Eine Jagd durch wilde (Wort-)Abgründe
– Der ukrainische Romancier, Lyriker, Essayist und Übersetzer Juri Andruchowytsch ist einer der wichtigsten Vertreter einer avancierten osteuropäischen Literatur. In seinem im Original bereits 1999 erschienen Roman „Perversion“ zeigt er sich als Postmoderner par excellence und als Meister des Grotesk-Karnevalesken.
Der Roman erzählt – besser: rekonstruiert – das Verschwinden des ukrainischen Undergroundhelden und Performance-Aktivisten Stanislaus Perfezki in Venedig: „Stets setzte er alles aufs Spiel – seine Habe, sein Talent, sein Leben.“ Der hochverschuldete Literat war dort zu dem internationalen, die Postmoderne genüsslich parodierenden Seminar „Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt – was dräut am Horizont?“ eingeladen, in dem zentrale Zukunftsfragen für das kommende Millenium debattiert werden sollten.
Juri Andruchowytsch selber tritt in dieser Rekonstruktion lediglich als „Herausgeber“ auf, der ein ihm zugespieltes Manuskript-Paket mit einem Prolog und einigen Schlussbemerkungen versieht. Dieses Paket besteht nun aus tagebuchartigen Einträgen und Diktaten des verschwundenen Autors sowie aus einer Vielzahl von Spitzelberichten Dritter, Einladungen, Programmheften, Interviews oder „Fragmenten unbekannten Hersprungs“. Ohne gesicherte Chronologie jagen die Texte den Leser in der Folge in wilde Abgründe und in ein postmodern codiertes Spektakel: „Zitat, Collage und Dekonstruktion haben das Althergebrachte, Ursprüngliche, Wahre ersetzt. Für immer?“
Grotesk überzeichneten (Sur-)Realität
Die Texte spiegeln Perfezkis verwegene Gedanken- und Assoziationsketten wider, führen durch obskure Kneipen und Clubs, bacchantische Gelage und „rituelle Vereinigungen“, durch wahnwitzige Performance- und Theaterstücke. Die tagebuchartigen Einträge aus der Feder des Verschwundenen stecken dabei voller biblischer Geschichten, Mythen und Wunder und gipfeln in „lingual-kabbalistischen Exerzitien“. Den einzigen roten Faden in diesem uferlosen Textwirbelt bietet Perfezkis entflammte Liebe zu der ihn begleitenden Übersetzerin Ada, die eine in allen Belangen zwielichtige Rolle spielt.
Juri Andruchowytsch reißt den Leser in „Perversion“ durch eine überschäumende Fantasie und Sprachkraft mit, die selbst ein Seminarprogramm in ein höchst witziges Wort- und Anspielungsspektakel zu verwandeln vermag. Nicht viel liegt dem Romancier allerdings daran, den vorhandenen Stoff zu formen, zu begrenzen und dramatisch aufzubereiten. In einer über weite Strecken orgiastisch-rauschhaften Prosa wird das beliebig form- und wandelbare Wortmaterial so zur einzig gültigen und grotesk überzeichneten (Sur-)Realität: Nichts ist wirklich, alles ist erlaubt!
Doch schelmisch-selbstkritisch räumt der Autor (welcher?) inmitten dieses ausschweifenden Wortrausches auch ein: „Natürlich wird auch die Sprache uns nicht retten. Aber sie kann etwas andeuten, etwas schenken, ohne es zu wissen.“
Karsten Herrmann
Juri Andruchowytsch: Perversion (Perverzia, 1999). Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp 2011. 334 Seiten. 19,90 Euro. Eine Leseprobe (PDF) finden Sie hier. Foto: Андрей Романенко