Entschuldigung, mögen Sie Sackleinen?
Können Sie sich vorstellen, einen Roman in Fragen zu lesen? Kann ein solcher Text tatsächlich ein Roman sein und nicht nur ein über 180 Seiten reichender Fragenkatalog, dem ein findiger Autor den Stempel „Roman“ verpasst hat? Was ist eigentlich ein Roman? Können Sie ayurvedisch definieren? Fragen Sie sich gerade, wie um Himmels willen ein Roman in Fragen funktionieren soll oder interessiert Sie vielmehr, ob man die Fragen als Leser beantworten muss? Passiert etwas in Ihrem Kopf, wenn Sie eine Reihe von Fragen lesen, selbst wenn Sie keine davon beantworten, nicht einmal Überlegungen zu einer möglichen Beantwortung anstellen? Ist das menschliche Individuum wichtiger als die individuelle Ameise, und wenn ja, um wie viel, was würden Sie sagen? Fällt es Ihnen schwer oder leicht, Fragen unbeantwortet zu lassen, die an Sie gestellt werden, selbst wenn es nur Fragen eines fiktiven Fragestellers an einen ihm unbekannten Leser und nicht an Sie persönlich sind? Bereitet es Ihnen Skrupel, ohne kurzes Nachdenken oder Innehalten zur nächsten Frage überzugehen? Macht ein Pferd ohne Namen Sie nervöser oder weniger nervös als ein Pferd mit Namen?
Wer stellt eigentlich die Fragen in einem Frageroman? Und wem? Muss man, um eine Geschichte mittels Fragen zu erzählen, ein genialer Autor sein oder reichen mittelmäßiges Talent und ein wenig Eifer? Finden Sie es a) originell, b) legitim, aber langweilig oder c) geradezu lächerlich, einen „Roman in Fragen“ in Fragen zu rezensieren? Wann können wir mit einer Antwort rechnen? Werden Sie langsam neugierig oder eher genervt? Besteht eine Geschichte nicht vorwiegend aus miteinander verbundenen Ereignissen? Möchten Sie ein Beispiel? Darf ich Sie bitten, sich als Vorbereitung auf weitere Fragen, die ich stellen werde oder auch nicht, eine Korallenschlange vorzustellen, die ein Stück Christbaumschmuck frisst und daran stirbt? Darf ich eilig hinzufügen, dass diese Vorstellung nicht von mir, sondern von einem Mädchen oder einer Frau aus meiner Bekanntschaft stammt, die darüber geschrieben hat?
Ob Sie eine Frage – und sei es nur für sich im Geiste – beantworten oder nicht, hängt das in erster Linie davon ab, ob die Frage etwas in Ihnen berührt oder eher davon, wer Ihnen die Frage stellt? Fragen Sie sich gerade: Wozu das Ganze, wozu dieser Roman? Sind Sie begeistert? Wollen Sie diese Rezension weiterlesen oder brechen Sie sie gleich ab? Mögen Sie Frage-Antwort-Spielchen? Was sagt das über Sie aus? Fordert ein Text in Fragen mehr oder weniger vom Leser als ein Text in Aussagen? Was würden Sie sagen ist das literarische Prinzip dahinter? Vermuten Sie hinter den Fragen den Autor selbst oder eine von ihm erfundene Romanfigur, die er auf diese Weise charakterisiert? Finden Sie es plausibel, dass ein Mädchen einen zwanzig Jahre älteren Mann verführt, indem sie ihm von einer Korallenschlange erzählt, die ein Stück Weihnachtsbaumschmuck frisst und daran stirbt? Wenn Kommunikation einen wechselseitig und auf mehreren Ebenen zwischen einem Sender und einem Empfänger verlaufenden Austausch bezeichnet, sollte es dann nicht möglich sein, durch reines Fragestellen ein Bild im Kopf des Empfängers zu erzeugen, das nach und nach eine Lebensgeschichte des Fragenden ergibt? Ätzt es Sie nicht an – verzeihen Sie diese poppige Ausdrucksweise –, Sie selbst zu sein? Ist davon auszugehen, dass jemand, der Sie fragt, ob Sie davon angeätzt sind, Sie selbst zu sein, selbst davon angeätzt ist, er selbst zu sein?
Können Sie alles auflisten, wovor Sie Angst haben, oder ist es leichter, alles aufzulisten, wovor Sie keine Angst haben, oder haben Sie vor gar nichts Angst, oder haben Sie im Wesentlichen vor allem Angst? Was zum Teufel sagt die Auswahl der hier zitierten Fragen über die Rezensentin aus? Würden Sie, wenn Sie repräsentative oder auch nur unterhaltsame Fragen aus einem Fragenkatalog auszuwählen hätten, eher solche herauspicken, die Sie persönlich ansprechen oder solche, die keinerlei Bezug zu Ihren Vorlieben oder Charaktereigenschaften preisgeben? Finden Sie Frauen, die im Herrenpyjama schlafen, affektiert, patent oder sexuell anziehend? Würde ein Autor, der einen Roman in Fragen schreibt, sich vorwiegend solchen Fragen zuwenden, die ihn plagen oder würde er sich eine fiktive Person ausdenken, deren Themen möglichst weit entfernt sind von ihm selbst? Spielt das eine Rolle für die Definition „Roman“? Apropos: Wieso thematisieren 99 Prozent aller über einen kurzen Buchtipp hinausgehenden Buchbesprechungen den autobiografischen Hintergrund der besprochenen, als fiktiv gekennzeichneten Werke? Schlafen Sie im Schlafanzug? Schlafen Sie gleich ein oder fühlen Sie sich hellwach? Was würde Ihnen, eben jetzt, am meisten Spaß machen? Würden Sie gern einen Roman in Fragen lesen oder aber dem nächsten Fragesteller, der Ihnen heute begegnet, am liebsten den Kopf abreißen? Sind Sie jetzt etwas ratlos? Warum greifen die Außerirdischen nicht ein und helfen uns?
Judith Momo Henke
Padgett Powell: Roman in Fragen (The Interrogative Mood. A Novel?). Aus dem amerikanischen Englisch von Harry Rowohlt. Berlin Verlag 2012. 192 Seiten. 17,90 Euro.