Geschrieben am 22. Januar 2014 von für Bücher, Litmag

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Murakami_Die PilgerjahreDie Rückseite der Realität

– Der ewige Literaturnobelpreiskandidat Haruki Murakami erzählt in seinem neuen und in Japan derzeit alle Auflagen- und Verkaufsrekorde brechenden Roman auf bestechende Weise von Einsamkeit, Freundschaft, Schuld und Zweifel. Von Karsten Herrmann.

Murakami entführt den Leser in seiner neuen Erzählung zwar nicht wie gewohnt in fantastische Parallelwelten, spielt aber dennoch meisterhaft mit den oszillierenden Grenzen der Realität und Wahrnehmung.

Mit 36 Jahren bricht sein Protagonist Tsukuru Tazaki, der alleine in der Großstadt Tokio lebt und Bahnhöfe baut, zu einer Reise in seine Vergangenheit auf. Denn dort schlummert wie eine tiefe schwärende Wunde eine traumatische Erinnerung an das für ihn völlig unbegründete Ende einer verschworenen Jugendgemeinschaft: „Seine vier engsten Freunde hatten ihm eröffnet, dass sie ihn niemals wiedersehen oder mit ihm sprechen wollten. So unvermittelt wie erbarmungslos.“

Tsukuru, der nach der Schule in Tokio ein Studium aufgenommen hatte, während seine Freunde in der Heimatstadt Nagoya verblieben, ist so geschockt, dass er das Ende der Freundschaft fatalistisch hinnimmt und mehr als ein halbes Jahr an der Schwelle des Todes lebt. Erst als er Jahre später Sara kennen lernt, beschließt er, der Sache endlich auf den Grund zu gehen, um die Wunde zu schließen und wieder vorbehaltlos Freundschaft und Nähe zulassen zu können.

Haruki Murakami, der gerade seinen 65. Geburtstag feierte, hat mit Tzukuru Tazaki einen sympathischen Antihelden geschaffen, der still, einsam, bescheiden und voller Selbstzweifel ist. Schon zu Anfang der Freundschaft fühlte er sich so ein wenig ausgeschlossen, allein weil in seinem Nachnamen als einzigem keine Farbe enthalten war. Während seine Freunde alle hervorstechende Eigenschaften oder Talente hatten, nahm er sich selbst in allem als mittelmäßig und farblos wahr. Als Tzukuru sechzehn Jahre später endlich den dramatischen und völlig haltlosen Grund für seinen damaligen Ausschluss erfährt, sucht er dennoch die Schuld bei sich und bekommt Zweifel: „Jenseits meiner Fassade lauert womöglich eine andere, verborgene Seite, die im Dunkeln liegt wie die Rückseite des Mondes.“

Sublim verschiebt Haruki Murakami in seinem Roman die Grenzen des Wirklichen und evoziert das Magische. In einem ZEIT-Interview bekannte er in diesem Sinne auch kürzlich: „Ich … glaube daran, dass es nicht nur eine Realität gibt. Die Wirklichkeit und eine andere, irreale Welt bestehen zugleich, sei hängen ganz eng miteinander zusammen.“

Haruki Murakamis große Kunst ist es, in seiner dem ruhigen „Trommelschlag des Alltäglichen“ folgenden und mit wunderbaren Metaphern aufgeladenen Prosa ganz unmerklich Pforten aus unserer entzauberten Welt hinaus zu öffnen und eine spirituelle Kraft zu entfalten.

In seinem ebenso melancholischen wie kristallklaren Dahinströmen korrespondieren „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ dabei kongenial mit den in diesem Roman eine besondere Rolle spielenden „Les années de pélerinage“ von Franz Liszt.

Karsten Herrmann

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag 2014., 315 Seiten. 22,99 Euro, 18,99 eBook.

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