Kult der Lakonie
– Raymond Carver ist einer der berühmtesten Vertreter der amerikanischen Short Story und prägte in den 1980ern einen neuen „Minimalismus“. Bekannt wurde er insbesondere auch durch sein Buch „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Eine im S. Fischer Verlag herausgekommene Neuausgabe bietet jetzt die Gelegenheit, Carvers eindrucksvolle Stories (wieder) zu entdecken. Von Karsten Herrmann
Die Erstausgabe und damit auch die deutsche Übersetzung war durch starke Eingriffe und Kürzungen von Carvers Lektor Gordon Lish geprägt. Ein Briefwechsel zwischen den beiden zeigt, dass Carver die Überarbeitungen einerseits durchaus schätzte und sogar „brillant“ fand, sie ihn aber in eine existentielle Krise zu stürzen drohten: „Meine geistige Gesundheit steht auf dem Spiel“ schrieb er an Lish im Hinblick auf seine Zugeständnisse und fürchtete: “dann kann ich mir selbst nicht in die Augen schauen und vielleicht nie wieder schreiben.“
Und dabei hatte Carver, der sich jahrzehntelang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hatte, gerade seinen schweren Alkoholismus mit unzähligen physischen und psychischen Zusammenbrüchen überwunden: „ich bin aus dem Grab zurückgekehrt, damit ich wieder schreiben kann.“ Doch letztlich verlor Carver den Kampf um seine künstlerische Integrität und musste die Überarbeitungen akzeptieren, damit der Band überhaupt erscheinen konnte.
Lassen wir es nun dahin gestellt, ob die ungekürzte Fassung literarisch wertvoller ist als die Erstausgabe. Auf jeden Fall zeigt sie einen Raymond Carver, der auf der Höhe seiner Kunst steht und in seinen Short Stories eine umwerfende Lakonie kultiviert.
Er ist ein Meister der Eröffnung, zieht mit wenigen Strichen tief in das Geschehen hinein, spart aus, deutet an, öffnet Räume: „Am Morgen gießt sie mir Teacher’s Whisky auf den Bauch und leckt ihn ab. Am Nachmittag versuchte sie aus dem Fenster zu springen.“
Mit deutlichen autobiographischen Zügen drehen sich Carvers Stories um Einsamkeit und Verlust, um Schuld und Schicksal, um Fehler und Geständnisse. Seine Protagonisten sind gebrochene und zerbrechende Menschen zwischen kleinem Glück und großer Tragödie. Mit brutaler Traurigkeit sind sie in eine Kette von nicht mehr zu stoppenden Ereignissen und Verbindungen eingespannt und werden ein ums andere Mal zu heroischen Verlierern.
Karsten Herrmann
Raymond Carver: Beginners. Uncut – Die Originalfassung. Erzählungen. Die Originalversion von „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié und Ante Rávic-Strubel. S. Fischer 2012. 364 Seiten. 22,95 Euro. Mehr zu Carver hier und eine Sammlung von Audio-Interviews finden Sie hier. Quelle des Fotos: Wikipedia.