Geschrieben am 6. April 2011 von für Bücher, Litmag

Litmag-Quickies

Kurzrezensionen – diesmal mit Ela Angerer, Paula Fox, Bernadette Conrad, Birgit Schönau und Wolfgang Petermann; besehen von Senta Wagner (sw), Christina Mohr (cm), Carl Wilhelm Macke (cwm) und Frank Schorneck (fs).

Gemütlich ist das Leben der anderen

(sw) – Meine Freunde sind wieder da! Die mit den modernen Nerven, die die in ihrem Leben schon mal ganz tief unten waren – zugedröhnt, fix und fertig, super pleite. Buchreihen haben was Verlässliches an sich. Ela Angerer hat jetzt beim Czernin Verlag ihren zweiten Band der Reihe Moderne Nerven herausgegeben: „Brennstoff“. Könnte in Aussehen, Umfang und Inhalt beinahe das Double der ersten Textsammlung „Abwärts“ sein. Meinetwegen: Das Cover ist düsterer, die Autorenbiografien samt schwächelnden Polaroidschnappschüssen sind ganzseitig abgedruckt, der illustratorische Beitrag stammt von dem Berliner Künstler Manfred Peckl, meine Schreiberfreunde wurden neu zusammengemischt, dennoch ist Nummer zwei immer noch ganz nah dran am Groschenheft, allein bei der Papierqualität.

Bekannt aus dem letzten Band sind Doris Knecht und Christian Schachinger aus Wien. Neu sind neben den ebenfalls in Wien lebenden Autoren Manuel Rubey und David Schalko die Berliner Gesellen Joachim Lottmann und Caroline Wolf sowie Peter Hein, der in Wien und Düsseldorf lebt. Angerer verspricht in ihrem Vorwort „authentische Berichte vom Rande des Nervenzusammenbruchs“. Zur Beruhigung vorab, alle Autoren sind wohlauf, es geht ja nur um den Rand. Schlimmer und gemütlicher geht natürlich immer, diese persönlichen Beichten sind dafür echt, satt und direkt, stürzen über vier bis zwölf Seiten vorwärts, sind roh, irrwitzig, voller Selbstironie und -zweifel. Was die Schreiber aus dem Tritt bringt, das bringt sie weiter im Leben: ihr Brennstoff. Den brauchen sie, der ist da, der ist individuell. Die Texte handeln objektiv von geringeren Fährnissen (Sinnhaftigkeit von Abiturjahrgangstreffen, telefonische Zerreißprobe bei der Cafésuche, die Sache mit dem Ruhm, Interviewreigen mit alternden Promis aus der Musikszene) und groben Übeln (Begegnungen mit Widerlingen und den Schlangen unter den Therapeuten und TV-Wahrsagern, der Tod nebenan). Jedem seinen persönlichen Brennstoff.

Im Herbst erscheint in schöner Folge der dritte Band des Labels Moderne Nerven: „Porno“.

Ela Angerer (Hg.): Brennstoff. Wien: Czernin Verlag 2011. 108 Seiten. 9,90 Euro

Die vielen Leben einer Klassikerin der Moderne

(cm) – Popularität kann ein kapriziöses Tierchen sein: Die 1923 geborene amerikanische Schriftstellerin Paula Fox schrieb jahrzehntelang Buch um Buch, kluge Romane und feinsinnige Kinderbücher. Dennoch blieb sie ein Geheimtipp, nur einem kleinen Leserkreis bekannt.

Bis vor einigen Jahren der aufstrebende Star am Literaturhimmel, Jonathan Franzen, in einem Zeitungsessay ein Loblied auf Paula Fox sang – ganz besonders auf ihren Roman „Was am Ende bleibt“ (2000) („Desperate Characters“, 1970), den er immer und immer wieder gelesen hat. Schlagartig wird Paula Fox berühmt: Fast alle ihre Bücher werden wiederveröffentlicht und weltweit neu übersetzt, sie bekommt Literaturpreise und wird in Talkshows eingeladen. Man bezeichnet sie als Klassikerin der Moderne – völlig zu Recht, aber lange sträflich übersehen.

In Deutschland widmet sich der Verlag C.H.Beck der Verbreitung ihres Werkes; gerade erschienen ist „Die Zigarette und andere Stories“, eine Sammlung von Erzählungen, Prosastücken und Zeitschriftenartikeln. Gerade in der Kurzform offenbart sich Paula Fox’ Gabe der genauen Beobachtung, des sensiblen, herzenswarmen Blickes auf die Welt und die Menschen darin. Paula Fox erzählt nicht geradlinig von einem Anfangs- zu einem Endpunkt hin. Häufig ist es eine zufällige, beinah nebensächliche Begebenheit, die den Anlass zu tieferer Betrachtung gibt, die Dinge ins Rollen bringt und die Geschichte ganz anders enden lässt, als es zunächst den Anschein hat. Oder es gibt gar kein Ende, sondern eine offene Frage, einen neuen Gedanken. Fox ist eine zutiefst moralische Schriftstellerin, doch einen Zeigefinger würde sie nie erheben. Ein besonderes Augenmerk legt sie auf die Lebensumstände von Kindern – gewiss autobiografisch bedingt, denn die Kindheit von Paula Fox war keine einfache: Von den Eltern, einem nur mäßig erfolgreichen Künstlerpaar, als Säugling in ein New Yorker Findelheim gebracht, bei einem Geistlichen aufgewachsen, spätere Odysseen mit der Großmutter durch Kuba und die USA, bis sie sich in New York niederlässt, wo sie auch heute noch lebt.

Quer durch Amerika

Die Biografin Bernadette Conrad hat sich auf Paula Fox’ Spuren begeben, um ihre Wurzeln aufzuspüren – kein leichtes Unterfangen, denn Paula Fox weiß über ihre Kindheit und Jugend nur das, woran sie sich selbst erinnern kann. Ihre Eltern boten ihr kein Heim und so auch keine gemeinsamen Erinnerungen. Conrad trifft Paula Fox’ Tochter und Jonathan Franzen, besucht die Schauplätze von Fox’ Roman „Der Gott der Alpträume“ und trifft sich immer wieder mit Paula Fox und ihrem Ehemann in deren Brooklyner Haus. „Die vielen Leben der Paula Fox“ ist eine detailgenaue Biografie, die sich – dank des engen Kontakts zwischen Biografin und Biografierter – nicht wie viele andere Lebensbeschreibungen in allerlei Vermutungen und Interpretationen ergeht. Alle Rätsel des Fox’schen Lebens allerdings kann auch Conrad nicht lösen, an solchen Stellen denkt sie gemeinsam mit den Lesern nach, stellt Fragen, schweift ab, um doch immer wieder zum Fixpunkt ihrer Überlegungen zurückzukehren: der freundlichen älteren Dame aus Brooklyn, deren Eigenschaft als Großmutter von Courtney Love nur ein winziger Mosaikstein ist in einem der vielen Leben der Paula Fox.

Paula Fox: Die Zigarette und andere Stories. Aus dem Englischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. München: Verlag C.H.Beck 2011. 254 Seiten. 19,95 Euro.
Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox. München: C.H.Beck 2011. 341 Seiten. 19,95 Euro.

Drunter und drüber

(cwm) – Birgit Schönau berichtet vom „italienischen Zirkus“ und beschönigt dabei weder die heutigen italienischen Entwicklungen, noch dramatisiert sie diese einseitig. Von Carl Wilhelm Macke

Italien war vielleicht einmal das große Sehnsuchtsland der Deutschen. Sonne, wunderbare Städte, Kunstdenkmäler ohne Ende, lässiger Lebensstil. Dolce far niente … Doch dieses positiv gefärbte Bild Italiens hat sich inzwischen stark geändert. Man denkt heute an die Mafia, an Korruption, vor allem an Silvio Berlusconi, der das Land jetzt schon seit vielen Jahren mit einem alten Sponti-Spruch zu regieren scheint: „Legal, illegal, scheißegal.“ Und eine erschreckend große Zahl unter den Italienern findet gerade diese Art von Politik großartig.

Keine Frage, es gibt viele, viele Gründe, über die Entwicklung der italienischen Gesellschaft sehr besorgt zu sein. Birgit Schönau, die regelmäßig in der Süddeutschen Zeitung über den italienischen Fußball und in der Zeit über alles andere aus dem „Bel Paese“ berichtet, verschweigt auch nicht in ihrem Buch die vielen unter Berlusconi angehäuften Schweinereien. Ihre Beobachtungen zur Ausbreitung von Korruption und Gewalt im ganzen Land lassen da an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Auch die von ihr beklagte Verkommenheit in Teilen der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes macht die Leser sprachlos. Aber gleichzeitig ist in jedem Abschnitt des Buches auch eine große Liebe der Autorin zum „Zirkus Italien“ spürbar. Immerhin ist der Unterhaltungswert der „großen Politik“ um einige Grade höher als in der langweiligen Merkel-Republik.

Birgit Schönau hat recht: Man kann Italien und seine Menschen nicht verstehen ohne seine immer noch vorhandenen vielen, oft extremen Widersprüche zu sehen. Auch wenn zum Beispiel die offiziellen Institutionen nicht oder nur schlecht funktionieren, gibt es gerade in Italien ein sehr eng geflochtenes Netz der „Zivilgesellschaft“, die von viel freiwilligem Engagement lebt. Der Rassismus ist – leider – überall spürbar, aber gleichzeitig existiert auch bis hinein in die kleinsten Dörfer oft ein starkes, weltoffenes Engagement von Gruppen, die sich für Ausländer einsetzen. Über alle diese Phänomene berichtet die Autorin mit großer Kompetenz und in einem erfrischend lebendigen Stil. Beschönigt wird nichts an den heutigen italienischen Entwicklungen, aber es wird auch nichts einseitig dramatisiert. Trotz alledem: Viva Italia!

Birgit Schönau: Circus Italia: Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie. Berlin: Berlin Verlag 2011. 224 Seiten. 18,90 Euro.

Gefrorene Gefühle

(fs) – Mit seinem beeindruckenden Debütroman „Der Schlaf und das Flüstern“ stellte der MDR-Literaturpreisträger Stefan Petermann 2009 unter Beweis, dass Magischer Realismus auch in junger deutschsprachiger Literatur funktionieren kann. Dass ihm auch die kurze Form liegt, zeigen Beiträge in Literaturzeitschriften wie z.B. Macondo. Nun erscheint unter dem Titel „Ausschau halten nach Tigern“ sein erster Band mit kurzen Erzählungen

In den Texten begegnen wir Außenseitern: Personen, die wegen ihrer Eigenschaften oder Erlebnisse am Rand stehen. Da ist der dicke Junge, der als Wunderkind betrachtet und auf Tauchrekorde gedrillt wird und der so kaum ein besseres Leben führt als der Goldfisch im zu kleinen Aquarium; da ist der Art-Director, der Titelfotos von Magazinen auf Makellosigkeit trimmt und sich nichts mehr wünscht als die Retusche des eigenen verpfuschten Lebens; da ist der Junge, der an die Tafel kommen soll, um im Englischunterricht von seinen Eltern zu berichten – und niemand weiß, dass seine Mutter vor kurzem gestorben ist…

Mit großem Einfühlungsvermögen nähert sich Petermann seinen Figuren. Er bringt sie in Extremsituationen und treibt sie in die Enge. Für manche, wie den jungen Halbwaisen, dessen Geschichte eine Wendung nimmt, die sich wie eine originelle Hommage an den „Club der toten Dichter“ („Käpt’n mein Käpt’n“) liest, gibt es unerwartete Unterstützung, doch andere bleiben in ihrer Verlorenheit gefangen. Mal bleiben die Texte auf dem Boden der Tatsachen, wie zum Beispiel in einer Geschichte über ein Paar, das sich am Rande der Gipfel-Demos in Heiligendamm getroffen hat und in verliebter und gieriger Umklammerung das Weltgeschehen aus den Augen verliert.

In anderen Stories lässt Petermann dagegen magische Momente zu. Besonders gelungen ist „Hager“, der Geschichte, die mit dem MDR-Kurzgeschichtenpreis ausgezeichnet wurde: Ein Mann, der in einem strengen Winter bei offenem Fenster gestorben und daraufhin steif gefroren ist, beobachtet einen fremden Jungen in seiner Wohnung, der sich von der Leiche nicht beeindrucken lässt, sondern mit dieser sogar Gespräche beginnt. Eine unsagbar zarte „Freundschaft“ entspinnt sich zwischen dem Kind und dem Toten. Ein wundervoller Einfall.

Stefan Petermann: Ausschau halten nach Tigern. Erzählungen. Asphalt & Anders 2011. 160 Seiten. 16,90 Euro.