Geschrieben am 6. März 2010 von für Bücher, Crimemag

Jim Nisbet: Dunkler Gefährte

Spielball einer implodierenden Realität – oder ein philosophischer Roman-noir

Jim Nisbet gilt vielen immer noch als ein Geheimtipp. Dabei hat der 1947 geborene Autor einiges vorzuweisen: Seine ersten drei Kriminalromane erschienen in der legendären Black Lizard-Reihe und der Noir-Roman Dark Companion wurde 2006 für den Hammett-Preis nominiert. Dieser ist jetzt in deutscher Übersetzung bei Pulp Master erschienen und bietet dem Leser eine hervorragende Möglichkeit, diesen bemerkenswerten Autoren kennen und schätzen zu lernen. CLAUS KERKHOFF feiert Buch und Autor.

Dunkler Gefährte ist ein Roman-noir ganz in der Tradition von David Goodis und Jim Thompson und doch eine höchst eigenständige Variation des klassischen Noir. Der indischstämmige Chemiker Banerjhee Rolf ist ein typischer Noir-Protagonist. Er hatte einen gut bezahlten Job in der Biotech-Branche, bis eine feindliche Übernahme seiner Firma ihn Job und Karriere kostete. Jetzt ist er zu alt für einen neuen Job.

Aber Banerjhee Rolf und seine Frau Madja leiden keine materielle Not. Sie besitzen ein schmuckes Eigenheim, und Madja hat weiterhin einen gut bezahlten Job. So kann sich Rolf weiter mit seinem Hobby, der Astronomie, beschäftigen und über Neutronensterne, Supernovae und Chaostheorie philosophieren. Doch seine heile Welt hat Sprünge – und diese Risse werden schnell größer.

Falsche Zeit und falscher Ort

Zur falschen Zeit am falschen Ort – das klassische Thema des Noir-Romans und im Zentrum ein Protagonist, der in eine fatale Abwärtsspirale gerät, die ihn aus seinem bisherigen normalen Leben katapultiert.

Doch hier setzt die erste Variation von Jim Nisbet ein: In den klassischen Noir-Romanen ist der Beginn der Abwärtsspirale in der Leidenschaft des Protagonisten begründet, und der soziale Absturz durchaus selbstverschuldet. Banerjhee Rolf dagegen gerät ungewollt und unschuldig zwischen die Fronten. Sein Nachbar Toby Price und dessen attraktive Freundin Esme handeln mit Drogen und interessieren sich für Rolf, weil sie in ihm den Autor von Videopamphleten gegen den Irakkrieg vermuten, die in den lokalen TV-Pornokanal einspeist werden. Jetzt hat das FBI die Ermittlungen aufgenommen, und Übertragungswagen patrouillieren die Siedlung, um den Täter zu überführen. Das Interesse des FBI stört aber die Geschäfte des Pärchens, die gerade einen großen Drogendeal vorbereiten.

Und dann werden die drei von zwei Einbrechern überfallen, die es auf die Drogen abgesehen haben. Es kommt zu einer wilden Schießerei, am Ende liegen vier Leichen im Wohnzimmer von Toby Price. Aber nichts ist so, wie es zunächst erscheint: Toby Price und seine Freundin sind keine Drogendealer und die beiden Einbrecher keine gemeinen Kriminellen. Für Banerjhee Rolf ist diese Konstellation fatal. Würde er bleiben und die Situation erklären, niemand würde ihm glauben. Er ist der ideale Sündenbock – und so bleibt ihm nur noch die Flucht.

Fatalismus

Im klassischen Roman-noir ist der Protagonist durchaus schicksalsergeben und überlässt sich in fast masochistischer Lust dem freien Fall. Banerjhee Rolf tickt anders. Für ihn sind die Flucht und der Ausbruch aus seiner virtuellen Welt ein Akt der Befreiung. Das Eintreten in die reale, brutale Gegenwart gleicht der Durchtrennung eines gordische Knotens, in dem sein bisheriges Leben und das neue, ihm von Madja zugedachte Leben anscheinend unentwirrbar verwickelt sind.

Banerjhee Rolf liebt seine Frau und seinen Sohn, der in Chicago lebt und studiert. Rolf liebt aber auch seine Traumwelt, in der er über Astronomie und Chaostheorie philosophiert und Gedankenexperimente über die physikalischen Besonderheiten von Objekten extremster Dichte, die ihre Umgebung in fataler Weise attraktieren, anstellt. Jetzt kollidiert sein geträumtes Leben mit einer Realität, die ihm gar nicht gefällt: Seine Frau Madja möchte das sonnige Kalifornien verlassen und zum Sohn in das viel zu kalte Chicago ziehen. Der Verkauf des Hauses und ihr neuer Job in Chicago würden ihnen ein Auskommen und ein zufriedenstellendes Leben in Chicago ermöglichen. Aber Rolf möchte seine Traumwelt gar nicht verlassen. So ist die Flucht und der Ausbruch aus dieser falschen Welt für Rolf eine Chance: mit sich ins Reine zu kommen, sich selbst wieder nahe zu sein. Ihm fällt der Abschied von der falschen Welt nicht schwer.

Die Unkalkulierbarkeit des Daseins

Blickt man ein wenig tiefer, ist Dunkler Gefährte eine Reflexion über den prekären Status von Realität und virtueller Welt. Rolf lebt in einer eigenen Welt und blendet die harte Wirklichkeit einfach aus. Für ihn (und für viele andere) war Kalifornien die Vision einer nicht nur klimatischen Sonnenseite des Lebens. Aber die ökonomische Realität hat dieses Paradies zerstört. Wirtschaftskrise und ein fehlentwickeltes kapitalistisches System führten zu einem drastischen Abbau von Arbeitsplätzen und der Zerstörung vieler Lebensentwürfe – auch von gut ausgebildeten Akademikern. Hinzu kommen die allgegenwärtige Angst vor neuen Terroranschlägen und die staatlichen Bemühungen durch Kontrolle und Überwachung totale Sicherheit herzustellen.

Nisbets verwendet die Bilder von Neutronensternen und Supernovae als Symbole für die Unkalkulierbarkeit unseres Lebens. Niemand besitzt die Kontrolle über seine Zukunft. Zufälle zerstören in großer Regelmäßigkeit all die schönen Lebensplanungen. Der Zufall gleicht dabei einem schwarzen Loch, das aufgrund seiner enormen Gravitation eine Raumzeitkrümmung erzeugt und alle Objekte in seiner Umgebung in eine scheinbar konzentrische Rotation zwingt. Daraus gibt es für nichts und niemanden ein Entkommen. Konsequent folgt Jim Nisbet in diesem Roman der Tradition, die Motive des klassischen Roman-noir ins Existenzialistische zu transferieren. Wer sind wir? Welche Essenz hat unser Leben? Was ist Einbildung, was ist real? Können wir über unser Leben bestimmen? Wie weit reichen unsere Einflussmöglichkeiten?

Jim Nisbets Dunkler Gefährte ist ein ebenso lakonischer wie moderner Noir, der unsere Identität in der gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Realität reflektiert. Gekonnt inszeniert Nisbet seine Geschichte in kurzen, scheinbar freien assoziativen Ketten von kurzen Episoden, Reflektionen über astronomische Phänomene und vielen Rückblenden, in denen Nisbet von Rolfs Vergangenheit erzählt; davon erzählt, wie Rolf zu dem wurde, der er heute ist. Nebenbei beleuchtet Nisbet dabei auch die Schattenseiten des American Way of Life, ohne zu moralisieren. Und doch unterliegt der Plot einer stringenten Ökonomie und treibt unmerklich, aber in großer Konsequenz auf ein überraschendes und doch logisches Finale zu.

Die nur 191 Seiten lange Erzählung ist meisterhaft komponiert und hat eine wunderbare Balance aus Ruhe und Tempo, gespickt mit ungewöhnlichen Spannungs- und Überraschungsmomenten. Und mit Banerjhee Rolf beschreibt der Roman eine Figur, die trotz ihrer Realitätsferne und Transzendenz große Glaubwürdigkeit und menschliche Dimension besitzt und als sich selbst bestimmende Figur in bester Erinnerung bleibt. Dem Roman und seinem Autor ist zu wünschen, dass Jim Nisbet endlich das Image eines Geheimtipps ablegen kann und die Anerkennung erfährt, die er verdient. Dunkler Gefährte wäre Grund genug!

Claus Kerkhoff

Jim Nisbet: Dunkler Gefährte (Dark Companion, 2006) Roman.
Aus dem Englischen von Frank Nowatzki und Angelika Müller.
Berlin: Pulp Master 2010. 191 Seiten. 12,80 Euro.

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