Geschrieben am 25. Mai 2011 von für Bücher, Litmag

Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke …

Flüchtige Sentimentalität der Dinge

– Geben wir es lieber zu, werte Leser, wir sind doch alle Voyeuristen. Wir lesen nicht der edlen Regung wegen, sondern um in fremden Küchen, Wohnzimmern, Betten, Herzen und Unterwäschen herumzuschnüffeln. Gut, manche haben eine noch geradeso geltende Ausrede, sie seien nicht wegen der Beziehungskisten, sondern der Sprache, des Stils wegen im Roman unterwegs. Die noch wenigeren genießen die diplomatische Immunität eines Literaturwissenschaftlers, der sowieso alles lesen kann, darf und muss. Den Rest der Leserschaft interessiert aber eigentlich nur wer mit wem. Und wenn nicht, wieso.

Dazu aber werden die eigenen dunklen Dränge und Triebe auf die Protagonisten projiziert, denn im Grunde genommen interessiert man sich nur für sich selbst, auch wenn es um die anderen geht. Und der Text, als ein Abstraktum, als eine metamorphe Masse, erlaubt es den Lesern, ihre Vorstellungskraft durch eine narzisstische Mimikry missbrauchen zu lassen. Sich selbst wiederzusehen.

Leanne Shapton © Carlos Serrao

Doch dann kommt Leanne Shapton und verwirrt uns, indem sie unserem Ego den nahrhaften Boden unter den Füßen wegzieht. Mit ihrem Roman, der einen unerträglich langen Titel trägt: „Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, Including Books, Street Fashion, and Jewelry“ (http://www.leanneshapton.com/importantartifacts.html) (zu Deutsch: „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck“).

Die Geschichte an sich ist banal und alt wie die Menschheit selbst: Eine Beziehung, die scheitert. Er, Harold Morris, begegnet ihr, Lenore Doolan, auf einer Halloween-Party. Sie werden ein Paar. Sie lieben sich. Sie streiten. Sie brauchen eine Pause. Sie kommen wieder zusammen. Und so endet ihre instabile und wechselhafte Beziehung bei einer Auktion am Valentinstag, dem 14. Februar. Das Auktionshaus Strachan & Quinn Auctioneers versteigert alle persönlichen Gegenstände, die sich während der vierjährigen Beziehung angesammelt haben. Denn der ganze Roman ist nichts anderes als ein Auktionskatalog.

Abbildungen der Artikel und Lose, trockene Beschriftungen mit Preisangaben. Doch dahinter verbergen sich Schicksale. Wie hinter jedem Artikel bei jeder noch so beliebigen Auktion. Wie bei der Versteigerung von Truman Capotes Nachlass, die die Autorin zu diesem Buch inspirierte. Leanne Shapton schafft es, eine Welt zu entwerfen, eine Welt aus Wertsachen. Dabei sind die Wertsachen meistens getragene Schuhe, gelesene Bücher, beschriebene Zettel. Der Leser kann sich nicht mehr im Abstraktum des Textes wiedererkennen, er ist gezwungen, alle seine Sinne zu öffnen, um den Lauf der Dinge zu ergründen. Der Leser interessiert sich plötzlich für die anderen.

Es geht um die sentimentalen Werte der Dinge, wie die Autorin selbst in einem Interview erklärt (höchst sehenswert – vor und nach der Lektüre).

Denn im Laufe des Lebens umgibt man sich mit Gegenständen, auch wenn sie für  Außenstehende völlig alltäglich sind … aber was soll ich Ihnen erklären, werte Leser?

In dem Roman leuchtet die Metaphorik der Auktion durch. Denn die lapidaren Artikel-Angaben werden von anonym-persönlichen Kommentaren begleitet. „Dies ist das erste bekannte Bild, das die beiden gemeinsam zeigt.“ „Ringo war Doolans Lieblings-Beatle; John war Morris‘ Lieblings-Beatle.“ Langsam erkennt man die Charaktere beider Figuren. Man sieht ihre Fotoaufnahmen. Das Visuelle überragt in diesem Roman (den die Autorin selbst als „Liebesgeschichte, erzählt über einen Auktionskatalog“ bezeichnet). Doch die Befürchtung, die Vorstellungskraft wäre dadurch unterbeschäftigt, ist unbegründet – denn hinter den Aufnahmen schimmert eine Welt durch. Hinter jedem Gegenstand verbirgt sich das Schmerzliche, das Fröhliche und alle anderen Komponenten einer Beziehung auf der Kippe. Darin liegt die Ironie des Buches, die Komik der Kontexte, der Sarkasmus der Dinge.

Shapton zieht alle konzeptionellen Register. Und wer denkt, ein Katalog wäre kein gutes Medium für eine Liebesgeschichte, wird hier eines Besseren belehrt. Einkaufszettel? In Lebensmittellisten lauert die Innenwelt der Figuren. Bücherstapel? Die Bücher sagen alles über ihre Leser – oder ihre Schenker. Artikel von Lenore (die bei der New York Times für die kulinarische Kolumne redaktionell zuständig ist)? In Rezepten und Berichten über das Essen flackert und funkt das gut versteckte Private und Persönliche (wie wahr …  aus dieser Perspektive liest man von nun an jeden noch so nichtigen Artikel mit dem berechtigten Verdacht, es wäre das Private dahinter).

Raffiniert werden die Dialoge wiedergegeben. Wie kann man das bloß  in einem Katalog erreichen? Ganz einfach: Als Schriftwechsel zwischen Lenore und Harold während Veranstaltungen, wo die Kommunikation verhindert wird. Nur so ist eine glaubwürdige Gesprächswiedergabe möglich, zum Beispiel auf einer Hochzeitsfeier.

So sammelt der Leser die Glassplitter einer Beziehung zu einer verzweifelt hingeworfenen Blumenvase, im Moment des Fallens. Und diese Vase, egal wie kitschig, banal oder unbedeutend sie auch zu sein scheint, oszilliert ewig zwischen dem Moment der dumpfen Begegnung mit dem kalten Boden und dem Moment, in dem man diese Vase mit Valentinstag-Blumen schmückt. Hier wird der Voyeurismus des Lesers gebraucht und gefordert – auf eine fruchtbare Art und Weise. Denn der Leser wird zu einem Detektiv in diesem Reich des Nichtgesagten. In diesem Imperium der vergänglichen und sentimentalen Dinge.

Vladimir Alexeev

Leanne Shapton: Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, Including Books, Street Fashion, and Jewelry.  Sarah Crichton Books, Farrar, Straus and Giroux  2009. 144 Seiten. Zur Homepage von Leanne Shapton.

Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris. Aus dem Amerikanischen von Rebecca Casati. Berlin: Berlin Verlag 2010. 144 Seiten. 19,90 Euro. Zur Verlagsseite des Buches.