Grandioses Debüt
– Mit einem grandiosen Debüt lässt der junge US-Amerikaner Nick Dybek aufhorchen: In „Der Himmel über Greene Harbor“ erzählt er auf mitreißende Weise vom Erwachsenwerden und dem Ende der Unschuld auf der abgeschiedenen Halbinsel „Loyalty Island“ im Bundesstaat Washington.
Dybeks Protagonist und Ich-Erzähler ist der 14-jährige Cal, der die Romane von Robert. L. Stevenson und die frei weiterfabulierten Geschichten seines Vaters rund um Käpt’n Flint liebt. Sein Vater ist Fischer wie bereits Generationen seiner Vorfahren und seine Mutter ist aus dem sonnigen Kalifornien in die Aura der Einsamkeit dieses unwirtlichen Landstrichs zugezogen. „Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang […] Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen.“ Ein Kellerstudio mit einer riesigen Plattensammlung bietet Cals Mutter einen immer öfter genutzten Rückzugsort von dieser ihr immer fremd bleibenden Fremde.
Ebenso wie Cals Vater leben auch alle anderen Menschen auf Loyalty Island vom Fisch- und Krabbenfang im hohen Alaska. Jahr für Jahr sind die Väter auf der großen Flotte des Inselpatriarchen Gaunt für sechs lange Monate auf hoher See. Tag für Tag riskieren sie bei diesem Knochenjob ihr Leben und sind den Naturgewalten mit Kälte, Sturm und meterhohen Brechern ausgesetzt. Doch ihre Existenz gerät in Gefahr, als der alte Gaunt stirbt und sein Sohn Richard droht die Flotte zu verkaufen.
Bruchstückhaft bekommt Cal in diesen Tagen mit, wie die Fischer Pläne schmieden, um den Verkauf zu verhindern. Und kaum ist die Flotte ausgelaufen, erreicht die auf Loyalty Island Zurückgebliebenen die Nachricht, dass der Erbe über Bord gegangen und ertrunken ist: „Für jeden auf Loyalty Island war sein Tod eine ausgesprochen glückliche Tragödie.“
Die Nachricht vom Tod Richards und eine erschütternde Entdeckung stürzen Cal und seinen Freund Jamie in ein existenzielles Dilemma: Was haben ihre Väter getan und wo stehen sie selbst auf dem irisierenden Spektrum von gut, böse und gerecht? Was ist stärker: ihr moralisches Gefühl oder die familiären Bande und Verpflichtungen? Vor der archaischen Kulisse des fiktiven Fischerorts an der Pazifikküste zeichnet der 1980 geborene Nick Dybek die moralischen Fragen und Verwerfungen von Cal und Jamie sowie deren Verhältnis zu ihren Vätern feinfühlig nach. Dahinter offenbart sich auch der schwelende Konflikt zwischen tiefer Heimatverbundenheit sowie dem Auf- und Ausbruch aus der Enge und Begrenztheit von Loyalty Island.
„Der Himmel über Green Harbor“ ist ein mit verblüffender Souveränität erzählter und atmosphärisch unglaublich dichter Erstling – fast meint man das Salz des Meeres in dieser geradezu gemalten Prosa voller Sinnlichkeit und Dynamik zu riechen. Von Seite zu Seite steigert Nick Dybek dabei die psychologische Spannung und lässt den Roman zu einem rundum gelungenen „Pageturner“ mit Tiefgang werden.
Karsten Herrmann
Nick Dybek: Der Himmel über Greene Harbor
. Aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth. mareverlag. 320 Seiten. 19,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und zum Autor. Zur Leseprobe. Autorenfoto: © Melissa Blackall.