Elektronischen Medien als Waffe mit Suchtpotential
– Damit nichts vergessen wird. Peter Carey schafft einen Polit-Thriller über die Hacker-Szene mit überraschendem Ausgang. Von Jörn Borges
Zu Anfang hat Felix Moore alles verloren. Der linke Enthüllungsjournalist wird rechtmäßig verurteilt. Sein Buch wird eingestampft. Sein finanzieller Ruin ist durch eine Schadensersatzforderung besiegelt. Seine Frau wendet sich endgültig von ihm ab. Er befindet sich also in genau dem Stadium, in dem er perfekt in die Intrige eines alten Freundes passt. Er soll die Tochter einer früheren Freundin retten. Ihr wird vorgeworfen, mit einem Computerwurm die elektronisch gesteuerten Gefängnisse nicht nur in Australien, sondern auch in den USA geöffnet zu haben.
Durch seine Biographie soll er sie menschlich machen, zeigen, dass Gaby Baillieux nicht die Internet-Terroristin ist, für die die USA sie halten, sondern lediglich Flüchtlinge aus australischen Internierungslagern befreien wollte.
Moore gerät zwischen die Fronten, als er merkt, dass sein Auftraggeber ihn nur benutzten will. Seine Recherche wird gleichzeitig zur Flucht, die von den Freunden Gaby Baillieuxs organisiert wird. Die Schauplätze wechseln. Die ständige Bedrohung, entdeckt zu werden, bleibt. Am Ende hat er das 5 Sterne Hotel mit einer Hütte im australischen Dschungel und einem Motel vertauscht. An die Stelle des Laptops ist die Schreibmaschine getreten. Der Datenspeicher ist das Papier, auf dem er schreibt. Wie sollte er sonst der lückenlosen elektronischen Überwachung des 21. Jahrhunderts entkommen.
Dies alles erzählt Carey atmosphärisch dicht. Ganz gleich, ob es sich um das Brisbane, Melbourne oder den australischen Busch handelt. Keiner der Orte wird zur bloßen Kulisse. Ganz gleich, ob er den mit dem körperlichen Verfall kämpfenden Felix Moore oder den Computer-Nerd beschreibt. Nie werden die Personen zur Karikatur. Der Plot ist fein gesponnen. Die Recherche Moores wird zur Story in der Story.
Die Familiengeschichte von Moores Protagonistin, der Hackerin Gaby Baillieux, der Tochter einer egozentrischen Schauspielerin und eines gutmütigen linken Lokalpolitikers, ist auch ein Teil seiner Geschichte. Denn ihre Mutter ist sein früherer Schwarm aus Studienzeiten.
Der Leser ist bei dem Sortiervorgang dieser Lebensgeschichten dabei. Felix Moore hört die Interview-Cassetten von Mutter und Tochter ab. So wird der Thriller gleichzeitig zum Familienroman und klärt die Frage, was einen Menschen dazu bringt, eine Internetaktivistin zu werden. Die linksalternative Elterngeneration kommt hierbei nicht gerade günstig weg. Gleichzeitig zeigt Carey, wie die elektronischen Medien zur Waffe mit Suchtpotential geworden sind. In den Händen der Hacker werden sie zum Instrument des Widerstands. Dass diese Verteidiger der Grundrechte nicht frei von Brutalität und selbstverliebten Allmachtsphantasien sind, macht ihr Bild nur umso authentischer. Vielleicht ist diese Beschreibung auch Antwort auf die vom Helden Felix Moore gestellte Frage: Warum gibt es eigentlich so wenig weibliche Hacker?
Am Ende bringt Moore die Biographie von Gaby Baillieux zu Papier, ohne dabei irgendwelche Rücksichten etwa auf die bedrückende Familiengeschichte von Gabys Mutter zu nehmen. Es bleibt bis zum Schluss ungewiss, ob sein ursprünglicher Auftraggeber ihn nicht doch eliminieren wird. Und so nimmt die Geschichte am Ende einen unerwarteten Verlauf.
Jörn Borges
Peter Carey: Amnesie. Roman. Gebunden. S. Fischer 2016. Aus dem Englischen von Anette Grube. 464 Seiten. 24,99 Euro. Zur Leseprobe.