Geschrieben am 28. März 2012 von für Bücher, Litmag

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt

Zu Hause in der Fremde

Maria „Mascha“ Kogan ist das Gegenteil eines Typus. In erster Linie ist sie ein menschliches Mosaik, zusammengesetzt aus unterschiedlichsten ethnischen Teilchen: Im sowjetisch geprägten Baku geboren, in Frankfurt aufgewachsen. Sie beherrscht Russisch und Aserbaidschanisch. Sie ist jüdisch, aber nicht religiös. Sie studiert Arabisch und spricht kein Hebräisch. Dass die richtige Aussprache eines Wortes über Leben und Tod entscheiden kann, lernt sie während der ethnischen Konflikte in Aserbaidschan. Sprache wird ihr Aushängeschild, ihre Bank. Von Ludmilla Weber. (Ein Videogespräch mit der Autorin finden Sie hier).

Als jemand, der sich in unterschiedlichen Kulturkreisen zu Hause fühlt, der unterschiedliche Mentalitäten in sich vereint, ist Mascha süchtig nach einer anthropologischen Erklärung für jene Unterschiede. Diese Sucht bringt sie auf Reisen durch ganz Europa. Mascha möchte bei der UNO als Dolmetscherin arbeiten. Sie fühlt sich allem verbunden und weiß doch nicht, wo ihr Zuhause liegt. Ihren deutschen Freund nennt sie zärtlich Elischa, die russische Variante von Elias. Während eines Fußballspiels bricht er sich den Oberschenkelknochen und stirbt an den Folgen der Verletzung. Mascha lernt darauf hin für ihr Studium noch härter, um die „Leere in ihr mit Vokabeln zu füllen“.

Schließlich treibt sie die Trauer fort aus Frankfurt nach Israel, wo sie als Übersetzerin arbeitet. Dort ist sie eine Deutsche und gilt als unsolidarisch. Gern würde sie arabisch sprechen, die Muttersprache von Sami, ihrer ersten Liebe. Es verschlägt sie nach Palästina und sie lernt beide Seiten des Konflikts kennen. Der Kriegszustand ruft ihre traumatischen Erlebnisse aus Aserbaidschan wach. Die Gegenwärtigkeit von ethnischen Konflikten schwebt über dem Roman. Überall, wo sie hingeht, wird sie als die wahrgenommen, die fremd ist. Es scheint, als stünde sie immer zwischen Fronten, im Bewusstsein niemals wählen zu können. Das Gefühl der Unzugehörigkeit wird mit Maschas Assoziationen an den Lebensalltag, an die Landschaften oder Erinnerungen an andere Länder sensibel dargestellt und somit greifbar.

Mascha ist eine Figur, die ausschließlich aus Interkulturalität zu bestehen scheint. Das Fremdsein und der Migrationsprozess formen sie zu einer dynamischen und eigensinnigen Person. Ihren internationalen Freundeskreis hat sie ihrer weltoffenen Haltung zu verdanken. Jeder Charakterzug steht in Verbindung mit ihrer Herkunft, ihren kulturellen Wurzeln, sodass man sie nur darüber definieren kann.

Dies sind ganz bewusst und gekonnt eingesetzte Leerstellen. Man erfährt nicht, wie Mascha genau aussieht, obwohl man sie sich in den verschiedenen ethnischen Eigenarten vorzustellen wünscht. Flüchtige Andeutungen wie hohe Absätze, das Betonen ihres ausgeprägten Körpergefühls oder die Reaktionen, die sie auf Männer ausübt, reichen aus, um ein Bild von ihr entstehen zu lassen. Das Thema der Körperlichkeit und Nähe zieht sich durch den Roman und stellt einen Gegenpol zum fehlenden Heimatgefühl dar. Mascha sucht ihre Heimat in den Menschen, die sie trifft und lieben lernt.

Stellenweise entsteht aber der Eindruck, dass der Roman deutlich auf eine Verfilmung hin geschrieben wurde. Die Dialoge sind aalglatt und muten streng choreografiert an, man hat da sofort das Bild von Fatih Akin und Grjasnowa auf dem Roten Teppich vor sich.

Olga Grjasnowa gibt keine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Weg, mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit umzugehen, sie stellt dieses Gefühl dar, und zwar auf eine insgesamt sehr authentische und beeindruckend menschliche Weise.

Ludmilla Weber

Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Hanser Verlag 2012. 288 Seiten. 18,90 Euro. Ein Videogespräch mit der Autorin finden Sie hier.

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