Geschrieben am 5. Juli 2017 von für Bücher, Litmag

Roman: Hari Kunzru: White Tears

kunzru_WhiteEine Reise in das dunkle Herz Amerikas

– Der Münchener Liebeskind-Verlag ist immer wieder für die Entdeckung von literarischen Grenzgängern zwischen Hochliteratur, Crime und Noir gut. Autoren wie Pete Dexter, David Peace oder Donald Ray Pollock führen mit suggestiver Kraft in die Abgründe des Menschen und der Nationen. Der Brite Hari Kunzru, der zurzeit in New York lebt und arbeitet, zielt mit seinem Roman „White Tears“ in das dunkle Herz Amerikas und in die Grenzbereiche der Wirklichkeit. Von Karsten Herrmann

Kunzrus Protagonist Seth streift auf der Suche nach Tönen, Geräuschen und Gesprächen durch New York: „Ich wollte die Welt festhalten und dann so abspielen, wie ich sie vorgefunden habe.“ Zusammen mit Carter, dem reichen Sohn des Wallace-Firmenimperiums, betreibt er ein Tonstudio, das ganz auf analoge und authentische Töne und daraus gemischte Samples setzt. Eines Tages nimmt Seth zufällig eine unbekannte und betörende Blues-Stimme in einem New Yorker Park auf und zusammen mit Carter machen sie daraus einen Song aus den Anfangszeiten des Blues und schreiben ihm einem fiktiven Charlie Shaw zu: „Als ich fertig war, klang es wie eine alte Schellackplatte, von dem es nur ein einziges, ramponiertes Exemplar gab, ein seidener Faden, an dem die Vergangenheit hing.“

Mit diesem gefakten Blues-Song beginnt das Unglück: Carter wird überfallen und fällt ins Koma, Seth verliert seine Wohnung und das Tonstudio und macht sich mit Carters Schwester Leonie auf den Weg in den tiefen Süden der USA, in die Keimzelle des Blues und der Sklaverei. Es wird eine Reise in Tod und Verderben, bei der die Geister der Vergangenheit und Amerikas unversöhnte Geister auferstehen. Am Ende muss Seth sich eingestehen: „nichts von dem, was dir passiert ist, ist wirklich passiert.“

„White Tears“ ist ein Roman, der als versiert erzählter großstädtischer Hipster- und Avantgarde-Roman beginnt, um dann ein Thriller-Element aufzunehmen und schließlich in einem fiebrigen Grenzbereich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Leben und Tod zu münden. Ohne billige Mystery-Effekte lässt Hari Kunzru das Leid der Schwarzen Amerikas, auf dem sich der Reichtum von Familien wie die von Carter Wallace aufbaut, wieder auferstehen und zieht Parallelen zu einem heutigen Amerika, in dem der Rassenhass und die Gewalt nach wie vor blühen.

Karsten Herrmann

Hari Kunzru: White Tears. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweda-Schreiner. Liebeskind 2017. 352 Seiten. 22,00 Euro.

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