Geschrieben am 15. Dezember 2010 von für Bücher, Litmag

Moshe Zuckermann: „Antisemit!“ – Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument

Die Banalisierung des Bösen

– In „Antisemit!“ kommt Moshe Zuckermanns Verzweiflung über die israelische Politik genauso zum Ausdruck wie seine Empörung über die Instrumentalisierung des Antisemitismus zum herrschaftlichen Bekenntnis in Israel und Deutschland. Von Elfriede Müller

Moshe Zuckermann legt in seinen Texten und Stellungnahmen immer Wert darauf, Kritik an den herrschenden Verhältnissen auf den jeweiligen Kontext zu beziehen. Sein 1998 erschienenes Buch „Zweierlei Holocaust: der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands“ setzte ideologiekritische Maßstäbe für die Diskursanalyse israelischer und deutscher Gedenk- und Erinnerungspolitik. Zwölf Jahre später hat sich die realpolitische Situation in Israel zuungunsten einer Lösung des Nahostkonflikts verschärft. Schlimmer noch, die seit 1949 rechteste Regierung des Landes bedroht nicht nur die fragilen zivilgesellschaftlichen Elemente der palästinensischen Autonomiegebiete, sondern zerrüttet auch die israelische Demokratie, von der die Palästinenser sowieso immer ausgeschlossen waren.

Mit seinem neuesten Buch „„Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ setzt Zuckermann seine Überlegungen fort, die er in „Zweierlei Holocaust“ entwickelt hatte. Seine Verzweiflung über die israelische Politik kommt darin genauso zum Ausdruck wie seine Empörung über die Instrumentalisierung des Antisemitismus zum herrschaftlichen Bekenntnis in Israel wie in Deutschland. Im Zentrum seiner Argumentation steht das in beiden Ländern konstitutive gesellschaftliche Gewaltverhältnis. Mit seiner politisch-intellektuellen Stellungnahme zum Nahostkonflikt, die vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule argumentiert, setzt sich Zuckermann zwischen alle herrschenden Stühle.

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Israel und Deutschland. Ausgehend von der Behauptung, dass der konstruierte Zusammenhang von Zionismus, Israel, Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt noch nie so stark instrumentalisiert und missbraucht wurde wie im ersten Jahrzehnt dieses neuen Jahrhunderts, analysiert Zuckermann diese Instrumentalisierung in Israel und Deutschland gleichermaßen. Die Struktur des Buches lässt zu wünschen übrig, das Konzept und die Arbeitsweise von Moshe Zuckermann hätten in der Vorbemerkung erläutert werden müssen. Dies hätte das Lesen erleichtert. Zu viele und zu lange Zitate aus der israelischen und deutschen Tagespresse wären besser gestrichen worden zugunsten der theoretischen Grundlagen, die darauf hinweisen, dass der Autor Geschichte und Philosophie nicht nur lehrt, sondern sie auch zur Analyse aktueller politischer Verhältnisse nutzt.

Zwei-Staaten-Lösung kaum möglich

Moshe Zuckermann

Zuckermanns komparativer Ansatz macht deutlich, dass ein linker Diskurs, der für eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt, sich heute in Israel kaum durchsetzen kann. Er beschreibt die wechselnde ideologische Bedeutung des Antisemitismus für den Zionismus, einen Nationalismus, der gegen den Antisemitismus in Europa geboren wurde. Und erwähnt, wie israelische Regierungen über Generationen hinweg die Überlebenden der Shoah vernachlässigt haben, was auch mit dem schwierigen Verhältnis der nach der Shoah eingetroffenen Überlebenden mit dem Kollektiv der Alteingesessenen zu tun hat. Zuckermann schildert eine Reihe von Details über den Aufbau des jüdischen Staates, die im Widerspruch zur zionistischen Ideologie stehen und hierzulande wenig bekannt sind.

Er unternimmt Diskursanalysen von Reden israelischer (Netanjahu) und deutscher (Merkel) Politiker und spricht die Gefahr eines innerisraelischen Bürgerkriegs an, falls die Regierung sich doch noch dazu entschließen sollte, die Siedlungen im Westjordanland zu räumen. Zuckermann wendet sich gegen die unzulässige Gleichsetzung von Juden und Israelis und führt die heutige Feindschaft zwischen Arabern und israelischen Juden auf den politischen und territorialen Konflikt zurück, der zwar historisch gewachsen, aber politisch überwindbar ist im Vergleich zum eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Das israelische Pendant zur religiös fundamentalistisch ausgerichteten Hamas ist die bewaffnete Minorität der Siedler, die staatlich nicht mehr zu kontrollieren ist und deren Alltagsrassismus alle Bereiche der israelischen Gesellschaft prägt.

Zuckermann sieht eine Lösung der Misere Israels nur im Frieden, durch eine soziale und politische Praxis in friedlichem Zustand. Dabei beklagt er die Schwäche der israelischen Linken, mithin das Fehlen einer notwendigen Alternative zur innen- wie außenpolitischen Realität. Zuckermann macht die 43 Jahre währende Okkupationspolitik für die Verhinderung einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts verantwortlich.

Die Paralyse der deutschen Linken

In der deutschen Debatte erkennt Moshe Zuckermann mehr Befindlichkeiten als politische Beweggründe, wie z. B. das Verlangen sich eine Identität zu borgen, die es vom Täterbewusstsein geprägten Individuen ermöglicht, sich als Opfer zu begreifen. Angefangen mit der Walser-Bubis Debatte bis zu den selbsternannten Antisemitenjägern, deren Philosemitismus vor allem den linken Antisemitismus im Visier hat und deren Bekenntnis zu Israel sich als Fetisch erweise, bei dem nicht nur die israelische Realität ignoriert würde, sondern „Juden und Judentum abstrahiert werden, um nur noch als Kitt für die losen Bestandteile des politisch korrekten Lippenbekenntnisses von Deutschen herzuhalten“. Die Paralyse der deutschen Linken ist Zuckermann zufolge auch ein Ergebnis ideologischer Auseinandersetzungen, die nichts mit der sozialen und politischen Realität zu tun haben.

Zuckermann hebt die Notwendigkeit der Bekämpfung des realen Antisemitismus hervor, sieht aber in der fetischisiert-ideologischen Erstarrung des ehemals kritischen Impulses eine Banalisierung des Bösen, d. h. eine Trivialisierung des Antisemitismus. Dazu gehört, Israel nur als Abstraktum wahrzunehmen, während aus den Worten des Autors eine ernsthafte Sorge um die Zukunft von Israel und Palästina spricht, die ihn zur vorgelegten Kritik an Israels Handhabung des Konflikts bringt. In einem leidenschaftlichen Schlusswort mahnt er, von der „regressiven Bewältigung der Vergangenheit“ abzulassen, die Menschen nach der nationalen Zugehörigkeit, dem religiösen Bekenntnis oder der ethnischen Herkunft beurteilt.

Elfriede Müller

Moshe Zuckermann: „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Wien: Promedia 2010. 208 Seiten. 15,90 Euro. Eine Vorlesung (Video) von Moshe Zuckermann finden Sie hier.