Wie kreieren wir das, was wir als unser Leben begreifen?
– Mit dem Roman „Drei starke Frauen“ gewann die französische Autorin Marie NDiaye 2009 den wichtigsten französischen Literaturpreis, jetzt ist ihr poetisches, alle Erwartungen unterlaufendes „Selbstporträt in Grün“ auf Deutsch erschienen, das Carola Ebeling für uns gelesen hat.
Rätselhaftigkeit bestimmt die Atmosphäre in Marie NDiayes neuem Buch von Anfang an. Die Ich-Erzählerin erkennt ihre Freundinnen nicht wieder; unter einer Bananenstaude glaubt sie eine grün gekleidete Frauen zu sehen – für ihre Kinder ist diese unsichtbar, für sie selbst aber real. Das wirkt umso verstörender, als dass von diesem Unfassbaren im gleichen Ton wie vom Alltagsgeschehen erzählt wird. Was also ist real hier?
Es ist NDiayes schöne und klare Sprache, die einen mitnimmt – und bald wird deutlich, dass es genau darum geht, um die existenziellen Fragen nach den Möglichkeiten unserer Wahrnehmung. Was entspringt darin unseren Vermutungen, Wünschen, Hoffnungen? Was unseren Erfahrungen, den vermeintlichen Erinnerungen daran und den Spuren, die dadurch in uns gelegt sind? Wie kreieren wir daraus das, was wir als unser Leben begreifen?
Feinfühlige Beobachterin
Die Ich-Erzählerin wird weiteren „grünen Frauen“ begegnen – Frauen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle einnehmen, zugleich Pfeiler und Verunsicherungen ihrer Identität darstellen. So kann die Mutter zu einer Frau in Grün werden, die frühere beste Freundin. Sie sind real und zugleich höchst subjektive Wahrnehmung der Protagonistin: Sie stehen für deren Konflikte, für kaum selbst gewusste Fragen oder Widersprüche. Für einen nicht rationalen Zugang zum Leben – und in all dem sind sie für die Erzählerin lebensnotwendig.
NDiaye hält dabei die Waage zwischen zuweilen kryptischem und sehr konkretem Erzählen. Der Roman verfolgt keine Handlung, erzählt aber miteinander zusammenhängende Geschichten, deren Zentrum die Ich-Erzählerin und ihre grünen Frauen bilden.
Nachdem Marie NDiaye für ihren Roman „Drei starke Frauen“ mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, erweist sie sich auch mit diesem kleinen „Selbstporträt in Grün“, das alle Erwartungen an ein Selbstporträt so absichtsvoll unterläuft, als außerordentliche Autorin: Sie verbindet Existentielles mit Leichtigkeit, nimmt Schweres in ihrem poetischen Erzählfluss mit und ist eine ebenso feine wie feinfühlige Beobachterin.
Carola Ebeling
Marie NDiaye: Selbstporträt in Grün (Autoportrait en vert 2005). Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Arche Verlag 2011. 128 Seiten 18,00 Euro. Foto: picture alliance/maxppp/Theillet Laurent