Ab in die Cloud!
Harry Harrison, Jack Vance, Gisbert Haefs u. a. haben welche erfunden – intergalaktische Diebe. Und jetzt Hannu Rajaniemi und sein Jean le Flambeur – Elly Bösl stellt uns zwei Bände vor und ist skeptisch …
„Quantum“
Jean le Flambeur, Meisterdieb, fristet ein trostloses Dasein im Dilemma-Gefängnis: Jeden Tag, jede Stunde ist er gezwungen, sich selbst mit einem Revolver zu erschießen. Im Auftrag einer Göttin befreit die oortische Kriegerin Mieli den Dieb, denn er soll etwas stehlen. Jean hat allerdings keine Erinnerung an sein früheres Leben, sein Wissen beschränkt sich auf seinen Namen und seinen Beruf. Zusammen mit der Kriegerin, ihrem intelligenten Raumschiff Perhonen und der allgegenwärtigen Göttin reist der Meisterdieb auf den Mars in die Oubliette, eine wandernde Stadt, in der sich alles um Privatsphäre und das Wahren derselben geht. Ausgerechnet hier hat er die Hinweise und Antworten auf die Frage nach seiner Identität, seiner Geschichte und seinen Geheimnissen versteckt. Doch in der Oubliette ist nichts, wie es scheint, und die Spuren, die Jean sich selbst vor Jahren gelegt hat, alles andere als einfach zu enträtseln. Zudem heftet sich Isidore Beautrelet, der Detektiv, an seine Fersen, gewillt, um jeden Preis herauszufinden, was der Dieb vorhat.
„Quantum“ ist irgendwie spannend. Und irgendwie verwirrend. Permanent wird man mit schrägen Begriffen beschossen, und immer, wenn man denkt, sich jetzt endlich zurecht zu finden, wird die Weltsicht wieder auf den Kopf gestellt. Ja, sicher, man muss Begriffe wie Sobornost, Piraten-Gogol und Gevulot nicht verstehen, sondern einfach hinnehmen. Was bei Dietmar Dath so wunderbar funktioniert, geht bei „Quantum“ allerdings nicht ganz so leicht von der Hand. Ein, zwei Erklärungen, weniger zur Technik als eher zu den einzelnen Gruppierungen, wären durchaus wünschenswert gewesen. Dieser „show, don’t tell“-Schreibstil funktioniert bestimmt für einige Leser, ich bin da möglicherweise etwas zu konservativ eingestellt. So bin ich ebenso verwirrt und orientierungslos, wie es ein Dieb ohne Gedächtnis eigentlich sein müsste – doch weit gefehlt, le Flambeur findet sich schnell in der Oubliette zurecht. Stilmittel ist’s also definitiv nicht.
Atomaschenbecher
Gut, zugegeben, man kommt schon rein ins Geschehen und nach und nach dahinter, wie die Welt der Zukunft nach Rajaniemi funktioniert. Immer wieder muss ich schmunzeln ob des präfigierten Nomens „Quanten-“, das streckenweise inflationär verwendet wird und mich an Isaac Asimovs Atomlocher und -aschenbecher denken lässt. Ist man einmal drin, gelingt es auch, einzelne Stücke zu entschlüsseln: Sobornost, das ist eine russisch-orthodoxe Idee, nach der die Interessen von Einzelpersonen und einer größeren Gemeinschaft identisch sind, alles im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Aufgabe. So weit, so deckungsgleich. Bei Rajaniemi sind die Sobornost-Mitglieder wie Götter, die sich unendlich oft kopieren können und deswegen überall zugleich sind, unendlich Macht dadurch gewinnen, indem sogenannte Gogols erzeugen, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Beispielsweise etwas stehlen können. Sobornost kann auch Menschen „upgraden“, wie man an Mieli und le Flambeur sieht: Er bekommt einen mehr oder weniger beliebig formbaren Körper, sie ist eine tödliche Kampfmaschine, komplett mit eingebautem Regler für Gefühle und einem Fusionsreaktor im Oberschenkel. Nett, aber mehr auch nicht.
Die Oubliette
Die Oubliette und das dazugehörige Gesellschaftssystem ebenso wie das Gevulot hingegen versteht man im Laufe des Romans ziemlich gut, es sind eher die größeren Zusammenhänge, die dem Leser erst einmal verschlossen bleiben. Gevulot ist eine Art Datenwolke, die die Privatsphäre des Menschen penibel wahrt. Zu viel von sich preiszugeben ist nicht schicklich, niemand kann sehen, wer sich hinter dem Gevulot verbirgt. Alles, was einen Menschen ausmacht, Aussehen, Erinnerungen etc. sind im Gevulot enthalten, das eine Art Exo-Gedächtnis darstellt. Nach einer bestimmten Lebenszeit muss jeder Bürger der Oubliette ins Schweigen, er/sie bekommt einen neuen Körper und muss bestimmte Arbeiten verrichten. Und wiederum nach einer bestimmten Zeit im Schweigen darf man wieder in die Stadt zurück, seine Persönlichkeit aus dem Exo-Speicher, der Cloud, herunterladen, und weiter geht’s im Leben. An sich eine schicke Idee, nicht neu, aber gut. Dass bei einem solchen System der Manipulation Tür und Tor geöffnet sind, macht das Ganze noch interessanter. Dieses Potenzial wird von le Flambeur auch ausgereizt, unterstützt durch allerlei ominöses Sobornost-Zeug.
Spannend bleibt die Handlung vor allem dadurch, dass man nie so genau weiß, wer gerade eigentlich wer ist. Permanent wird mit Identität gespielt, ständig deckt irgendwer irgendwas auf, ohne es dem Leser zu verraten, der am Ende selbst hinter das Geheimnis kommen muss. Diverse Doppelidentitäten des Protagonisten machen die Sache nicht leichter, aber spannend – hier ist wirklich Mitdenken gefragt.
Ich hatte eigentlich aufgrund der Charakternamen gehofft, auf ein wenig mehr klassische Arsène-Lupin-Geschichten zu stoßen, das wird von „Quantum“ allerdings enttäuscht. Daher fehlt es diesem bunten Knallbonbon aus Technik-Geblabbel, Ego-Klau und schräger Gesellschaft auch ein bisschen an Blut. Vieles bleibt unverständlich, auch bei weiterer Recherche erschließt sich „Quantum“ nicht hundertprozentig. Aber irgendwas bleibt haften (sicherlich nicht der sehr gewollt erscheinende Cliffhanger am Ende), das den Leser nach „Fraktal“ greifen lässt …
Hannu Rajaniemi: Quantum (The Quantum Thief, 2010). Roman. Deutsch von Irene Holicki. München: Piper Verlag 2012. 423 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Ein Märchen aus virenverseuchten Nächten
„Fraktal“ setzt ansatzlos da ein, wo „Quantum“ aufgehört hat: Der Dieb sitzt mit seiner Beute im Raumschiff und versucht, etwas damit anzufangen. Die Pellegrini, eine gottgleiche Figur, hat einen Auftrag für ihn: Er soll ein Artefakt stehlen, das Unsterblichkeit verspricht. Das wird jedoch von der kopierten Persönlichkeit eines weiteren gottähnlichen Wesens beschützt. Wie Jean Le Flambeur an der Kopie vorbeikommt, weiß er schon. Aber um seinen Plan in die Tat umsetzen zu können, muss er auf die Erde. Die Erde ist eine von Chaoscode versuchte Wüste, die größte Stadt dort Sirr, ein arabisches Feuerwerk mit Quanten-Dschinnis, Wüstenräubern und natürlich einer Prinzessin, Tawaddudd. Sie ist die Tochter eines mächtigen Geschäftsmannes und soll einen Mord aufklären, scheinbar in einem parallel verlaufenden Handlungsstrang. Wie auch schon für „Quantum“ gilt auch für „Fraktal“: Nichts ist, wie es scheint …
Charmant
„Fraktal“ hat Charme, so viel ist sicher. Gut, man hat immer noch keine Ahnung, wer das Sagen hat und schwimmt nach wie vor etwas im Quantenschaummeer, aber gerade die Handlung um Tawaddudd macht vieles wieder wett, was im ersten Teil nicht so optimal gelaufen ist. Die von der Familie verstoßene Prinzessin, komplett mit dunkler Vergangenheit und intriganter Schwester, bringt ihren eigenen Kopf mit, im Gegensatz zur Kriegerin Mieli, die sich komplett an die Gründergöttin verkaufen musste. Ja, sie ist charmant, die „Dschinn-Hure“, ebenso wie das Leben in Sirr, beständig bedroht von einer Wüste, in der sich einerseits Schätze und Reichtümer verbergen, andererseits auch wild gewordener Code, der die Menschen befällt, sie entstellt oder sogar tötet. Anspielungen auf die Mythen um Ghule aus persischen Legenden, das Bild von schweigsamen Beduinen, die sich in die gefährliche Wüste wagen, um mit Reichtümern wiederzukehren, Bazare, buntes, orientalisches Treiben mit cyberpunkigen Ansätzen – so was zieht bei mir einfach. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur froh, nach der Oubliette wieder an einem Ort zu sein, an dem ich mich zumindest halbwegs auskenne.
Blöderweise reicht das romantisch-arabische Setting nicht aus, um mich über die volle Distanz von gut 400 Seiten mitzuziehen. Die Figuren wachsen einem zum größten Teil nicht ans Herz, und so stellte ich irgendwann beim Lesen fest, dass es mich schlichtweg nicht mehr interessierte, wie der Dieb am Gott vorbeikommt, wer der Mörder ist und ob die Prinzessin am Ende glücklich wird.
Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen verkopfte SF hätte – im Gegenteil, Dietmar Daths „Pulsarnacht“ etwa, die ja auch vielerorts als „unlesbar“ kritisiert wurde, habe ich förmlich gefressen. Der Unterschied ist einfach der, dass Dath es schafft, dass man dabei bleibt, auch wenn man beim Einstieg Probleme hat ob der neuen Begriffe. Aber schon nach wenigen Zeilen ist klar, dass ein „Tlalok“ eine Art Chip im Hirn ist, der seinem Träger diverse Extras verschafft. Und genau das gelingt bei Rajaniemi einfach nicht: Irgendwann entwickelt man seine Theorie, womit man es denn nun zu tun haben könnte, aber es bleibt immer nur eine vage Theorie. „Show, don’t tell“ kann eine interessante Art sein, eine Geschichte zu erzählen, aber in meinem Fall wird es hier nur bedingt in Lesevergnügen umgewandelt.
Schön gemacht sind die ineinander verschachtelten und verschlungenen Erzählstränge – handwerkliches Können bewundere ich immer, und in dieser Hinsicht haben Autor und Lektorat ganze Arbeit geleistet. Wie immer bei solchen Texten bleibt für mich die Frage, ob ich einfach zu doof bin, da mitzukommen, oder ob der Text einfach nicht so gut ist? Immerhin erhielt Rajaniemi für den ersten Teil 2011 den Locus Award als bester Newcomer …
Dass „Quantum“ und „Fraktal“ bei mir nicht zünden, liegt also keineswegs an der komplexen Erzählweise, sondern einfach daran, dass ich streckenweise keine Ahnung hatte, worum es überhaupt geht, wer gerade was mit wem aushandelt und wie ich mir das alles vorstellen soll. Ich fühlte mich eher hilflos in ein Quanten-Tech-VR-Universum geworfen, in dem ich partout nicht zurechtkomme. Und ich bin alles andere als sicher, ob ich mir Teil drei dieser Reihe wirklich bestellen werde.
Hannu Rajaniemi: Fraktal (The Fractal Prince, 2012). Roman. Deutsch von Irene Holicki. München: Piper Verlag 2013. 396 Seiten. 16,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Elly Bösl