint mir Fonsecas Lachen. Schauen wir nun, ob seinen jungen Kollegen es besser machen …

Capão Pecado

Seit einigen Jahren schreibt eine neue Generation von Autoren direkt aus der Peripherie der Großstädte ihre eigene Literatur. Sie wollen sich nicht länger von Rubem Fonsecas und Patrícia Melos quasi von außen beschreiben und beurteilen lassen. Sie wollen nicht länger das Objekt sein, sondern ihre eigene Stimme erheben. Ihre „literatura marginal“ wendet sich von den sozial und ökonomisch stark vernachlässigten Außenbezirken (Favelas und ärmeren Wohnvierteln) gegen das Zentrum, gegen das System, das ihnen jegliche Partizipation versagt. Der bekannte Paulo Lins, Autor von „Die Stadt Gottes“ („Cidade de Deus“), gehört auch zu dieser Strömung.

Eines der wichtigsten Sprachrohre ist mittlerweile aber Ferréz (*1975), dessen Projekt nicht nur ein literarisches ist. Ferréz ist Rapper, organisiert Lesungen, hält Vorträge an Schulen, schreibt für Kulturzeitschriften, unterhält ein Blog, in dem er über Ereignisse aus der Favela berichtet (was die Zeitungen stark vernachlässigen) und hat ein eigenes Modelabel gegründet, mit dem er seiner Gegend (die südliche Peripherie von São Paulo) zu mehr Selbstvertrauen verhelfen möchte (www.1dasul.com.br). Durch die eigene Marke zeigt die Zona Sul, dass sie die Produkte des Zentrums nicht mehr braucht. Mittlerweile gibt es in der Gegend alternative kleine Verlage, sowie offene Bühnen (saraus), die ein kulturelles Gemeinschaftsleben entstehen lassen.

Was haben Schriftsteller wie Ferréz zu bieten? Zum einen ist die Autorintention greifbarer als bei Fonsecas „O Seminarista“ (was natürlich kein Qualitätsmerkmal an und für sich ist). In „Capão Pecado“ finden sich zwischen den Kapiteln immer wieder kämpferische Statements von Rappern wie dem bekannten Mano Brown, lokalen Kulturorganisationen oder Hip Hop-Gruppen, die sich (zumindest verbal) gegen die Haltung des brasilianischen Staates wenden, der sie vergessen zu haben scheint.

Auf der anderen Seite zeigt uns Ferréz in seinem Roman eine Fülle von Personen aus der Peripherie mit all ihren Freuden und Leiden. Es sind Figuren, die nicht notgedrungen (klischeehaft) kriminell sind, aber realistischerweise befinden sich darunter eben auch solche. Viele bleiben Randgestalten, aus ihrem Leben erfahren wir nur episodenhaft. Jedoch zieht sich die unglücklich endende Liebesbeziehung von Rael und Paula als roter Faden durch den Roman. Ferréz zeigt von Hoffnung beseelte und vom Schicksal gebeutelte Personen, letzten Endes scheitern sie aber allzu oft daran, dass sie eben doch wieder genau das tun, wofür die Favelas bekannt sind: Mord wird zur ultima ratio. Abscheu erregen skatologische Szenen, in denen dem Leser eine Mischung aus Urin, Alkohol und Sperma in die Nase zu steigen scheint und die Figuren jegliche Würde verlieren. Krude, geradezu pornografisch wird es überdies, wenn Rael und Paula es miteinander treiben, jedoch verbirgt sich dahinter nicht nur die Lust, zu unterhalten, sondern auch der Anspruch einer realistischen, kulturadäquaten Darstellung.

Definitiv irritierender – im positiven Sinn – als „O Seminarista“, gewährt „Capão Pecado“ einen glaubhaften Einblick in das Leben der Ausgestoßenen der Gesellschaft. Übersetzenswert? Im Prinzip ja. Problematisch ist allerdings die Übertragung von Ferrézʼ verschliffenem Straßenslang.

Mit dem Titel spielt der Autor übrigens auf sein Viertel Capão Redondo an, dessen Namen er sinnstiftend verfremdet (pecado = Sünde).

Doris Wieser

Rubem Fonseca: O Seminarista. Rio de Janeiro: Agir 2009. 181 Seiten.
Ferréz: Capão Pecado. São Paulo: Labortexto 2000. 172 Seiten.

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