Geschrieben am 5. Mai 2012 von für Bücher, Crimemag

Jon Ronson: Die Psychopathen sind unter uns

 Ein Roadtrip durch die Psyche „normaler“ Menschen

– Derzeit wird heiß darüber diskutiert, ob Anders Behring Breivik für die Morde an 77 Menschen am 22. Juli 2011 für zurechnungsfähig erklärt werden soll oder nicht. Breivik selbst sagt, dass er vollkommen „gesund“ sei und nur hart dafür trainiert hat, Gefühle abstellen zu können. Jon Ronson hat genau über diese fehlenden Gefühle ein Buch geschrieben: „Die Psychopathen sind unter uns“. Thorlef Czopnik hat es gelesen.

Mit „Männer die auf Ziegen starren“, hatte er einen riesigen Erfolg und enttarnte die Absurditäten und geheimen Projekte des US-Militärs. In „Die Psychopathen sind unter uns“ beschreibt Ronson den Irrsinn per se und die gestörten Menschen, die laut Buchcover an „den Schaltstellen der Macht“ ihr Unwesen treiben. Aber statt über Schaltstellen und Macht zu sprechen und dem Leser einmal zu verraten, wer von den Machthabern oder Managern ein Psychopath ist, beschreibt Ronson in vielen kleinen Geschichten die verschiedenen psychischen Krankheiten, besonders die der antisozialen Persönlichkeitsstörung, an der auch Breivik leiden könnte.

Eine Antwort auf eine Frage in einem Buch?

Das Buch beginnt mit einem Buch, vielmehr mit Paketen, die an verschiedene Akademiker geschickt wurden und in den Paketen waren Bücher voller kryptischer Verse und Rätsel. Ein Test? Virales Marketing oder war es doch nur ein Spinner, dem es Spaß machte, geistige Eliten herauszufordern? Jon Ronson recherchiert nach, trifft auf Neurologen und Psychiater, die auch solche Pakete erhalten haben. Vermutungen werden angestellt und nach und nach stellt Ronson fest, dass dahinter kein gesundes Hirn stecken kann, sondern geballter Wahnsinn.

Die Einstiegssituation verpufft ein wenig, als Ronson den Absender trifft. Die Fragen jedoch, was hinter all den Störungen steckt, wie so ein Wahnsinniger tickt, die bleiben und so macht Ronson sich auf, um sich mit Patienten, Psychiatern, Scientologen, Neurologen und allen, die nur ein wenig mit psychischen Störungen zu tun haben, zu unterhalten – und auch mit den Gestörten selbst.

Wo bleibt da jetzt die Spannung?

Ronson hätte das Buch sicherlich sehr nüchtern und analytisch schreiben können, was er aber nicht getan hat. In kleinen Geschichten und Episoden schildert Jon Ronson seine Erlebnisse, erzählt dabei, wie sich die einzelnen Störungen zeigen können oder gezeigt haben und versucht dabei, Unverständliches zu verstehen. Dennoch, in jedem Kapitel gibt es diese Momente, bei denen man sich beim Gähnen erwischt und fast in Versuchung geführt wird, einfach weiterzublättern, da sich einiges doch wiederholt. Andere Fälle sind dafür umso erschreckender und faszinierender:

So gab es einen Psychiater, der der festen Überzeugung war, dass man den Wahnsinn nur an die seelische Oberfläche katapultieren müsste, damit man ihn heilen könnte. Seiner Idee nach ginge dies mit LSD. So sollte jeder Psychopath LSD bekommen und mit anderen Psychopathen in einen Raum eingesperrt werden, um sich so zu resozialisieren.

Wie jetzt? Psychopathen sollen Psychopathen heilen? Richtig!

Man stelle sich dies mal vor. Da hat man Killer, Vergewaltiger in einem Raum sitzen. Alleine das würde ein mulmiges Gefühl auslösen, jetzt noch eine Dosis LSD und die schon fast unkontrollierbaren Patienten würden nur noch Chaos stiften. Doch dem war nicht so.

Vorläufig schienen die Psychopathen gezähmt, entwickelten menschliche Gefühle und wurden als geheilt erklärt. (Tja, 80% davon wurden allerdings nach kurzer Zeit wieder rückfällig und das Morden, Missbrauchen und Vergewaltigen ging weiter).

Ein weiterer Wahnsinnspunkt ist die Übersetzung. Viele Fehler haben sich in das Buch eingeschlichen … Nein … eher eingetrampelt. (Mal ehrlich, das ist so, als wenn im Kino neben einem jemand eine Orgie mit dem Popcorn feiert und einem schmatzend etwas erzählen will). Das Buch an sich erinnert etwas an die Serie „Autopsie – Mysteriöse Todesfälle“. Jedoch wesentlich knapper.

Jon Ronson (© Barney Poole)

Jon Ronson (© Barney Poole)

Der Psychopathentest

Wie oft hört man den Satz „Mein Chef ist ein Sadist“ (Wahlweise: Psycho, Psychopath, Gestörter oder einfach nur ein Wahnsinniger ohne Familienleben)? Natürlich, verhaltensauffällige Menschen hat jeder in seinem Bekanntenkreis, vielleicht gehört man ja selbst bei manchen in die „TOP 5 der Gestörten“. Ist denn ein Chef, der nur rumschreit, fünf Minuten vor Feierabend einem noch einen Batzen an Dokumenten auf den Schreibtisch knallt, überhaupt ein Psychopath – oder einfach nur gemein?

Dazu hat Bob Hare einen Test mit 20 Punkten entwickelt. („Besteht“ man diesen Test, dann wird einem gratuliert und man bekommt eine Urkunde mit „Ich bin ein Psychopath“. Nein, ganz so ist es nicht. Anstatt Urkunde kann es passieren, dass man weggesperrt wird). Hare hat mit Hilfe des Tests festgestellt, dass Psychopathen „vergessen“. Personen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen haben eine kurzlebige Erinnerung an Gefühle. Ein Beispiel:

Auf die Frage „Warum haben sie Denis Kerr getötet, sie haben doch schon davor drei Leute umgebracht?“, antwortete Peter Woodcock mit folgendem Satz: „Ja, aber das war schon Jahre über Jahre über Jahre über Jahre her!“

Man kann Jonson wirklich nicht den Vorwurf machen, nicht recherchiert zu haben (umso ärgerlicher ist dafür die schlechte Übersetzung) und auch die andere Seite kommt zu Wort. So besucht er Scientologen, die ihm erklären, warum sie meinen, dass Psychiater nur lügen, betrügen und abzocken und Krankheiten nur eingetrichtert werden.

Der Psychopathentest besteht aus 20 Punkten, mit deren Hilfe u. a. Charme, pathologisches Lügen, oberflächliche Gefühle und Promiskuität u.s.w. beurteilt werden. Ist der sadistische Chef also ein Psychopath? Nun, mit Sicherheit kann man das nicht sagen, aber er ist wohl eher jähzornig und frustriert, ein Psychopath hätte anders gehandelt, brutaler, kälter und doch charmanter.

Fazit: Ein schizophrenes Gefühl von „gut“ mit einem riesigen „aber!“

Insgesamt gibt es 347 verschiedene psychische Störungen. Nicht mit jeder hat sich Jon Ronson beschäftigt (Das Buch alleine hat „nur“ 269 Seiten). Aber mit einigen, und das sehr detailliert und genau. Was die Quantität der Beispiele betrifft, so betreibt Jonson diese sehr inflationär. Auf Beispiel X,folgt sogleich Y und Z und danach noch zwei oder drei. Um die Persönlichkeitsstörung zu verstehen, mag das sinnvoll sein, aber es verwirrt, wenn man in jedem Kapitel immer wieder umblättern muss, um herauszufinden, wer jetzt wen umgebracht oder therapiert hat und wer jetzt genau der Gestörte ist (Das ist oft gar nicht so leicht). Doch diese Detailverliebtheit lässt einen andererseits auch oft erschaudern und regt dazu an, über viele der geschilderten Fällte weiter nachzudenken.

In dem Buch steht, dass Psychopathen schwarz/weiß träumen, wenn sie überhaupt träumen. Auf dem Buchcover steht schwarz auf weiß: „Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht.“ Promis, Politiker, Manager oder andere berühmte Personen finden aber keine Erwähnung. Das ist schade, denn so entsteht das Gefühl, dass man hier mit purer Sensationsgeilheit ein Buch notfalls als Mogelpackung verkaufen will.

Thorlef Czopnik      

Jon Ronson: Die Psychopathen sind unter uns. Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht (The Psychopath Test – A Journey Through the Madness Industry 2011). Deutsch von Martin Jaeggi. Tropen bei Klett-Cotta 2012. 269 Seiten. 19,95 Euro. Zur Leseprobe. Homepage des Autors.

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