Geschrieben am 16. November 2011 von für Bücher, Litmag

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

„Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt“

– In dem Heuhaufen der diesjährigen Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt findet sich mit dem Erstlingsroman des Schweden Jonas Jonasson „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ eine glänzende Nadel, meint Kathrin Brede.

Ja, 100 Jahre Lebenszeit, das ist verteufelt lang. Könnte sein, dass da einer viel erlebt hat. Oder sogar sehr viel. So wie Allan Karlsson, der just am Tag seines 100. Geburtstages die Faxen von den nervtötenden, strengen Reglements im Seniorenzentrum (und besonders der garstigen Schwester Alice) dicke hat. Ein paar Minuten vor Beginn der Feierlichkeiten beschließt er deshalb, flugs zu verschwinden. Und zwar durchs Fenster, in Pantoffeln. Sein Leben soll dort und so langweilig noch nicht zu Ende sein. Und ist es auch nicht. Denn was dann folgt, ist ebenso abgedreht wie das, was die Rückblicke auf sein bisheriges Leben offenbaren:

Sie erzählen eine einzige Abfolge abstruser Zufälle und Zusammentreffen. Grund dafür ist zum einen die starke Anziehungskraft, die alkoholische Getränke auf Allan ausüben. Genauer gesagt: sein in gewissen Abständen auftauchender Durst auf eine paar ordentliche Gläser Schnaps. Zum anderen der Umstand, dass er von Berufs wegen über gewisse Kenntnisse über das Zusammenfügen von Sprengstoffen zu äußerst effektiven Bomben verfügt. Diese beiden Faktoren tragen regelmäßig wesentlich dazu bei, dass er unversehens von einem verrückten Erlebnis zum nächsten stolpert, andererseits allerhand hochrangige Politiker oder Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts kennenlernt (und sich überdies nicht selten mit ihnen anfreundet). Zugleich wird er ständig in bedeutende historische Ereignisse verwickelt, wobei ihn sein Weg quer über den Globus führt.

Dabei wird er immer wieder aufs Neue zu einem kleinen, aber wichtigen Rädchen im Getriebe der Weltgeschichte. Ironischerweise, denn aus tiefer Überzeugung hält er eigentlich alles Politische für höchst überflüssig und hegt noch weniger Ambitionen, persönlich in derlei Zusammenhänge einzugreifen. Aber: Eins führt bei Allan Karlsson nun mal immer irgendwie zum anderen. Und so rettet er zufällig unter anderem (und mehr oder minder nebenbei) Franco und Churchill das Leben, gibt Oppenheimer die entscheidenden Hinweise zum richtigen Bau einer Atombombe, erteilt Stalin eine Abfuhr, als der ihn in derselben Sache für sich einspannen will, spioniert für die CIA die Sowjets aus, jagt ganz zufällig Wladiwostok in die Luft …

Photo ©Gabriella Corti

Klug, unterhaltsam, voller Situationskomik und trockener Ironie

Als wären also die ersten hundert Jahre seines Lebens nicht schon fantastisch genug, löst Allan nach seiner Flucht aus dem Altenheim gleich wieder eine Kette unglaublicher Ereignisse aus. Was damit beginnt, dass er dummerweise – in der Hoffnung auf warme Kleidung für seinen spontanen  Rückzug – zufällig einem Drogendealer einen Koffer mit 50 Millionen Kronen stiehlt. Eins ist bei Allan Karlsson allerdings sicher: Dank der Erkenntnis „Es ist wie es ist, und es kommt, wie es kommt“ bleibt er stets gelassen.

Jonas Jonasson landet mit diesem Debüt einen literarischen Hattrick. Nicht nur bringt er es fertig, eine erdichtete Lebensgeschichte mit reellen historischen Figuren und Begebenheiten virtuos zu einer wunderbaren Farce zu verweben. Er erzählt gleich noch eine zweite Geschichte um seinen tiefenentspannten, gnadenlos pragmatischen, trinkfreudigen, renitenten aber zugleich bescheidenen Protagonisten herum, die er an der anderen aufhängt und mit der er den Leser gleichfalls in amüsiertes Erstaunen versetzt. Und: Er schafft dies mit großer stilistischer Leichtigkeit, klug, unterhaltsam, voller Situationskomik und trockener Ironie. Eine Geschichte, wie man selten eine zu lesen bekommt – und auf die hoffentlich noch mehr dieser Qualität folgen.

Kathrin Brede

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand (Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann, 2010). Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn. Carl’s Books 2011. 416 Seiten. 14,99 Euro.

Tags :