Geschrieben am 27. November 2013 von für Bücher, Litmag

Kurt Schwitters: Auguste Bolte. (Eine Doktorarbeit)* *mit Fußnoten

Eine Rezension mit Fussnoten1)  und mit der Enthüllung eines Geheimnisses. Von Vladimir Alexeev.

cover-grossEinführung.

Es gibt immer einen Anlass, und jeder Anlass ist immer gegeben. Und so, aus einem gewissermaßen gegebenen Anlass wurde ein Text des Merz-Künstlers Kurt Schwitters neu herausgegeben. Wenn Schwitters das nur wüsste, müsste2) er bestimmt mitlachen. Obzwar der gegebene Anlass etwas an den Haaren herbeigezogen zu sein scheint. Da aber ein Anlass von Natur aus keine Haare hat, nennen wir diese hypothetischen Haare Kontext und der Kontext ist Doktorarbeit. Mit Fußnoten. Doch dazu später.

Im Arche-Verlag ist sie erschienen: „Auguste Bolte (eine Doktorarbeit*)“3). Mal wieder neu herausgegeben 90 Jahre nach der Erstveröffentlichung – jetzt aber aus gegebenem Anlass – und mit einem Nachwort des Merkur-Herausgebers Christian Demand versehen. Doch so weit von dem haarigen Kontext liegt diese Doktorarbeit nicht, wo doch selbst Friedhelm Lach (der erste Verleger des in den 1970ger erschienenen 5-bändigen Literaturnachlasses Schwitters) „Auguste Bolte“ im Band 2 (Prosa) platzierte. Obwohl sie den Haaren nach im Band 5 (Kritische Prosa) besser untergebracht werden sollte – innerhalb der übrigen Tran-Texte. Denn „Auguste Bolte“ ist ein Tran. Oder vollständig: Lebertran.

Kurt_SchwittersTran.

Was ist ein Tran? Stellen Sie sich vor: es ist 1919, der erste Weltkrieg ist in Form von Phantomschmerzen überall präsent. Schwitters-Forscherin Gwendolen Webster konstatiert zurecht: Das gängige Bild von Deutschland war das eines Organismus, für den die Gesundheit eine absolute Notwendigkeit war4). Aber da kommt Schwitters (Stichwort: Merz) in die Herwarth Waldens Kunstgalerie Sturm und – statt den gesunden Organismus zu besingen – hämmert er an die Leinwand so Sachen, die er eben auf der Straße (Stichwort: Müll) gefunden hatte. Das war sofort das gefundene Fressen aller Kulturkritiker, oder all derjenigen, die sich als solche ausgaben.

Doch Schwitters fühlte Freiheit, er schrieb später über diese Zeit: Und plötzlich war die glorreiche Revolution da […] Ich fühlte mich frei und musste meinen Jubel herausschreien in die Welt. Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand, denn wir waren ein verarmtes Land. Man kann auch mit Müllabfällen schreien, und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und -nagelte. Ich nannte es Merz.5)

Dies wiederum fanden die erwähnten Kulturkritiker empörend und kriegten sich mit Schwitters in die genannten hypothetischen Haare (zur Erinnerung: ein Kontext, und Kontext war hier Kunstverständnis). Ihre Bewertungen waren harsch und beleidigend. Aus irgendeinem Grund bezeichnet er seine Exkremente als Merzbilder, schrieb beispielsweise am 27.4.1920 Franz Servaes im Berliner Lokal-Anzeiger.

Und Schwitters erwiderte, aber nicht mit Rechtfertigungen oder Erklärungen seiner Kunst. Er mochte nicht diskutieren. Nicht, weil er keine Gegenargumente parat hätte. Er war einfach ein Menschenfreund. Und ein höflicher dazu. Alles stimmt„, schrieb er, aber auch das Gegenteil. Deshalb und desganz gebe ich jedem recht, um ihm die Möglichkeit zu Diskussionen wegzunehmen.6) So verfasst er (und veröffentlicht in der Zeitschrift  Sturm“) eine Reihe von Tran-Texten, in welchen er den Kritikern auf eine ganz skurrile Art und Weise antwortet. Mal destruiert er die Kritiker als eine Erscheinung (Sie können aus mindestens zwei Gründen nicht sachlich kritisieren, und zwar zweitens, weil sie von Kunst keinen Geruch haben))7), mal ist er plötzlich gar nicht mehr höflich und kein Menschenfreund mehr (Soll ich Ihnen mal ein kurzes Bein um die Ohren hauen?)8). Mal irritiert er die Kritiker – und die sonstige Leserschaft. Wie im Fall von Auguste Bolte.

AugusteBolte

Auguste.

Es ist diesmal keine Auseinandersetzung mit der Kunstkritik (sie wird nur in einigen Fußnoten erwähnt). Es ist eine seltsame Geschichte über ein Fräulein namens Auguste Bolte (abgekürzt AB, wie Anna Blume) auf der Suche nach der Wahrheit. Naiv wie eine Jeunet’sche Amelie, monströs wie eine Nakata’sche Sadako oszilliert sie zwischen zwei Gruppen Menschen, die in verschiedene Richtungen gehen, da sie ja aus einem bestimmten Grund in diese Richtungen sich begeben müssten. Die Gruppen werden immer kleiner, die Suche nach der Wahrheit wird fraktalisiert und theoretisiert, und endlich entscheidet sich Auguste Bolte, die während dieser Suche nicht nur zu einer professionellen Stalkerin und Atomspalterin geworden ist, sondern den Doktortitel bekam, für eine Person – ein Mädchen, das sie endlich ausfindig macht, nachdem sie das ganze Stadtviertel genug terrorisiert hatte. Was dann passiert möchte ich den geneigten Leserinnen und Leser vorenthalten (Lesense halt selber), aber ich sage Euch: jetzt fängt der Spaß erst richtig an!

Eine seltsame Geschichte als Doktorarbeit präsentiert, ohne Anfang und ohne Ende, höchst lesenswert ob der Skurrilität und einer spielerisch-anarchischen Destruktion der Umgebung. Es wird gereimt, was das Zeug hält – in einer Metaebene dazu. Sogar die Fußnoten machen sich über einen lustig, beispielweise – im Text: „vis-à-vis“, die dazu passende Fußnote: „französisch“. Dies ist die Geschichte, und wer fragt, bleibt dumm.

Geheimnis.

Natürlich hat sie auch noch eine zweite Ebene, diese Geschichte. Man kann sie nur entdecken, liest man weitere Texte von Schwitters (immer wieder eine genüssliche Lektüre). Beispielweise hier: Frl. Dr. Auguste […] stand auf der Strasse wie ein Mann9). Was für ein Gender-Desaster! – wird vielleicht jemand aufschreien. Doch dies ist eine direkte Reminiszenz auf eine Merzählung10) Franz Müllers Drahtfrühling, geschrieben von Schwitters Anfang 1920ger. Dort steht nämlich ein Mann. Er steht und steht, und die ganze Bevölkerung drum herum empört sich, wieso denn der Mann dort steht. Diese Empörung weitet sich zu einer Revolution in Revon11) aus.

Doch zurück zu den Haaren. Was war denn der Anlass, zu dem diese Doktorarbeit (mit Fußnoten) wieder veröffentlicht wurde? Nun, erstens, ist es immer schön, Schwitters neu zu veröffentlichen. Und zweitens – und jetzt kommt die langerwartete Enthüllung des Geheimnisses, denn alle Andeutungen sind im Buch nur angedeutet, und keine Konkretisierung konkretisiert – der Anlass heißt Herr Doktor Friedrich August Leopold Kasimir Amadeus Gneomar Lutetius Obadja Jona Micha Nahum Habakuk Zephanja Hagai Sacharja Maleachi Feuerhake, Leiter der Zeitung Revon… Stopp… Nein, das ist schon wieder aus Franz Müllers Drahtfrühling12). Der, den ich aber meine, heißt Herr Dr. Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Na-sie-wissen-schon-wer.

Also ist der Anlass immer gegeben, und die Haare sind weitaus nicht nur hypothetisch. Schwitters wusste schon immer alles, und jederzeit ist er aktuell.

Vladimir Alexeev

1) Das hier ist die erste Fußnote. Sie haben aber auch lang gescrollt, aller Achtung. Hoffentlich werden Sie den Rest auch noch lesen.
2) Ein verhängnisvoller Reim. Kommt im Buch ständig vor. Jetzt auch sonntags.
3) *) mit Fußnoten
4) R.Cardinal / G. Webster: Kurt Schwitters.  2011 Hantje Cantz
5) F. Lach: Schwitters. Die literarischen Werke, 1981, Band 5. Seite 335
6) Zitiert nach Auguste Bolte, S. 77
7) F. Lach: Schwitters. Die literarischen Werke, 1981, Band 5. Seite 111
8) ebenda
9) Auguste Bolte, Seite 29
10 Möge man mir diesen Neologismus verzeihen
11) Laut Schwitters kann man seine Heimatstadt Hannover auch rückwärts lesen: Revonnah, was bedeutet Rückwärts von nah
12) F. Lach, Schwitters: Die literarischen Werke, 1974, Band 2., Seite 31

Kurt Schwitters: Auguste Bolte. (Eine Doktorarbeit)* *mit Fußnoten. Zürich-Hamburg: Arche-Verlag 2013. 79 Seiten. 16,00 Euro. eBook 12,99 Euro.

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