Ich erkenne dich überall
–„Der beste Spannungsroman des Jahres“, ruft Stephen King auf der Rückseite von Laura Lippmans neuem Kriminalroman „Denn mein ist deine Seele“. Solche Zurufe machen Christiane Geldmacher neugierig und siehe da: Laura Lippman hält, was Stephen King verspricht.
Der Plot des Buches ist nicht meine erste Wahl: viel zu sehr Trendthema. Ein junges Mädchen wird von einem Mann entführt und wochenlang festgehalten. Ihr könntet mal wieder einen Mann einsperren!, denkt man unwillkürlich – wobei wir wieder bei Stephen King wären. Aber „Misery“ ist ja auch schon wieder Jahrzehnte her.
Die Story – True Crime – beruht auf einem tatsächlichen Fall: Eliza lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem hübschen Haus in Washington. Eines Tages erhält sie einen Brief aus dem Todestrakt eines Gefängnisses – von Walter Bowman, jenem Mann, der sie damals mit Fünfzehn entführt hat. Er hat mehrere Mädchen umgebracht – nur zwei Morde konnten ihm nachgewiesen werden – und Eliza war die Einzige, die er am Leben ließ. Keiner weiß warum, auch Eliza nicht. Aber sie soll ihn jetzt retten. Dem Gericht bescheinigen, dass er den Tod nicht verdient hat. Eliza ist Walters letzte Chance, alle seine Berufungsverfahren sind gescheitert.
Walter stürzt Eliza damit in viele Konflikte. Alles in ihr kocht wieder hoch. Dabei hat sie den Namen geändert, ist in eine andere Stadt gezogen, hat alte Freundschaften abgebrochen. Mit Tricks schleicht er sich wieder in ihr Leben. Dank einer ehrenamtlichen Helferin (etwas durchgeknallt, etwas aufdringlich, mit undurchsichtigen Motiven – eine wunderbare Figur!) kommt es nicht nur zu einem Briefwechsel, sondern auch zu Telefonaten und schließlich sogar zu einer Begegnung im Gefängnis. Die so nah ist wie die zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling.
Lippman erzählt die Story multiperspektivisch – sowohl aus Elizas als auch aus Walters Sicht. Und sie spielt milieugerecht vor 20 Jahren und heute. Für das Jahr 2011 heißt das zum Beispiel: Hier wird geskypt und gefacebookt, Elizas Tochter hat Essstörungen, die Mutter ist im Nahkampf mit den Schulbehörden.
Journalistischer Zugriff
Laura Lippman, geboren in Atlanta, aufgewachsen in Baltimore, schrieb viele Jahre als Journalistin für die Baltimore Sun und verfasst seit 1997 Spannungsromane. Ihr journalistischer Zugriff auf das schwierige Thema ist nicht zu übersehen. Sie beschreibt die Welt nicht so, wie sie sein soll, sondern so, wie sie ist. Ihr Blick ist unverstellt und frei. Und sie gewinnt dem Sujet neue Aspekte ab: Ihr Fokus liegt auf den Langzeitwirkungen dieser Verbrechen. Walter Bowmans Entführungen und Morde sind schon 20 Jahre her und die Angehörigen haben immer noch daran zu tragen. Nie hört das auf. Auch Elizas Leben ist nur an der Oberfläche in Ordnung. Besonders ihre Beziehung zu ihrer Schwester Vonnie ist ruiniert, weil ihre Eltern ihre zweite Tochter über der Entführung der ersten vergaßen.
Das beeindruckendste an diesem Buch ist jedoch, wie viel Entwicklungspotenzial immer noch in einer Autorin stecken kann. Lippman gibt sich nicht zufrieden mit dem, was sie bereits erreicht hat – „I’d know you anywhere“ ist ihr 16. Roman, sie wurde ausgezeichnet mit dem Edgar Allan Poe Award, dem Anthony Award, dem Agatha Award, dem Shamus Award, dem Barry Award –, sondern sie macht immer weiter. Während andere erfolgreiche Autoren oft das eigene Niveau nicht halten können oder nur noch nach Schema F arbeiten, wird sie mit jedem Buch besser, tiefer, komplexer. Wo hier Psychothriller draufsteht, ist auch Psychothriller drin.
Christiane Geldmacher
Laura Lippman: Denn mein ist deine Seele (I’d Know You Anywhere 2010). Psychothriller. Deutsch von Eva Kemper. München: Goldmann Verlag 2012. 384 Seiten. 8,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Leseprobe.
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