Geschrieben am 23. Juli 2014 von für Bücher, Litmag

Mia Couto: Jesusalem

Couto_jesusalem»Glück ist eine Frage des Zielens.« (67)

Doris Wieser über die poetische Welt des Mia Couto.

Der Mosambikaner Mia Couto gehört zu den derzeit renommiertesten Schriftstellern der portugiesischsprachigen Welt. Sein mittlerweile rund 25 Bände umfassendes Werk, bestehend aus Lyrik, Erzählungen, Romanen, Essays und Kinderbüchern, wurde mit zahlreichen hochkarätigen Preisen ausgezeichnet, allen voran dem Prémio Camões 2013 (der „portugiesische Nobelpreis“) und jüngst mit dem Neustadt-Literaturpreis 2014. Seine Werke waren bisher in Deutschland wenig bekannt, da nur vereinzelt Übersetzungen vorlagen, doch 2014 wird sein Jahr: Es erscheinen sogar drei seiner Romane auf Deutsch. Neben „Jesusalem“ (Wunderhorn) auch „Das schlafwandelnde Land“ (sein wohl berühmtestes und am häufigsten untersuchtes Werk) und „Das Geständnis der Löwin“ (beide beim Unionsverlag).

Welten des Schmerzes: »Sehnsucht heißt hoffen, dass das Mehl wieder zum Korn wird.” (56)

Die literarische Welt des Mia Couto ist hoch poetisch und voller afrikanischer Spiritualität, Erdverbundenheit und uralter Weisheiten; sie ist jedoch auch eine Welt der Gewalt, Ungerechtigkeit und Armut, eine Welt des Schmerzes und des Trauerns. Viele dieser Themen teilt António Emílio alias „Mia“ Couto mit seinen Schriftstellerkollegen Paulina Chiziane, João Paulo Borges Coelho, Ungulani Ba Ka Khosa und anderen, die Geschichten aus dem Herzen eines von Kriegen und Armut gebeutelten Landes erzählen, das erst 1975, im Jahr nach der portugiesischen Nelkenrevolution (die sich heuer zum 40. Mal jährte), seine Unabhängigkeit erklären konnte, und dessen ethnische und linguistische Zusammensetzung – abgesehen von den rudimentären Verkehrsverbindungen – bis heute ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl erschweren. Das Panorama der hierzulande noch zu entdeckenden mosambikanischen Literatur führt uns in eine extrem faszinierende Realität, in der immer wieder dieselben Pole miteinander in Widerstreit treten: afrikanische Tradition und Spiritualität versus europäisch-portugiesische „Modernität“ und Rationalität, koloniale Vergangenheit vs. post-koloniale Gegenwart; ein nicht in allen Lebensbereichen überwundener Rassismus zwischen Schwarz, Weiß und den Schattierungen dazwischen. Außerdem geht es häufig um die vielschichtigen Unterdrückungsmechanismen, an denen die Frauen insbesondere in den patriarchalisch geprägten Ethnien südlich des Sambesi leiden, womit ein Gegensatz zum mutterrechtlich geprägten Norden aufgemacht wird.

Jesusalem

All diese Spannungsfelder sind Teil der fiktionalen Welten Mia Coutos. Mit dem Titel des Romans „Jesusalém“ spielt Mia Couto nicht nur auf die umkämpfte Heilige Stadt der Juden, Christen und Moslems und damit auf eine verfahrene, schier unlösbare Situation an. Nur einen Buchstaben hat der Mosambikaner ausgetauscht und damit im Portugiesischen die Bedeutung des Wortes vollständig verändert. „Jesus – além“ ist der Ort, an dem Jesus außen vor bleibt, nämlich im „além“ im „Jenseits“ seiner engen Grenzen; ein Ort, den Gott vergessen hat bzw. dessen Einwohner sich von Gott verlassen fühlen. So wird das provisorische Lager abseits aller Verkehrswege irgendwo in Mosambiks Landesinnerem von einem großen Kreuz überragt. Darüber prangt statt der INRI-Tafel ein Willkommensschild, das den an den Sünden der Menschen schuldigen Gott zum Eintreten auffordert. Ein Friedensangebot – doch Gott kommt nicht.

»Nicht leben, das macht am meisten müde.« (50)

Silvestre Vitalício hat das verlassene Militärlager als Rückzugsort gewählt und getauft, genauso wie er all die anderen Einwohner beim Einzug in mit einem neuen Namen bedacht hat: seinen Sohn Ntunzi, den ausgedienten Soldaten Zacaria Kalash(nikow) – der als Schwarzer im portugiesischen Heer immer auf der „falschen Seite“ gekämpft hat – und seinen Schwager Aproximado, der die einzige Brücke zum Rest der Menschheit darstellt und die Einsiedler mit Waren versorgt. Einzig Mwanito („kleiner Junge“ auf Chissena), der jüngere Sohn und kindliche Ich-Erzähler, darf seinen Namen behalten, da er keine Erinnerung an seine Vergangenheit hat. Unter den Aussiedlern weilt auch die Eselin Jezibela als einziges weibliches Wesen und unfreiwillige Geliebte des selbsternannten und despotischen Diktators auf Lebenszeit („vitalício“ bedeutet wörtlich „lebenslänglich“)

In Jesusalem verflechten sich die Kategorien des Raumes und Zeit zu einem fragilen Chronotopos, der eine Insel auf dem Festland bildet, umgeben von gefährlicher Wildnis und Trockenheit, abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft; ein Gefängnis auf Zeit für den rebellierenden Ntunzi, den die Erinnerungen an die Welt „Da-draußen“ und seine Mutter plagen; ein einzig auf die Gegenwart seiner Einwohner ausgerichteter eigener Staat für Silvestre Vitalício, der aus dem Lauf der Zeit aussteigen will, um seinen eigenen (Un)Taten zu entrinnen.

»Es war der schlimmste böse Blick, den es gibt: der, den wir gegen uns selbst richten.« (49)

Mia Couto baut seine Romane für gewöhnlich auf Rätseln auf, die die Handlungen der Personen geheimnisvoll erscheinen lassen, und setzt eine Figur ein (hier den Ich-Erzähler Mwanito), die sich diese Rätsel nach und nach erschließt und auf diese Weise Zugang zu ihrer eigenen Geschichte und Identität findet. So steckt auch hier das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen voller Geheimnisse. Die Gründe für Silvestres Rückzug aus Raum und Zeit bleiben dem Leser lange verborgen, ebenso wie der Grund für sein sektenartiges Regiment, das sich zum Ziel setzt, Außeneinflüsse von seinen Söhnen fernzuhalten und ihnen auferlegt, vor dem Schlafengehen, in einem obskuren Ritual die Erde zu umarmen.

Die zerbrechliche Ordnung Jesusalems wird jedoch durch die Ankunft der, ebenfalls von Geheimnissen umgebenen Portugiesin Marta gestört. Über die heimliche Lektüre deren Tagebücher erhält Mwanito Zugang zu ihrer Vergangenheit…

»Wut ist nur eine andere Form von Weinen.« (58)

Silvestre ist nicht bereit, Trauerarbeit zu leisten, eine Trauerarbeit, die nicht nur er persönlich, sondern auch der Kriegsgeschädigte Kalash und mit ihnen die ganze Nation bitter nötig hätten. Aber über Mosambiks Bürgerkrieg, der erst 1992 beendet wurde, möchte im Alltag bis heute niemand gern sprechen. Wie so oft bleibt die Aufarbeitung den nachfolgenden Generationen überlassen, die, wie Mwanito, die Geschichte ihrer Eltern verstehen müssen, um selbst leben zu können. Doch letzten Endes scheitert Silvestres Versuch, die Vergangenheit auszulöschen.

Besonders gelungen ist außerdem die Umrahmung aller Kapitel durch wunderschöne Gedichte einiger der bekanntesten portugiesischsprachigen Dichterinnen: Hilda Hilst, Sophia de Mello Breyner Andresen und Adélia Prado sowie der Chilenin Alejandra Pizarnik. Dass alle Gedichte aus der Feder von Frauen stammen (bis auf das vorangestellte Motto von Hermann Hesse), scheint kein Zufall zu sein. Die Dichterinnen treten auf indirekte Weise mit den männlichen Romanfiguren in Dialog, so dass der Roman entgegen eines möglichen ersten Eindrucks im Kern nicht die Verarbeitung von Männerschicksalen behandelt, sondern vielmehr die enge Verbindung der Lebenswege der Männer in einer stark patriarchal geprägten Gesellschaft (der Mosambiks und durch Marta auch der Portugals) mit den Lebenswegen ihrer allzu häufig durch physische Gewalt unterdrückten Frauen. So wird sichtbar, wie sehr auch der Mann in einem Rückkoppelungseffekt unter der Unterdrückung der Frau leidet, unter der strengen Familienhierarchie, Konzepten von Ehre und Männlichkeit, die letztendlich zu Silvestres Wahnsinn und seiner Flucht aus dieser Welt führen.

»Die Wahrheit ist traurig, wenn es nur die eine gibt. Noch trauriger, wenn ihre Hässlichkeit nicht durch die Lüge abgemildert wird.« (147)

Für Mia Coutos Literatur kann man eigentlich nur schwärmen. Sie besticht nicht nur durch spannende, mit geduldiger Empathie erzählte Geschichten, die von profundem kulturellem und historischem Wissen zeugen, sondern vor allem auch durch eine zutiefst poetische Sprache, eine ungewöhnlich dichte Bildlichkeit und eine sorgfältig durchdachte Sprachökonomie. Mia Couto: ein Ausnahmetalent von atemberaubender Kreativität.

Doris Wieser

Mia Couto: Jesusalem. (Jesusalém 2009). Aus dem Portugiesischen von Karin Schweder-Schreiner. Wunderhorn, 2014. 260 Seiten. 24,80 Euro.

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