Die Idiotie des Erfindergenies
– Wolfram Schütte über Jean Echenoz‘ biografische Miniatur „Blitze“.
Der französische Schriftsteller Jean Echenoz hat eine literarische Form entwickelt, die ganz & gar seine Eigenart & sein Eigentum ist. Der deutsche Leser hat sie in den vergangenen Jahren mit den Romanen „Ravel“ & „Laufen“ kennenlernen können. Nun folgt in dieser Serie „Blitze“.
Deutete der erste Titel dieser immer schlanken Romane seinen erzählerischen Gegenstand & Romanhelden wortwörtlich an, so erhebt „Laufen“ die Tätigkeit, für die der tschechische Langstreckenläufer Emil Zatopek in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einmal weltberühmt war, zum Titel, wohingegen der Held von „Blitze“ der zu seiner Zeit womöglich auch einmal weltbekannt war, heute aber nur noch Wissenschaftshistorikern & Elektrowissenschaftlern bekannt sein dürfte. Es ist der in Serbien geborene, aber in den USA als Universalerfinder berühmt gewordene, 1943 gestorbene Nikola Tesla – wie ich dem Waschzettel & den historischen Bildern entnommen habe, mit denen der Schutzumschlag des von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten Buches ansprechend gestaltet ist.
Während der „Läufer“ im Roman des Franzosen noch Emil Zatopek hieß, heißt der Inbegriff des naturwissenschaftlichen Erfinders, als welcher der Edison-Zeitgenosse Tesla galt, der sich schlicht „Inventor“ nannte, in dem 143-seitigen Roman nur „Gregor“, wobei offen bleibt, ob es sein Vor- oder Nachname ist; denn sein Erzähler erlaubt sich manche Intimität mit dem „unsympathischen“ & arrogant-eitlen Gregor im Laufe seiner immer lakonisch-ironischen Beschreibung von dessen Lebensweg.
Die kurzgefassten Biografien des französischen Musikers, des tschechischen Spitzensportlers und des serbisch-amerikanischen Erfindergenies folgen jeweils chronologisch den Lebensstationen von Echenoz‘ Helden. Es könnte aber sein, dass Jean Echenoz bei seinen Miniaturen berühmter Genies jeweils einer menschlichen Eigenart sich im Laufe der Jahre, in denen er dieses literarische Programm verfolgt, immer mehr & öfter von der Realbiografie seiner Vorbilder entfernt & sie in seinen literarischen Nachbildern zu mythopoetischen Porträts eigener Provenienz ausgestaltet hat.
So könnte man sich auch erklären, warum im jüngsten Modell der Name nicht nur im Titel (wie im Zatopek-Roman), sondern auch im Text selbst getilgt worden & ein erfundener Name an seine Stelle getreten ist. Allerdings dürfte es dem Romanleser von „Blitze“ ziemlich gleichgültig sein, ob Echenoz empirisch bloß Teslas Leben nacherzählt oder dabei auch romanesk flunkert, wenn er seinen denkwürdigen Helden alles Mögliche erfinden oder mit von ihm auf einer öffentlichen Veranstaltung ins Leben gerufenen Blitzen seine Zeitgenossen (metaphorisch gesprochen) „elektrisieren“ lässt, indem er dabei selbst wie eine menschliche Glühbirne leuchtet. Gerade an diesem Tesla’schen Experiment, das schon seine Zeitgenossen nicht nur in Erstaunen, sondern wegen seiner Magie auch in Entzücken versetzte, offenbart sich einem, dass man selbst heute als Durchschnittseuropäer noch nicht mehr über die Elektrizität weiß – mit der man doch täglich umgeht & einträchtig lebt – als zu der Zeit, als sie & ihre Wirkungsweise im 19. Jahrhundert entdeckt & entwickelt wurde.
Voltairescher Roman eines Erfinders
Aber der literarische Reiz von „Blitze“ rührt nicht daher, dass uns ein Genie der Erfindung vor Augen gestellt wird, das in Grundzügen fast alle welt- & lebensverändernden technischen Entwicklungen erkundet & erfunden hat oder haben soll (bis hin zu einer Strahlenkanone, die einen an Hollywoods & Reagens „Starwars“ denken lässt), sondern das Vergnügen an „Blitze“ ergibt sich sowohl aus der Entfaltung von Gregors Charakter als auch durch die Art, wie Echenoz seinen Roman literarisch konstituiert.
Die „einzelkämpferische“ Arroganz, die er seinem genialen Gregor zuspricht, agiert er als Autor zu einem Teil selbst aus, wenn er sich über seinen narzisstischen Erfinder mokiert, der (wie ein Boxer) einen „Tiefschlag“ nach dem anderen einstecken muss, weil er weltfremd nie daran denkt, seine Erfindungen zum eigenen Wohl patentieren zu lassen. Aufgrund seiner Nachlässigkeiten beim Patentieren profitieren immer nur die anderen. Gregor interessiert einzig die Möglichkeit, zu forschen & zu experimentieren – was ihm auch mithilfe potenter Geldgeber gelingt, die sich vom Ergebnis seiner Arbeiten zu Recht Riesenprofite erhoffen.
Währenddessen träumt der Humanist Gregor davon, eine Energiequelle zu entdecken oder zu entwickeln, die allen Menschen kostenlos zugutekommen könnte: – eine Utopie, die er seinen finanziellen Förderern wohlweislich verschweigt. Ist dieser Gregor nicht auch so etwas wie Echenoz‘ „Galilei“, also die verkörperte gesellschaftliche Idiotie der Naturwissenschaft, gewissermaßen Brechts historische Reflexion nun als voltairescher Roman eines Erfinders fortgesponnen, der alle Erfinder in sich vereinigt?
Immerhin erfährt man hier auch, dass das von Alexander Kluge vielfach benutzte historische Filmdokument der „Hinrichtung“ eines Elefanten durch einen Stromstoß ursprünglich als abschreckendes Beispiel des Gleichstromverfechters & Filmpioniers Edison gegen das von Gregor entwickelte & von dem Unternehmer Westinghouse vertriebene erfolgreichere Wechselstrom-Unternehmen gedacht war. Auch die Geburt des Elektrischen Stuhls aus dem Geiste des amerikanischen Konkurrenzkapitalismus wird auf den unaufhaltsamen Siegeszug des Wechselstroms zurückgeführt – wenngleich auch hierbei wieder Edison, der damit abschrecken wollte, als Verlierer dasteht.
Obwohl der französische Autor angeblich seinem Gregor-Vorbild Nikola Tesla bis in entfernteste historische Quellen nachgeforscht hat, weiß man jedoch nie, was an seinem Gregor Fakt & was Fiktion ist. Allerdings offenbart schon die Inszenierung der von gigantischen Blitzen erhellten Geburt Gregors in einer serbischen Gewitternacht, dass Echenoz hier mit dem Topos einer teuflischen Existenz literarisch spielt. Dazu passt auch sehr gut, dass dieser mephistophelische Faust, wie mehrfach vom Autor betont, nie lacht und Gregor den Tick hat, alles, was er wahrnimmt, durchzuzählen & es für ihn „nichts Schöneres gibt als ein Vielfaches von drei“. Neben seinem stutzerhaften Auftreten in der Öffentlichkeit besitzt er eine panische Mikrobenangst, was dazu führt, dass er seine exquisiten Kleidungsstücke – wie z. B. Handschuhe – nicht nur massenhaft besitzt, sondern auch nach nur einmaligem Gebrauch auswechselt. Menschen lässt er ohnehin nicht nahe an sich heran – wenngleich er auf Frauen wie auf Männer faszinierend wirkt und sich die Ehefrau eines reichen Gönners in Gregor verliebt.
Verliebt in Tauben
Der Asket der naturwissenschaftlichen Weltdurchdringung hat aber nur eine Liebe, die ihm sein Autor buchstäblich verübelt: Er liebt die Tauben als Tiergattung & füttert, pflegt, hegt, verarztet dieses „feige, dumme, banale, abgeschmackte, willensschwache, schurkige, schmutzige, nutzlose Viech“ (Echenoz, der Erzähler).
Ja, am Ende seines kuriosen, einsamen Lebens – als ihm schon keiner mehr zuhört oder den völlig Verarmten noch ernst nimmt – verliebt er sich sogar in eine weibliche Taube, was Ethel Axelrod, die ihn heimlich Liebende, erst amüsiert, dann verärgert. Aber Gregors exzentrische Liebe erlischt – „so wie Madame de Beaumont, Marguerite Gautier, Germinie Lacerteux, Claudia, Fantine und Francine alias Mimi“ – & stirbt wie diese französische Kurtisanen an Tuberkulose.
Die Passage mit den vom Erzähler herangezogenen Namen zeigt sehr schön die humoristisch-ironische Metaphorik, mit der Echenoz im gottgleichen Blick auf seinen Gregor ebenso wie im mehrmaligen vertraulichen Gespräch mit dem Leser seinen ebenso anspielungsreichen wie minimalistischen Roman konstituiert.
Der merkwürdige, nie als sympathisch beschriebene Gregor wird erst im schrittweisen Abstieg vom Gipfel seines gesellschaftlichen Ansehens von seinem Erzähler ans Herz gedrückt & zu einer rührend-einsamen, absonderlichen Figur wie etwa Herman Melvilles „Bartleby“, der Schreiber, der sich weigert, zu schreiben.
Ganz zuletzt inszeniert Echenoz einen filmreifen Mordversuch – wie er überhaupt immer wieder filmische Szenen erfindet & erzählerisch gewissermaßen zwischen Totalen & Großaufnahmen wechselt & stilistisch den Leser mehrfach überrascht.
„Ich persönlich kann diese Tauben mittlerweile“, schreibt er auf der 140. von 143 Seiten, „nicht mehr ertragen. Sie auch nicht“, wendet er sich an den Leser, „ich weiß es wohl. Wir ertragen sie nicht mehr, und flatterhaft und undankbar, wie sie in Wahrheit sind, können auch die Tauben Gregor nicht mehr ertragen. Sie sind seiner müde und beurteilen ihn allzu sehr nach der schlechten Qualität seiner Versorgung, also haben sie beschlossen, ihn sich vom Hals zu schaffen.“
Derart rechtfertigt der Erzähler eine überraschende, filmreife Schlusspointe, die Gregors irdisches Ende herbeiführt (& hier nicht verraten sein soll). Der verletzte Gregor liegt in seinem bescheidenen Hotelzimmer. Eines Morgens verlangt er von der Zugehfrau, sie solle beim Gehen ein mit der Bitte „Nicht stören“ bedrucktes Stück Pappe an die Türklinke seines Zimmers hängen, in dem er mit seinen Tauben lebt. „Trotz des anschwellenden Gepiepses der hungrigen Vögel, die in ihren Käfigen rund um sein Bett in Panik geraten“, beendet Jean Echenoz auf seine typisch ironische, doppeldeutig-metaphorische Art den Roman, „wird man drei Tage warten, bevor man sich über diese Bitte hinwegsetzt.“ Ein diskretes Ende.
Wolfram Schütte
Jean Echenoz: Blitze (Des éclairs, 2010). Roman. Ins Deutsche übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin Verlag 2012. 143 Seiten. 18,99 Euro. Foto: Quelle.