Geschrieben am 5. Dezember 2009 von für Bücher, Crimemag

John Grisham: Der Anwalt

Wenn sich Großmeister verheben

Sooo. Der neue John Grisham. Die gute Nachricht zuerst: Der Anwalt liest sich erst mal ganz gut weg. Die schlechte Nachricht: Der Anwalt ist inhaltlich unglaublich schwach. HENRIKE HEILAND hätte es lieber anders gehabt, aber …

Diesmal geht es um einen super Jurastudenten namens Kyle McAvoy. Super Noten überall, super Reputation, und demnächst wohl auch einen super Abschluss. Danach will er für eine Non-Profit-Organisation arbeiten, Menschen in Not helfen, das gehört sich für super Yale-Absolventen so, bevor sie sich dann für 200.000 Dollar Einstiegsgehalt bei den großen Kanzleien verheizen lassen. Bilderbuch. Sein Papa, der in einer unbedeutenden Kleinstadt eine Kleinstadtkanzlei führt, findet die Sache mit den großen Kanzleien natürlich ganz blöd, aber die zwei Jahre Non-Profit versöhnen ihn ein bisschen. Aber jetzt kommt erst mal alles anders, als Kyle sich das so denkt: Ein paar Typen, die so tun, als wären sie vom FBI, halten ihm ein Video unter die Nase, das angeblich zeigt, wie er und ein paar Kumpels vor Jahren eine Mitstudentin vergewaltigt haben. Kyle selbst ist dann gar nicht auf dem Video zu sehen, aber man könnte den Eindruck gewinnen, er wäre möglicherweise im selben Raum gewesen, und bei der Vergewaltigung ist auch nicht ganz klar, ob es nun eine war oder nicht. Kyle, klare Sache, ist trotzdem erst mal total schockiert. Was das Ganze soll? Die Typen sind gar nicht vom FBI. Kyle soll vielmehr angeheuert werden, um eine dieser Großkanzleien auszuspionieren für eine andere Großkanzlei. Er soll also, mal konkreter gesagt, seine Non-Profit-Ich-helfe-Menschen-Zeit wegfallen lassen und gleich den 200.000-Dollarjob annehmen. Große Entrüstung, nein nein, das mach ich nicht, aber wir haben hier das Video, für wen arbeiten Sie überhaupt, das geht Sie nichts an, Sie sind doch ein Schwein, stellen Sie sich nicht so an, na gut ich mach’s halt.

Mist

John Grisham hat leider irgendwie vergessen, seine Hauptfigur in ein nachvollziehbares Dilemma zu stürzen. Kyle hat nämlich weder etwas Ungesetzliches getan, noch hat er sich, wenn man es sich näher ansieht, moralisch daneben benommen. Diese angebliche Vergewaltigung, von der im Buch noch viel die Rede sein wird, könnte aber vielleicht eventuell irgendwie wenn’s blöd läuft seine Reputation beschmutzen. Da denkt sich doch der Leser: Hey, dann hat er halt einen Fleck auf der Weste, aber wenn er so dufte ist und freiwillig bei diesen Non-Profit-Weltrettensachen mitmachen will – die werden ja wohl kaum nein zu ihm sagen, außerdem hat er ja nichts getan. Und außerdem denkt sich der Leser: Hey, selbst wenn die ihn nicht wollen, und die großen Kanzleien wollen ihn auch nicht, schlechter Ruf und so, obwohl er ja nichts getan hat, dann stellt ihn doch spätestens sein gutmenschelnder Vater in seiner Kleinstadtkanzlei ein. Warum also ist dieser Typ erpressbar? Da wäre es doch sinnvoller, jemanden herzunehmen, der wirklich mal Mist gebaut hat, der dann schön eine Läuterung durchlaufen muss und am Ende sich dem stellt, was er verbockt hat, große Reue, großes Finale, das ganze Programm. Wie soll man denn einem Buch folgen, bei dem schon die Hauptfigur nicht stimmt?

Frust

Man kann diesem Buch sogar sehr gut folgen. Weil Grisham handwerklich einfach den Bogen heraushat, seine Szenen auf Spannung zu schreiben. So fräst man sich durchs Buch und will dann doch immer noch wissen, wie es weitergeht, aber ehrlich gesagt ist es zu einem großen Teil auch die Erwartung, dass da noch ein ganz besonderer Kniff oder Dreh kommt, der Mann hat doch nicht ganz ohne Grund immer so einen Erfolg mit seinen Büchern. Auf den Dreh wartet man allerdings vergebens, und was am Ende bliebt, ist eine Menge Frust.
Der Anwalt ist zwar auch wieder in den Bestsellerlisten, bleibt aber weit, weit hinter anderen Grishams zurück. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es diesmal gar nicht um eine große Sache geht, die den Leser anrührt, sondern eher gezeigt werden soll, mit welchen Mitteln heutzutage spioniert und manipuliert wird, um Waffen und Was nicht alles zu verticken, und ja, wahrscheinlich hängt die Regierung auch mit drin. Da wollte Grisham wohl noch einmal eins draufsetzen, noch einmal größer im Ausmaß werden, noch einmal an der Angstschraube drehen. Am Ende folgen zwar die Hauptfiguren ihrer Bestimmung in der fiktionalen Weltordnung, aber viele große und kleine Fragen bleiben – mit voller Absicht – offen. Klappt man das Buch zu, bleibt keineswegs ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, wohl aber gepflegtes Genervtsein: Spannend ist was anderes.

Fazit: Nein, muss nicht sein, nicht mal für Fans.

Henrike Heiland

John Grisham: Der Anwalt. (The Associate, 2009) Roman.
Deutsch von Imke Walsh-Araya, Bea Reiter, Bernhard Liesen, Kristiana Dorn-Ruhl.
München: Heyne Verlag 2009. 428 Seiten. 21,95 Euro.