Überraschungen, Gegensätze und die Kraft des Wortes
–Christiane Quandt über die Anthologie „Wenn der Hahn kräht“, die zwölf Geschichten von brasilianischen Autorinnen versammelt und sich als eine wahre Schatzkiste entpuppt.
Auf der Frankfurter Buchmesse 2013 wurde die Vielfalt des Gastlandes Brasilien beeindruckend unter dem Motto „Brasilien – ein Land voller Stimmen“ inszeniert. Hier erfuhr man auch von den diversen Anthologien brasilianischer Erzählungen, die die Metapher der Stimmenvielfalt gar trefflich illustrieren und die, für und durch die Buchmesse übersetzt und herausgegeben, pünktlich im Oktober 2013 vorlagen. Diese Sammlungen sind zwar recht unterschiedlich konzipiert, doch haben sie, bis auf „Wenn der Hahn kräht“, eines gemeinsam: der Anteil an Texten von Autorinnen ist geringer als die Hälfte.
Und das ist nicht erst seit Kurzem so, wie die beiden Herausgeberinnen Wanda Jakob und Luísa Costa Hölzel auf der Buchmesse selbst verdeutlicht haben. Nach Vorbild des brasilianischen Autoren Luis Ruffato, der bereits in Brasilien zwei Anthologien mit Erzählungen ausschließlich von Verfasserinnen herausgegeben hat, haben sie also für den deutschen Markt eine wahre kleine Schatzkiste zusammengestellt, um der hier zählbaren männlichen Dominanz entgegen zu wirken. Die durchaus existierenden und teils bereits bekannten (und ins Deutsche übersetzten) weiblichen Stimmen sind nun also auch für die deutschen Leser zugänglich.
Vielfältige Stimmen
Zwölf Geschichten sind hier versammelt, jede einzelne eröffnet ein kleines Universum, das je einen Teil der brasilianischen Literatur-Welt beeindruckend, erschreckend, atemberaubend, verblüffend, oder befremdend in Szene setzt. Vom Schulmädchen mit pubertären Phantasien über junge Frauenfiguren in den verschiedensten Lebenslagen bis hin zur Greisin, die sich wohlgemut aufs Sterbebett legt, treffen wir auf einen bunten Fächer an Figuren.
Doch nicht nur altersmäßig findet sich so Einiges vertreten, die Autorinnen wagen sich auch an die unterschiedlichsten eth(n)ischen, sozialen und geographischen Konstellationen. Während in der Erzählung Schach von Paula Taitelbaum eine Heranwachsende mit den besten Absichten und kontroversem Erfolg versucht in das Liebesleben ihrer Haushälterin einzugreifen, werden die beiden Teeniemädchen in Cecilia Gianettis Ana und Letícia brutal mit den Abgründen der Erwachsenenwelt konfrontiert. Ob Tante Joanas „Glückszauber“ mit dem Steak Anas Vater verführt, sei dahingestellt – jedenfalls behauptet sich die junge in die Ecke gedrängte Augenzeugin Letícia und weiß ihr Wissen im rechten Augenblick zu nutzen.
Am inneren Konflikt das Wissen zweier Welten in sich zu vereinen scheint die Protagonistin in der Erzählung Zezé Sussuarana von Beatriz Bracher schwer zu tragen. Die Liebe zu einem Linguisten, der aus wissenschaftlichem Interesse in die „Quilombola“ ihrer Familie kommt, um die Sprache der Nachfahren ehemaliger Sklaven zu erforschen, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Eine andere Liebe allerdings zeigt sich in Meine Süße von Livia Garcia, eine brutale, monodirektionale, dominante männliche Liebe, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdient. Beeindruckend illustriert hier die literarische Form des Monologs die Sprach- und Machtlosigkeit des weiblichen Objekts und Opfers, das sich, jedenfalls in dieser Erzählung, nicht behaupten kann.
Eine körperliche, sexuell aufgeladene Form der Selbstbehauptung wählt die Protagonistin Larissa in der Erzählung Auf offener Straße von Tércia Montenegro: sie zieht ihre Bluse aus und zwar während sie den Oberkörper aus dem Dachfenster einer Limousine streckt. Sie erlebt einen Augenblick der Freiheit und der weit genug entfernten anerkennenden männlichen Blicke inmitten eines wenig freien Lebens. Eine etwas andere Freiheit nimmt sich Andrea del Fuegos namenlose Protagonistin in Eine Million Mal. Sie fabuliert, lügt wie gedruckt, saugt sich eine Geschichte aus den Fingern, die sie als die eigene verkauft, um die eigenen Chancen in einer Fernsehsendung mit Preisausschreiben zu erhöhen. Auch in Gertrudes und ihr Mann von Augusta Faro fabuliert die zugereiste Gertrudes sich einen Mann zusammen, duftend und wunderschön – doch da er anstrengende Reisen unternehmen muss, ist er nur schlafend anzutreffen. In köstlicher Referenz an E.T.A. Hoffmann wird das Mysterium des duftig Schlafenden schließlich gelöst.
Ein anderes Mysterium, nämlich die Erkrankung der Klientinnen von Rosália, die in Bazille von Ana Paula Maia den Leuten die Nägel macht, löst die Erzählung auf. Die gnadenlos und doch humorvoll präsentierte Brutalität dieser jungen Autorin offenbart sich auch hier auf nur vier Seiten in beeindruckender Weise. Das Mysterium in Hunger und Esslust von Cíntia Moscovich, das ebenso koschere Essgewohnheiten und –restriktionen wie das epidemische Aufkommen von Essstörungen augenzwinkernd in den Blick nimmt, gibt dieser Erzählung das Körnchen Salz und erfreut durch Vermischung von Traum, Magie und Realität.
Ein ganz anderer Zwischenzustand allerdings wird in Tatiana Salem Levys Vertane Zeit thematisiert. Die Protagonistin verabschiedet sich hier von einem der Tausenden Verschwundenen Brasiliens, mit dem sie gemeinsam im Widerstand gegen die Militärdiktatur gekämpft hat und der nun, zwei Ehemänner und fast vier Jahrzehnte später, endlich begraben wird. Um Abschied geht es auch in der titelgebenden Erzählung Wenn der Hahn kräht von Claudia Lage. Eine alte Dame spürt, dass ihr letzter Tag gekommen ist und rechnet ab. Sie gönnt sich ein letztes Festmahl, um glücklich aus dem Leben zu scheiden, denn wer hätte gedacht, dass der Tod so hungrig macht!
Dem Tod von der Schippe springt die Frau aus dem Volk bei Ivana Arruda Leite, die in einer öffentlichen Klinik im Fünfbettzimmer lernt, dass die Mauer zwischen Arm und Reich aus wenig mehr als Angst gemacht ist und sie sich nicht zwingend hinter ihren Büchern verstecken muss, um zu überleben. Trotzdem ist sie froh, als sie wieder zu ihrer Familie und ihrer Hündin nach Hause zurückkehren kann. Eine Woche später werden die Fäden gezogen.
Zwölf aufregende Erlebnisse
Die zwölf Fäden, die die Herausgeberinnen hier zu einem Ganzen verknüpfen, erweisen sich als wahre Goldstücke und die Sorgfalt bei der Auswahl der Texte setzt sich fort bei der Auswahl der Übersetzerinnen, die allesamt großartige Arbeiten abgeliefert haben. Jede der Geschichten eröffnet eine eigene Welt, mehr oder weniger ‚typisch‘ brasilianisch, doch alle authentisch in ihrer literarischen Qualität. Die Texte beeindrucken durch sehr unterschiedliche und gewitzte literarische Strategien – es finden sich Tagebuchformate, Monologe, Dialoge, Interviewstile, Bewusstseinsströme und vieles mehr, was im jeweiligen Fall nicht besser eingesetzt hätte werden können.
Drei Erzählungen waren in meinen Augen besonders beeindruckend: Bazille wegen der ungeschminkten und willkürlichen Brutalität der Protagonistin, die ohne recht zu wissen, was das überhaupt ist, willentlich und wissentlich und aus keinem erkennbaren Grund das Hepatitis C-Virus verbreitet. Hunger und Esslust aufgrund des humorvollen Umgangs mit (krankhaftem) Essverhalten, und das in Verbindung mit religiös motivierten Restriktionen (das hat schon ganz subversives Potenzial) und schließlich Meine Süße, weil man die männliche Stimme förmlich hören kann beim Lesen und weil man diese schreckliche Geschichte so gut kennt und sie doch noch einmal ganz anders und ganz neu erzählt wird.
Beim Lesen habe ich nicht selten vergessen, dass ich eine Anthologie von AutorInnen in Händen halte, genauso gut hätte die Auswahl nicht geschlechtsspezifisch sein können. Dazu passt auch der Impetus der Herausgeberinnen, die auf die durch Unterrepresentation unsichtbare literarische Qualität dieser Texte aufmerksam machen wollten und dies mit dem größten Erfolg auch tun. Allerdings verweisen der rote Stoffeinband mit der Madonnenfigur zusammen mit der rosafarbenen Banderole, womöglich ironisch, auf das Prädikat „Frauenliteratur“. Ob Frauenliteratur oder nicht: Ergebnis kann sich lesen lassen!
Christiane Quandt
Luísa Costa Hölzl, Wanda Jakob (Hg.): Wenn der Hahn kräht. Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien. Erzählungen. Edition fünf 2013. 160 Seiten. 18,90 Euro.